Die letzten Jünger

Eine schöne Weihnachtszeit und einen glücklichen Jahreswechsel wünsche ich allen Besuchern dieses Blogs!

Wer sich gefragt hat, was ich eigentlich die letzte Zeit gemacht habe, findet hier die Früchte einer wochenlangen Recherche in der Türkei, in Palästina und Ägypten.

Eine frohe Botschaft konnte ich allerdings nicht mitbringen. Den Christen geht es nicht gut in den Umbrüchen dieser Tage.

Gläubige werden verfolgt, Kirchen zerstört: Ist im Nahen Osten nach den arabischen Revolutionen noch Platz für die christliche Minderheit? Eine Reise zu Gläubigen in Ägypten, der Türkei und Palästina.


In der Einsamkeit: Mönch vor dem Aufgang zum Kloster Mor Augin in der TürkeiIn der Einsamkeit: Mönch vor dem Aufgang zum Kloster Mor Augin in der Türkei © Jörg Lau für die ZEIT

Nur ein paar Sekunden, und Fady wäre zum Märtyrer geworden. Hätte er in der Neujahrsnacht bloß ein paar Sekunden früher die Messe verlassen, wäre er heute eines jener 22 Bombenopfer, die von monumentalen Plakaten an der Markuskirche und der Petrikirche auf die Lebenden herunterlächeln. Mithilfe digitaler Bildbearbeitung hat man sie in weiße Kleider gehüllt und ihnen goldene Kronen aufgesetzt.

Die Bombe explodierte damals direkt vor der Kirche. Die Umgekommenen sind heute Heilige für die koptischen Christen Ägyptens. Ihre Überreste – Knochensplitter, Haare, blutbefleckte Kleidungsfetzen – werden in einer Kirche in der Nähe des Strandes von Alexandria ausgestellt. Pilger berühren die Reliquienschreine und beten. Sie kritzeln Wünsche auf kleine Zettel und stecken sie hinein. Fady tut das auch. Er ist 20 Jahre, trägt Jeans, ein schrilles T-Shirt. Ein ganz normaler Student der Betriebswirtschaft. Doch er kann sich nicht mehr richtig bewegen. Vor einem Jahr ist er mit dem Leben davongekommen, aber die Detonation zertrümmerte sein linkes Bein und verbrannte ihm die Hände.

Fady M., der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung gedruckt haben möchte, ist ein verfolgter Christ. Dem aufgeklärten Kirchgänger des Westens dürfte schon der Begriff Christenverfolgung unangenehm sein. Aber es gibt tatsächlich wieder Christen, die ihres Glaubens wegen ihr Leben lassen. In Europa wird das Christentum selbstkritisch mit Macht, Reichtum, Imperialismus und Kolonialismus assoziiert. Doch im Nahen Osten, an den ältesten Stätten ihrer Religion, den historischen Orten der Urgemeinde, sind Christen heute unter Druck, verletzlich, schwach – und in Gefahr. Am Schicksal der christlichen Minderheiten in Ägypten, im Irak, in Syrien und anderswo wird sich zeigen, wie human und tolerant die demokratiehungrigen islamischen Gesellschaften sind.

In Kairo wurden vor einem Jahr koptische Demonstranten von Sicherheitskräften niedergewalzt. Sie hatten vor dem Gebäude des ägyptischen Fernsehens gegen die Drangsalierung einer Gemeinde im Süden des Landes protestiert. 28 Menschen starben, Hunderte wurden schwer verletzt. Täglich werden seither Christen entführt und Kirchen angegriffen. Das Neueste ist, dass koptische Intellektuelle wegen »Blasphemie« eingesperrt werden, wenn sie den Islam kritisieren.

Die Christen gehören zu den Verlieren der arabischen Revolutionen. Wer sie besucht, findet Menschen im Ausnahmezustand vor – schwankend zwischen Panik und trotzigem Gottvertrauen, hin- und hergerissen zwischen Angriffslust und Fluchtplänen.

Dass einer wie Fady seines Lebens nicht sicher sein kann, verdunkelt das Bild vom arabischen Völkerfrühling. Fady gehört selber zur Generation der Tahrir-Revolutionäre: Er ist auf Facebook aktiv, besitzt ein Smartphone und twittert. Seine Lebensträume unterscheiden sich in nichts von denen anderer 20-Jähriger. Aber für ihn werden sie sich in Ägypten nicht erfüllen. Er ist auf dem Absprung, wie viele andere junge Christen.

Heute ist er zur Kirche gekommen, um Anba Damian zu treffen, den Bischof der Kopten in Deutschland. Der hat Fady gleich nach dem Anschlag in eine Münchner Klinik fliegen lassen. Die Ärzte konnten das Bein retten, aber es ist jetzt steif und zu kurz. Fady muss humpeln. Er will noch einmal nach München, »damit sie es richtig machen«. Der Bischof hört Fady an. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er noch einmal hilft. Es sind zu viele, die auf den Geistlichen aus Deutschland hoffen. Der Mittfünfziger mit der Kappe mit den zwölf aufgestickten Kreuzen wird förmlich umdrängt von Überlebenden des Anschlags. Alle strecken ihm ihre Krankenakten entgegen. Alle wollen nach Deutschland. Zur medizinischen Behandlung, und am liebsten für immer…

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Ein koptischer Bischof will Ägypten verändern

Die letzte Woche habe ich in Ägypten verbracht, in Begleitung des Koptisch-Orthodoxen Bischofs Anba Damian, der für die ägyptischen Christen in Deutschland zuständig ist. Bischof Damian war wegen der Papstwahl in seinem Heimatland, ich konnte die Synode am letzten Montag aus nächster Nähe erleben. Die Reise war Teil einer Langzeitrecherche über Christen im Nahen Osten. Ein Dossier zum Thema soll Ende November in der ZEIT erscheinen. Von meinen Eindrücken kann ich darum hier vieles leider nicht vorab teilen. 

Eine Begegnung aber, die durch Bischof Damian möglich wurde, hat mich sehr bewegt, und über sie will ich einiges mitteilen. Wir trafen Bischof Thomas, einen Freund von Anba Damian, in seinem Projekt namens „Anafora“ 120 Kilometer nördlich von Kairo. Dort hat er mir seine Geschichte erzählt und seinen Eindruck von der Lage der Kopten geschildert. Anders als viele eher vorsichtige und diplomatische Kirchenmänner ist Bischof Thomas ein Freund deutlicher Worte. 

Der Bischof sagt, Ägypten brauche „weniger Religion“. „Die Religion erstickt uns in diesem Land.“ Das ist nicht die einzige erstaunliche Aussage dieses freien Kopfes.

Bischof Thomas wurde 1957 in Kairo geboren, in einer der reichen koptischen Familien. Seine Großmutter war berühmt für ihre Mildtätigkeit. Im Haus der Familie richtete sie eine Suppenküche für die Armen ein. Jeden Tag wurden die Armen an einem besonderen Hintereingang gespeist. Als Thomas 9 Jahre alt war, kam er in Konflikt mit der Großmutter. Er wollte die Armen ins Haus lassen, um sie dort zu speisen. Als die Großmutter insistierte, dass sie nur in der Suppenküche essen durften, begann der Junge, demonstrativ und aus Protest mit den Armen zu essen. Dort traf er einen Mann, der über der traditionellen Jallabia ein teures, aber schmutziges Jackett trug. Er roch schlecht und war sehr schüchtern, er hatte einen weißen Bart. Der Junge kam mit dem Mann, der Gawardy hieß, ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass Gawardy ein sehr belesener Mann war. Er trug immer ein Buch unter seinem Jackett mit sich herum. „Du mußt mehr lernen“, sagt er dem Jungen. Der Junge drängte seine Familie, den weisen Mann zu treffen. Doch die Großmutter insistierte: „Wir geben ihm, was er braucht, aber er kommt mir nicht ins Haus.“ Gawardy führte den jungen Thomas zu den Antiquaren in der Nähe der Kairoer Oper und zeigte ihm die Welt der Bücher. Von seinem Taschengeld konnte er sich hier eine ganze Bibliothek zusammenkaufen. „Gawardy, dieser stinkende arme Schlucker, hat mir ein ganzes Universum erschlossen.“

Anba Thomas, Bischof der Koptischen Kirche in Oberägypten    Foto: J.Lau


Eines Tages kam Gawardy nicht mehr zur Armenspeisung. Eine Woche suchte der Junge nach ihm, zunehmend verzweifelt, bis er in einer Kirchengemeinde einen Priester fand, der sich einen Mann in Jellabia und Jackett erinnerte: „Er ist tot, wir haben ihn vor zwei Tagen beerdigt. Keiner hat nach ihm gefragt. Er hatte wohl niemanden.“
Bis heute, sagt Bischof Thomas, der damals 11 war, „suche ich nach Gawardy.“ Mit seiner Großmutter hat er sich eines Tages versöhnt, „nicht aber mit der ungerechten ägytpischen Gesellschaft“. Er ist Bischof geworden, um – bildlich gesprochen – die Gawardys ins Haus zu bringen.
Er hat als Bischof ein eigenes Haus geschaffen, um dies zu tun. Es heißt „Anafora“ und liegt 120 Kilometer nördlich von Kairo auf dem Weg nach Alexandria. Eigentlich ist es eine Farm, ein Konferenzzentrum, ein Hotel und ein Kloster zugleich.
Er wollte ursprünglich nicht in der Öffentlichkeit wirken. Das Mönchsleben  war seine Sehnsucht, als er in die Kirche eintrat. Der Papst aber schickte ihn als jungen Priester zur Mission nach Kenia. Immer wieder schickte er Bittbriefe an das Patriarchat, er wolle in sein Kloster zurückkehren. Dann, 1988, kam die Order, sofort nach Kairo zurückzukehren. Statt der erhofften Rückkehr ins Kloster eröffnete der Papst ihm seine Absicht, ihn zum Bischof zu weihen.

Für den erst 31jährigen Thomas war das ein Schock, denn der weg zurück ins Mönchsleben war damit verschlossen. Er wurde nach Oberägypten geschickt, wo die meisten Kopten als arme, ungebildete und unterdrückte Landbevölkerung leben: „Als Bischof wollte ich die stützende Hand sein, die die Menschen aufrichtet, nicht die hand, die von oben herab herrscht.“ In Oberägypten habe er schnell gelernt, dass die Menschen nicht nur Nahrung und Kleidung brauchen, sondern vor allem Bildung. Er begann mit der Gründung von Schulen und Kindergärten.

Nach einer Weile wurde ihm deutlich, dass man den Menschen eine Chance geben musste, aus ihrem Umfeld zu entkommen, damit sie sie sich nachhaltig verändern konnten. So kaufte er mit Spendengeldern das Land – ein Stück Wüste an der Autobahn nach Alexandria-, wo dann nach und nach „Anafora“ entstand. In Oliven- und Palmenhainen, Mango- und Kartoffelfeldern lernen die Schüler aus Oberägypten moderne landwirtschaftliche Methoden. In der Küche und im Gastbereich können sie Fähigkeiten für den Broterwerb jenseits der Landwirtschaft erlernen. Ebenso wichtig wie diese Fähigkeiten ist aber die Erfahrung einer würdigen Behandlung. Die „Gawardys“ treffen hier auf reiche Leute, die nach Anafora kommen um sich zu erholen.

Bischof Thomas in seinem Zentrum „Anafora“      Foto: J. Lau

 

Der Bischof lehrt sie, zu den Reichen nicht aufzuschauen, sondern sich als gleichwertige Menschen zu benehmen. „Wir lehren übrigens auch die Frauen hier, dass sie den Männern gleichgestellt sind.“ Wenn sie mit dieser Einstellung zurück auf die Dörfer gehen, wo sie weder ihren Vätern noch ihren Brüdern widersprechen dürfen, finden sie dort Mentoren vor, die ihnen helfen, sich nicht wieder einschüchtern zu lassen.

Die ägyptische Gesellschaft, sagt der Bischof, brauche drei Transformationen: von der Hierarchie zur Gemeinschaft, von der Geschlechterunterdrückung zur Gleichheit, von der religiösen Rigidität zur offenen Spiritualität. „Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn ich das als Bischof sage, aber ich wünsche mir weniger öffentliche Religion in unserem Land. Alles wird hier zur religiösen Angelegenheit, selbst die Luft die wir atmen und das Wasser das wir trinken. Auch das Geld ist zur religiösen Sache geworden. Die Religion legt sich über alles, so dass das Land darunter erstickt. Ich bin ein Bischof, aber ich lehne es ab, alles in religöse Schubalden einzusortieren.“
Bischof Thomas war anfangs begeistert von der Revolution. Er hat das Regime Mubaraks immer verachtet und auch offen kritisiert. Er hatte die Hoffnung, dass Ägypten sich mit der Revolte der jungen Leute wieder zur Welt öffnet, dass „Ägypten wieder kosmopolitisch wird, wie es Alexandria zu seinen besten Zeiten einmal war. Und das ist auch immer noch möglich.“ Die Menschen, sagt er, haben einen Moment der Freheit erlebt, ihre Stimme zählte plötzlich, die Verjagung Mubaraks war ein Augenblick der Würde. Die an der Revolte beteiligten Christen kamen den liberalen Muslimen sehr nah während dieser Zeit.

Um so größer war der Schock darüber, dass die konservativen islamistischen Gruppen wie die Muslimbrüder und die Salafisten die Macht übernehmen konnten. Nun macht die Angst die Runde, dass die immer schon vorhandene versteckte Diskriminierung zu einer offenen Unterdrückung wird. Angst ist schlecht für die Demokratie, meint der Bischof, weil „die Hälfte der Demokratie daraus besteht, aus freien Stücken nein sagen zu können.“

Zweifellos werde das Land nun weiter islamisiert werden, und die Kopten gerieten dadurch in eine generelle Atmosphäre des Drucks. Für die Opfer der Anschläge von Nag Hammadi, Alexandria und Maspero hat es bis heute keine Anerkennung und keine Gerehtigkeit gegeben. Das nährt vor allem bei gut ausgebildeten und vernetzten Eliten das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und den Wunsch nach Auswanderung. „Unsere Elite verläßt das Land, wie sehr ich auch dagegen rede und dage, sie sollen hier bleiben und kämpfen.“ Die Revoluion war ein Vorgeschmack der Freiheit, aber die Demokratie muss noch errungen werden. „Demokratie ist nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit. Eine Mehrheit, die der Minderheit keinen Raum lässt, sich frei zu entfalten, ist nicht demokratisch. Demokratie funktioniert nur, wenn jeder Mensch die Verantwortung akzeptiert, den anderen diesen Raum offen zu halten, den sie brauchen.“
Die Zukunft der Kopten sieht der Bischof nicht in Minderheitenrechten: „Wir müssen für allgemeine Rechte kämpfen. Ich bin zuerst Mensch und dann Kopte. Eine Minderheit kann nicht ohne die Mehrheit überleben. Manchem liberalen Moslem fühle ich mich näher als einem verbohrten Christen. Wir müssen mit den liberalen Gruppen zusammenarbeiten, um für einen säkularen Staat zu kämpfen, der Religionsfreiheit für alle garantiert – und das heißt auch Freiheit von der Religion für diejenigen, die nichts damit zu tun haben wollen. Es ist mir ein Ärgernis, dass in meinem ägyptischen Pass steht, dass ich Christ bin. Das hat dort nichts zu suchen. Wir wollen keinen religiösen Staat, nicht einmal einen christlichen. Alle religiösen Staaten der Geschichte sind gescheitert. Wenn es in die andere Richtung geht, und die Scharia mehr Einfluss auf die Gesetze bekommt, wird das zu noch mehr Segregation und weniger Gemeinsamkeit in Ägypten führen. Die fortschreitende Islamisierung und Arabisierung unserer Gesellschaft ist gefährlich. Ägypten muss eine säkulare Gesellschaft werden, weil das allen Bürgern erlaubt, zu wachsen und sich zu entwickeln, wenn sie wollen, auch spirituell.“
Im Jahr 2009 hatte der Bischof diese Vorstellungen in einem Vortrag in den USA bereits geäußert. Danach erschienen Dutzende Artikel, in denen er zum Verräter erklärt wurde. Man drohte ihm seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, und er erhielt auch Todesdrohungen. Er ist aber immer noch da und nimmt kein Wort zurück. Er glaubt, dass für Ägyptens Christen harte Zeiten kommen, weil die Islamisten nun am Drücker sind. Aber den Moment der Freiheit und das Erlebnis der Würde kann man den Leuten nicht mehr nehmen: „Ich warte auf die zweite Phase der Revolution, in der die Menschen wirklich Besitz von ihrem eigenen Land ergreifen.“

 

 

Blasphemiegesetze sind keine gute Idee – auch wenn sie Minderheiten schützen

Jetzt wird’s kompliziert. Einerseits freue ich mich, dass in Ägypten etwas gegen die Hassprediger unternommen wird, die das Christentum verhöhnen. Andererseits halte ich die rechtlichen Schritte, die gegen sie eingeleitet wurden, für freiheitsgefährdend.

Bei meinen Gesprächen mit Kopten  und aramäischen Christen in den letzten Wochen wurde immer  wieder erwähnt, dass ein radikaler Prediger in Kairo die Bibel zerrissen und damit gedroht hatte, darauf zu urinieren. Der koptische Bischof Deutschlands, Anba Damian, äußerte sich entsetzt über diesen offenen Akt des Hasses, und auch im syrisch-orthodoxen Kloster Mor Gabriel stieß ich auf Empörung.

In der westlichen Öffentlichkeit hingegen wurde dieses Detail der blutigen Proteste mit Schulterzucken quittiert. Was bedeuten kann: Na ja, so sind sie eben. Was willst du machen? Oder: Das trifft uns nicht, so macht sich dieser Typ doch nur selber zum Schmock. Während Kopten und Aramäer sich durch die symbolische Schändung der Bibel verletzt fühlen, winken wir im Westen ab. Uns von einem solchen Idioten beleidigen zu lassen, würde bedeuten, sich auf seine Ebene zu begeben, denken wir. Sticks and stones may break my bones, but words or names will never hurt me.

Nun hat die ägyptische Generalstaatsanwaltschaft angekündigt, drei Männer wegen Beleidigung des Christentums vor Gericht zu stellen:

Ahmed Mohammed Abdullah soll zusammen mit seinem Sohn während der Proteste gegen den islamfeindlichenUS-Film Die Unschuld der Muslimevor der US-Botschaft eine Bibel zerrissen und dann verbrannt haben. Dabei wurde er gefilmt. In dem im Internet veröffentlichten Video soll Abdullah, der auch unter dem Namen Abu Islam bekannt ist, gedroht haben, auf das Buch zu pinkeln, sollten die Beleidigungen gegen den Islam weitergehen.

In einem Interview mit dem Journalisten Hani Jassin Gadallah soll er sich in der Zeitung Al-Tahrir abfällig über das Christentum geäußert haben. Der Reporter muss sich deshalb ebenfalls vor Gericht verantworten.

Bis zu fünf Jahre Haft für Blasphemie

Dass Abdullah und den beiden anderen Männern nun nach den ägyptischen Blasphemiegesetzen der Prozess gemacht werden soll, werten Beobachter als überraschend. In der Vergangenheit haben diese Gesetze häufig nur dann Anwendung gefunden, wenn es sich um mutmaßliche Verunglimpfungen des Islams handelte. Menschenrechtsgruppen haben die Gesetze wiederholt als Einschränkung der Freiheitsrechte kritisiert. Auf Blasphemie stehen in Ägypten bis zu fünf Jahre Haft.

Als Geste gegenüber der extrem verunsicherten christlichen Minderheit ist es zu begrüßen, dass auch ihr Glaube unter Schutz gestellt wird – und das besonders von einer Regierung, die islamistisch geprägt ist. Letzteres führt zu großer Sorge unter den Kopten, dass sich ihre Marginalisierung noch verstärken wird. Wer weiß, vielleicht kommt es ja nicht so. Offenbar wollen die Behörden in Ägypten verhindern, dass ein Kulturkampfklima im Land greift, dass nur den extremsten Kräften unter den Islamisten nützen würde. Mursi zieht zur Zeit einige rote Linien ein. Auch die Verurteilung der extremistischen Attentäter vor einigen Tagen liegt auf dieser Linie: Die Muslimbrüder machen den radikalen Kräften deutlich, wer regiert.

Aber: Blasphemiegesetze verstellen den Weg zu einer offenen, (religiös) pluralistischen Gesellschaft. Sie sind die autoritäre Lösung des Konflikts um konkurrierende Weltdeutungen und religiöse Geltungsansprüche. Sie können immer auch benutzt werden, um notwendige Kritik zu unterdrücken (auch wenn das hier nicht der Fall ist). Der Blogger Karim Amer, für den ich hier lange Kampagne gemacht habe, war wegen der ägyptischen Blasphemiegesetze vier Jahre in Haft. Dabei hatte er nur die schändliche Komplizenschaft der Religion bei Massakern an Kopten angeprangert (ohne selbst Kopte zu sein, es war ein Aufstand des Gewissens).

Nun wird das Gesetz angewendet, um die Kopten zu beschützen. Kirchenführer  werden sich wahrscheinlich darüber erleichtert zeigen. Das wäre kurzsichtig. Am Ende muss es darum gehen, Hassprediger wie Abu Islam gesellschaftlich zu isolieren und zu marginalisieren. Ein Journalist, der hassvolle Äußerungen über Christen zitiert (ganz egal ob zustimmend oder mit welcher finsteren Absicht), darf nicht allein deshalb strafverfolgt werden: Was heißt das für eine freie öffentliche Debatte? Blasphemie ist  schwer zu definieren: Wer bestimmt, was „verletzend“ ist? Milliarden Christen im Westen haben sich nicht verletzt gefühlt vom Handeln des Vollidioten Abu Islam. Ebenso wie Milliarden Muslime den Pastor Terry Jones für einen Vollpfosten halten, der ihrer Erregung nicht würdig ist.

Der Staat soll den Aufruf zur Gewalt ahnden. Nicht aber die symbolische Gewalt. Leute wie Abu Islam gehören geächtet und verachtet. Nicht in Haft – jedenfalls nicht dafür.

 

 

Wer steckt hinter „Sam Bacile“?

Die bisherigen Ermittlungen der amerikanischen Kollegen haben meine Skepsis bestätigt, was die Identität des Sam Bacile angeht. Eine israelische Quelle, die unter der Bedingung von Anonymität zur Sache sprach, kommentierte heute morgen mir gegenüber die Figur Bacile mit dem Wort „Bullshit“. Es handele sich nicht um einen Israeli, sondern um ein Netzwerk „rechtsradikaler Christen“.

Der Versuch dieser Gruppe, über angebliche „jüdische Spender“ und die vermeintliche israelische Identität von „Sam Bacile“ Israel und die Juden in die Sache hineinzuziehen, zeigt eine Perfidie erschreckenden Ausmaßes. Die Logik: Man will offenbar bewußt Reaktionen von radikalen Muslimen gegen Israel und Juden provozieren, damit die Weltsicht bestätigt wird, dass „der Islam“ im Krieg mit Israel und dem Judentum ist. Daher die klare Distanzierung der israelischen Regierung.

Wegen dieser hinterhältigen Strategie der Filmemacher halte ich es für abenteuerlich, wenn manche Kommentatoren sich auf den Standpunkt stellen, es sei doch piepegal, wer hier welchen Film gemacht habe. Es komme eben nur auf die keinesfalls zu entschuldigende Reaktion der Brandschatzer und Botschaftsstürmer an, die wieder einmal beweise…. Also: Halt der Herr „Bacile“ doch Recht mit seinem Machwerk? Müssen wir ihm nicht geradezu dankbar sein? Was für eine kranke Logik ist das denn? Man fühlt sich an die Verteidiger der RAF-Terroristen erinnert, die es auch richtig fanden, dass der Terror den angeblichen „faschistischen Charakter“ der Bundesrepublik hervorkitzelte.

So richtig es ist, dass die radikalen Gruppen, die diese Sache hijacken, immer einen Vorwand für antiwestliche Aktionen finden – so fahrlässig wäre es, den konkreten Hintergrund hier zu ignorieren.

So geht es nicht: Denn der wahre Hintergrund des Machwerks „Innocence of Muslims“, wie er sich mittlerweile offenbart, kann noch fürchterliche Dinge für die ägyptischen Christen nach sich ziehen. Es scheinen nämlich radikale Kopten hinter dem Film zu stecken. Darauf weisen nicht nur die Anfangsszenen hin, die die Verfolgung von Kopten zeigen – und die Tatsache, dass der Film in ägyptisches Arabisch übersetzt wurde.

AP hat folgendes herausgefunden:

Using the cellphone number they talked to „Sam Bacile,“ The Associated Press tracked down a man named Nakoula Basseley Nakoula, 55, who lived at the address that aligned with cellphone records.

Nakoula denied that he directed the film but admitted that he was the manager for the production company. He also told the AP that he was a Coptic Christian.

The AP notes that Nakoula has a criminal record: He pleaded no contest in 2010 to federal bank fraud charges and served 21 months in federal prison.

The AP adds:

„Nakoula denied he had posed as Bacile. During a conversation outside his home, he offered his driver’s license to show his identity but kept his thumb over his middle name, Basseley. Records checks by the AP subsequently found the name ‚Basseley‘ and other connections to the Bacile persona.

„The AP located Bacile after obtaining his cell phone number from Morris Sadek, a conservative Coptic Christian in the U.S. who had promoted the anti-Muslim film in recent days on his website. Egypt’s Christian Coptic population has long decried what they describe as a history of discrimination and occasional violence from the country’s Arab majority.“

Auch der zweite mit dem Film verbundene Exil-Ägypter Morris Sadek, ist ein bekannter koptischer Islam-Hasser.

Für die Kopten in Ägypten kann das fürchterliche Folgen haben. Sie haben ohnehin schon mit Verfolgung zu kämpfen, wie hier bereits mehrfach berichtet. Nun haben die amerikanischen Glaubensbrüder ihren Feinden einen tollen Vorwand geliefert. Hoffentlich unternimmt die Regierung Mursi etwas gegen mögliche Ausschreitungen.

Es bedeutet nicht, die Mordtaten und die Gewalt in Bengasi, Kairo und Sana zu entschuldigen oder auch nur zu relativieren, wenn man die apokalyptische Zündelei der Initiatoren des Films kritisiert. Sie sind infame, verantwortungslose Verbrecher, die sich eine ehrenwerte, großzügige Auslegung der Redefreiheit in Amerika zunutze machen und sie missbrauchen, weil sie es auf Gewalt anlegen.

Sie wollen Flammen lodern, sie wollen Blut fließen sehen. Sie wollen das reinigende Feuer eines Endkampfes entfachen, in dem die Welt endlich erkennen muss, dass der Islam ausgerottet werden muss, damit wir alle in Frieden leben können. Und das Teuflische ist, dass sie auf der anderen Seite – bei den radikalen Islamisten – willige Helfer finden, die ihrerseits Interesse an einem Endkampf haben – nur dass jene glauben, selber siegreich daraus hervorgehen zu können. Den Preis dieser apokalyptischen Politik zahlen am Ende die religiösen Minderheiten. Juden sind schon keine mehr vorhanden in den entsprechenden Ländern. Also werden es die Christen sein.

 

 

Islamisten an der Macht – und Menschenrechte?

Eine wichtige Debatte findet auf den Seiten des New York Review Blogs statt. Einige feministische Organisationen greifen Human Rights Watch für deren letzten Report an, der eine freundlich-offene Haltung zu den demokratischen Machtwechseln in der arabischen Welt empfiehlt – auch wenn dort islamistische Kräfte ans Ruder kommen.

Ich kann hier nicht alle Argumente wiedergeben- aber beide Seiten machen gute Punkte.

Die Kritikerinnen sagen:

In your desire to “constructively engage” with the new governments, you ask states to stop supporting autocrats. But you are not a state; you are the head of an international human rights organization whose role is to report on human rights violations, an honorable and necessary task which your essay largely neglects.

You say, “It is important to nurture the rights-respecting elements of political Islam while standing firm against repression in its name,” but you fail to call for the most basic guarantee of rights—the separation of religion from the state. Salafi mobs have caned women in Tunisian cafes and Egyptian shops; attacked churches in Egypt; taken over whole villages in Tunisia and shut down Manouba University for two months in an effort to exert social pressure on veiling. And while “moderate Islamist” leaders say they will protect the rights of women (if not gays), they have done very little to bring these mobs under control. You, however, are so unconcerned with the rights of women, gays, and religious minorities that you mention them only once, as follows: “Many Islamic parties have indeed embraced disturbing positions that would subjugate the rights of women and restrict religious, personal, and political freedoms. But so have many of the autocratic regimes that the West props up.” Are we really going to set the bar that low? This is the voice of an apologist, not a senior human rights advocate.

Nor do you point to the one of the clearest threats to rights—particularly to women and religious and sexual minorities—the threat to introduce so-called “shari’a law.” It is simply not good enough to say we do not know what kind of Islamic law, if any, will result, when it is already clear that freedom of expression and freedom of religion—not to mention the choice not to veil—are under threat. And while it is true that the Muslim Brotherhood has not been in power for very long, we can get some idea of what to expect by looking at their track record. In the UK, where they were in exile for decades, unfettered by political persecution, the exigencies of government, or the demands of popular pressure, the Muslim Brotherhood systematically promoted gender apartheid and parallel legal systems enshrining the most regressive version of “shari’a law”. Yusef al-Qaradawi, a leading scholar associated with them, publicly maintains that homosexuality should be punished by death. They supported deniers of the Holocaust and the Bangladesh genocide of 1971, and shared platforms with salafi-jihadis, spreading their calls for militant jihad. But, rather than examine the record of Muslim fundamentalists in the West, you keep demanding that Western governments “engage.”

Western governments are engaged already; if support for autocrats was their Plan A, the Muslim Brotherhood has long been their Plan B. The CIA’s involvement with the Muslim Brotherhood goes back to the 1950s and was revived under the Bush administration, while support for both the Muslim Brotherhood and Jamaat e Islaami has been crucial to the “soft counter-terror” strategy of the British state. Have you heard the phrases “non-violent extremism” or “moderate Islamism?” This language is deployed to sanitize movements that may have substituted elections for bombs as a way of achieving power but still remain committed to systematic discrimination.

Dagegen halt Human Rights Watch, dass die Trennung von Religion und Staat nun wohl kaum ein Grundrecht sein kann (so sehr man sie für politisch wünschenswert halten möge): siehe viele Beispiele aus der westlichen Welt, in denen Staatskirchen existieren. Das ist aber ein Nebenschauplatz, denn es geht ja wohl eigentlich um Religionsfreiheit als Grundrecht, inklusive der negativen Religionsfreiheit (also Freiheit zu Agnostizismus, Areligiosität und zum Atheismus). Über die muss man sich nun wahrlich sorgen machen, vor allem in Ägypten, wo die Kopten unter Druck stehen.

HRW schlägt vor, dass die Wahlergebnisse zu akzeptieren seien, auch da, wo sie Islamisten an die Macht bringen – dass jedoch der Kampf für individuelle und universelle Rechte davon unbenommen fortgehen müsse:

As rights activists, we are acutely aware of the possible tension between the right to choose one’s leaders and the rights of potentially disfavored groups such as women, gays and lesbians, and religious minorities. Anyone familiar with the history of Iran or Afghanistan knows the serious risks involved. However, in the two Arab Spring nations that have had free and fair elections so far, a solid majority voted for socially conservative political parties in Egypt, and a solid plurality did so in Tunisia. The sole democratic option is to accept the results of those elections and to press the governments that emerge to respect the rights of all rather than to ostracize these governments from the outset. As Roth wrote:

Wherever Islam-inspired governments emerge, the international community should focus on encouraging, and if need be pressuring, them to respect basic rights—just as the Christian-labeled parties and governments of Europe are expected to do. Embracing political Islam need not mean rejecting human rights, as illustrated by the wide gulf between the restrictive views of some Salafists and the more progressive interpretation of Islam that leaders such as Rashid Ghannouchi, head of Tunisia’s Nahdha Party, espouse. It is important to nurture the rights-respecting elements of political Islam while standing firm against repression in its name. So long as freely elected governments respect basic rights, they merit presumptive international support, regardless of their political or religious complexion.

The signatories of the above letter disagree. In their view, Islamic political parties that come to power “remain committed to systematic discrimination.” We, too, are deeply concerned about that possibility and have been spending a great deal of time monitoring the conduct of Islamic parties, pressing them to respect all rights, and condemning any conduct that falls short. Human Rights Watch has a long history of standing up to governments founded on political Islam that discriminate against women, gays and lesbians, and religious minorities. But we would not reject the possibility that a government guided by political Islam might be convinced to avoid such discrimination.

 

Mut der Verzweiflung auf dem Tahrir-Platz

Diesen Augenzeugenbericht von den heutigen Ereignissen auf dem Tahrir-Platz schickt mir Kristin Jankowski, die in Kairo lebt und arbeitet:

Er beugt sich nach vorne, hustet kräftig. Er spuckt auf den Asphalt. Und hustet noch einmal. Er schaut nach vorne, reibt sich ein Taschentuch über die Augen.

Vor ihm schießen die ägyptischen Sicherheitskräfte mit Tränengas. Ein weiterer Demonstrant kommt hastig anglaufen, greift ihm an die Schulter und reibt ihm Essig ins Gesicht.

Es ist ein Junge, nicht älter als 12 Jahre, der mit den Wirkungen des Tränengases kämpft. Seine Hose ist dreckig, seine Augen stark gerötet. Er lacht kurz auf und rennt wieder davon. Mitten in die Menge hinein. Dort wo gekämpft wird. An die Front. Es ist lebensgefährlich.

Seit Samstag mittag riecht es nach Tränengas in den Straßen von Kairo Downtown. Auf dem Tahrir-Platz sammeln sich immer mehr Menschen. Muslime, Kopten, Atheisten, Liberale ,Linke, Frauen und Männer. Kinder. Mehr Arme als Reiche. Trotz der angeblichen Unterschiede haben sie meist nur eines im Sinn: Den Sturz des Feldmarschalls Hussein Tantway, der nach dem Sturz von Hosni Mubarak das Land am Nil regiert. Gemeinsam mit dem Militärrat.

„Wir haben es satt“, sagt ein junger Mann, der auf einer Wiese eine kurze Pause macht. Seine Augen sind gerötet. „Wir wollen endlich in Freiheit leben. Und wir bleiben so lange hier, bis wir frei sind.“Er sieht optimistisch aus. Trotz des Chaos, das sich nur einige Meter vor ihm abspielt. Ärzte haben ein Lazarett aufgebaut, Decken sind auf dem Boden ausgelegt. Sie tragen weiße Kittel, sie reagieren in Windeseile auf die zahlreichen Verletzten, die angetragen werden. Demonstranten haben sich schützend aufgestellt um den Weg für die Motorräder und Mofas frei zu machen, die die Verletzten von der Front zu den Ärzten bringen. Im Sekundentakt rasen sie hupend durch die Menge. Meist sitzen drei Personen auf dem Sitz. Der Verletzte befindet sich in der Mitte. Oft blutend im Gesicht oder am Kopf. Oder bewusstlos vom Tränengas.

Doch die Gefahr scheint viele Demonstranten nicht abzuhalten gegen die Sicherheitskräfte zu kaempfen. Mit Steinen und Molotov-Cocktails lassen sie ihrer Wut freien Lauf. „Mir ist es egal, ob ich sterbe“ behauptet eine junge Frau. „Die Regierung tritt uns seit Jahren in den Arsch. Nun ist es Zeit, dass wir alle zurücktreten“, sagt sie. Lächelnd.

Und das obwohl sie am Samstag morgen von Sicherheitskräften verprügelt wurde. „Ich hatte sie als Arschlöcher bezeichnet und dann haben sie mich mit ihren Stöcken verdroschen. Aber ich bin stark. Ich kämpfe weiter“.

Nicht nur die politischen Forderungen scheinen die Menschen auf dem Tahrir-Platz derzeit zu vereinen. Es ist ein unbeschreiblicher Mut, der die Demonstranten auf die Strassen treibt. Sie haben von den vergangen Protesten im Januar und Februar gelernt. Diesmal tragen viele von ihnen Taucherbrillen, oder sie haben sich Motorradhelme aufgesetzt um sich vor Tränengas und Gummigeschossen zu schuetzen. Auf dem Tahrir-Platz wird nicht nur Tee und heiße Kartoffeln verkauft, es gibt sogar Atemschutzmasken im Angebot. Die mit einem Schutzfilter gibt es für 10 Pfund. Und die mit zwei Filtern sind für zwanzig Pfund erhältlich.

Es scheint so, als ob sich die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und den Seitenstraßen auf einen langen Kampf eingestellt haben.

Kristin Jankowski Foto: privat

 

Die arabische Demokratie wird islam(ist)isch sein

Eine unvermeidliche Folge der arabischen Freiheitsbewegung wird die Islamisierung der Politik sein. Denn die repressive Säkularisierung (ja, ich weiß, ein problematischer Begriff, denn klar säkularistisch war keines dieser Regime, überall gab es die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religionen) durch autoritäre Herrschaft ist am Ende. Das heißt nicht, dass für alle Zeiten kein Säkularismus in der islamischen Welt möglich sein wird – der interessante Fall ist hier die Türkei. Aber zu einem Modell – oder zu Modellen – der Koexistenz von Staat und Religion wird man nur durch eine Phase der Renaissance des politischen Islams kommen.

Zunächst einmal ist das Ende der repressiven Säkularisierung für freiheitsliebende Menschen eine gute Nachricht. Die Unterdrückung der (politischen) Religion, mitsamt Folter, Entrechtung, Mord, ist vorbei. Eine Form der Religionsfreiheit – die Freiheit zur Religion im öffentlichen Leben – wird entsprechend Aufwind haben. Jedenfalls für die Mehrheitsreligion, den sunnitischen Islam. Aber: Das Schicksal der religiösen Minderheiten ist damit zugleich ungewisser geworden. Und wie es mit dem anderen Aspekt der Religionsfreiheit steht – der Freiheit von der Religion (von der Mehrheitsreligion, oder von jeglicher Religion im Fall von Atheisten) – das ist eine große Frage für alle Übergangsregime der arabischen Welt. Ausgang: offen.

Es gibt Anlässe zur Sorge: Wenn etwa der Vorsitzende des Übergangsrats in Libyen die Proklamation der Befreiung mit folgenden Sätzen krönt – „Männer, ihr könnt wieder vier Frauen heiraten! Denn so steht es im Koran, dem Buch Gottes. Ihr könnt beruhigt nach Hause gehen, denn ihr müsst nicht eure erste Frau fragen.“ Zinsen sollen übrigens auch verboten werden, weil sie unislamisch seien, so Mustafa Abdul Dschalil in Bengasi am letzten Wochenende. Oder wenn in Tunesien ein TV-Sender wegen der Ausstrahlung des Films „Persepolis“ angegriffen wird und der Senderchef um sein Leben fürchten muss angesichts eines aufgehetzten Mobs. Wenn in Kairo Dutzende Kopten massakriert werden und das Staatsfernsehen „ehrliche Ägypter“ auffordert, gegen Christen loszuschlagen. Wenn der Mörder der Kopten von Nag Hammadi, der für seine Bluttat zum Tode verurteilt wurde, als Held gefeiert wird: Was wird aus den religiösen (und anderen) Minderheiten in der befreiten arabischen Welt?

Trotzdem hilft alles nichts: Der politische Islam wird Teil des postrevolutionären politischen Spektrums in allen Ländern sein, die sich vom Joch befreien. Wie könnte es auch anders sein? Jahrzehntelang haben die Anhänger der islamistischen Bewegungen unfassliche Entrechtungen erlitten. (Man lese etwa die Romane von Ala Al-Aswani, der wahrlich keine Sympathien für den politischen Islam hat, aber dennoch die Märtyrer-Geschichten der Islamisten erzählt, die sich in Mubaraks Kerkern abspielten.) Wahr ist auch, dass sie machmal von den autoritären Regimen benutzt wurden: Man hat sie gewähren lassen, um die Linke und andere säkulare Kräfte zu schwächen. Man hat ihnen Spielraum gegeben, um sie dann immer wieder in Repressionswellen kleinzuhalten. Aber:  Sie haben unter schwierigsten Bedingungen überlebt, ihre Netzwerke aufrecht erhalten und sich in vielen Ländern um die Ärmsten gekümmert. Jetzt werden sie erst einmal als glaubwürdige Alternative dafür den Lohn einfahren.

Dass es auf Dauer ein Durchmarsch wird, ist nicht gesagt: Wo es andere Parteien gibt, ist das alte Spiel der Islamisten vorbei, sich als einzige Alternative zur autoritären Modernisierung von oben zu präsentieren. Und: Es ist nun nicht mehr mit Sprüchen wie „Der Islam ist die Lösung“ getan. Jetzt müssen Vorschläge vorgelegt werden, wie eine Wirtschaftspolitik, eine Sozialpolitik, eine Bildungspolitik aussehen würde, die die Länder aus dem Elend führt. Polygynie und Zinsverbot sind nicht die Antwort auf die Alltagsprobleme der Bürger, selbst der frommen.

Für die Beobachter in Europa stellt sich die Frage, wie sinnvoll der Begriff „Islamismus“ noch ist, wenn er Phänomene wie die türkische AKP, die tunesische Ennahda, die jemenitische Islah-Partei (mitsamt der Friedensnobelpreisträgerin), die ägyptischen Muslimbrüder ebenso wie die ihnen feindlich gesinnten Salafisten und möglicher Weise auch noch gewalttätige Dschihadisten von Hamas bis Al-Shabab bezeichnet. Zu erwarten sind noch weitere Differenzierungen im Laufe der kommenden Ereignisse. Der neue Parteienmonitor der Adenauer-Stiftung verzeichnet für die ägyptischen Wahlen alleine 13 (!) religiöse Parteien, und die Listen sind noch nicht geschlossen. (Sehr viel mehr säkulare und sozialistische, übrigens, was aber wieder nichts über die Wahlchancen der jeweiligen Lager aussagt.)

Ein instruktives Paper über die islamistischen Oppositionsbewegungen in Jordanien, Ägypten und Tunesien hat Karima El Ouazghari von der HSFK vorgelegt. Wie schwierig die Lage-Einschätzung selbst für Forscher ist, die vor Ort Gespräche führen, zeigt sich in dem Satz über die Ennahda-Partei. Weil sie in den Wochen des Umbruchs keine gewichtige Rolle gespielt habe, werde sie zwar versuchen, „ihren Platz im neuen Tunesien zu finden, doch wird sie dabei keine gewichtige Rolle spielen“. Das wurde offensichtlich schon vor Monaten geschrieben. Nach dem Wahlsonntag würde man das wohl kaum noch so sehen. Es kommt hier eine Täuschung zum Tragen, der viele Beobachter erlegen sind, und ich auch: Weil die Revolutionen nicht islamistisch geprägt waren, würden auch die Folgen dies nicht sein. So einfach ist das nicht. Islamisten werden eine wichtige Rolle spielen, und zwar wahrscheinlich in jedem Land eine andere. Eine Wiederholung des iranischen Falls ist wenig wahrscheinlich, wo die Islamisten schließlich alles übernahmen und die restliche Opposition terrorisierten, ermordeten und außer Landes drängten. Dies schon allein deshalb, weil der Iran als Modell so grandios gescheitert ist und die Parole vom Islam als Lösung diskreditiert hat.

Die interessanten Debatten der kommenden Zeit werden sich wahrscheinlich zwischen den verschiedenen Strängen des Islamismus – oder politischen Islams, oder islamisch geprägter Politik – abspielen, und nicht zwischen Islamisten und Säkularen (wie ich zunächst erwartet hatte). Soll es in Ägypten einen religiösen Rat der Ulema geben (eine Art religiösen Wächterrat der Politik), und wie weit sollen seine Kompetenzen gehen? Sollen tatsächlich Frauen von hohen Ämtern ausgeschlossen sein, wie es die konservativen Kräfte in der MB 2007 forderten? Oder passt das nicht mehr in die Post-Tahrir-Welt? Kann ein Kopte theoretisch Präsident von Ägypten werden?

Ein sprechender Moment der letzten Wochen war Erdogans Besuch in Kairo. Dort hat er für das türkische Modell eines säkularen Staates geworben. Die MB waren nicht sehr amüsiert. Das ist interessant: Der Vertreter eines modernen politischen Islams wirbt für die Trennung von Religion und Staat, und wird dafür von den Islamisten kritisiert, die sich sehr viel mehr Verschränkung von Religion und Staatlichkeit wünschen. Der im Westen als Islamist verdächtigte Erdogan findet sich plötzlich in der Rolle, von konservativeren Brüdern für seine paternalistische Einmischung kritisiert zu werden. Von den Türken will man sich kein Gesellschaftsmodell aufdrängen lassen. Zu westlich. Willkommen in unserer Welt, Bruder Recep! (Auch den äpyptischen Militärs, die anscheinend mit den MB schon hinter den Kulissen koalieren, ist das türkische Modell sicher nicht so sympathisch, seit Erdogan das Militär immer weiter zurückgedrängt hat.) Zur entscheidenden Rolle des türkischen Modells gibt es ein sehr aufschlußreiches Interview auf Qantara.de mit der Soziologin Nilüfer Göle. Darin  sagt sie:

Göle: Ich denke, dass das, was Erdoğan zuletzt in Kairo in Bezug auf den Säkularismus sagte, ein sehr wichtiges Signal ist. Ich kann die Frage, ob seine Aussagen aufrichtig oder Teil einer versteckten Agenda sind, nicht beantworten, weil das hieße, sich auf bloße Verdächtigungen zu stützen; ich glaube aber, dass es ein wichtiger Moment in dem Sinne war, dass es ihm darum ging, nicht zu einem populistischen Diskurs beizutragen.

Wenn Erdoğan sagt, dass wir den Säkularismus neu interpretieren und wir ihn als post-kemalistischen Säkularismus verstehen müssten, dann erscheint dieser Säkularismus viel offener und kann alle unterschiedlichen Glaubenssysteme umfassen. Eine solche Definition des säkularen Staates erfordert die gleiche Distanz des Staates zu allen Glaubenssystemen, mit der die religiöse Freiheit auch für Nicht-Muslime gesichert werden kann. In Erdoğans Kairoer Rede sehen wir seinen Versuch, mit den Mitteln des Säkularismus einen Rahmen für die Rechte der Nicht-Muslime in der arabischen Welt zu definieren. Und in diesem Sinne hat diese Definition des laizistischen Staates, der eben nicht nur eine Reproduktion des kemalistischen Laizismus ist, durchaus das Potenzial, die autoritären Züge, die ihm eigen sein können, zu überwinden und die Tür zu einem post-säkularen Verständnis der religiös-laizistischen Kluft zu öffnen.

 

Ebenfalls in Qantara.de schreibt Khaled Hroub über Erdogans Moment in Kairo:

Erdogan hat den Islamisten in Kairo mitgeteilt, dass der Staat sich nicht in die Religion der Menschen einzumischen habe und zu allen Religionen denselben Abstand halten solle. Er müsse säkular sein, wobei Säkularismus nicht Religionsfeindlichkeit bedeute, sondern der Garant für die freie Religionsausübung aller sei. Der Staat, den die arabischen Islamisten im Sinn haben, ist ein religiöser Staat, der jedem Individuum die Religion aufzwingt und natürlicherweise nur eine einzige Auslegung der Religion kennt.

Welcher der von den heutigen Muslimbrüdern oder Salafisten vorgeschlagenen islamischen Staaten würde denn die völlige Freiheit der anderen Religionen und Überzeugungen, wie Christentum, Judentum, Hinduismus oder Sikhismus akzeptieren? Welche dieser Staaten würden den islamischen Konfessionen, die den jeweils herrschenden Islamisten nicht passen, wie z.B. den diversen schiitischen Schulen, den Ismailiten, der Bahai-Religion, der Ahmadiyya-Bewegung usw., Freiheit und Sicherheit gewähren?

Ist es nicht eine Schande, dass im Westen unter den Bedingungen des Säkularismus die Muslime aller Konfessionen in Frieden und gegenseitiger Achtung miteinander leben, während sie in jedem ihrer islamischen Länder daran scheitern, sozialen Frieden zu schaffen und sich gegenseitig zu achten?

Der Vorsitzende der Ennahda in Tunesien, Rachid Ghanouchi, beruft sich immer wieder auf das türkische Modell. Seine Partei will er im Sinne der AKP als moderne, demokratische Partei verstanden wissen, die analog zu den Christdemokraten ihre Werte aus der Religion zieht, aber keine Theokratie und kein Kalifat anstrebt und den Pluralismus bejaht. Allerdings waren das bisher alles Bekenntnisse aus der Opposition heraus, unter der Notwendigkeit, sich gegen den Verdacht zur Wehr zu setzen, man habe eine versteckte Agenda, die sich erst nach Wahlen zeigen werde. One man, one vote, one time? Bald wissen wir mehr.

 

 

 

 

Gibt es eine Zukunft für Christen in Ägypten?

Den bisher detailliertesten Augenzeugenreport von dem Massaker an den Kopten in Kairo hat Yasmine El Rashidi in der New York Review of Books abgeliefert. Es ist ein erschütterndes Dokument, das leider meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt, dass Ägypten in Gefahr ist, sich unter dem Druck der Islamisten, der Ex-Mubarak-Kräfte und des wütenden Pöbels zur Hölle für Andersgläubige zu wandeln.

Around 7:30 PM, I received text and Twitter messages that an announcer for State TV had on air called for Egyptians to go down and “defend the soldiers who protected the Egyptian revolution” against “armed Copts” who had opened fire and were killing soldiers. Looking around me, I could see that many of those gathered in the tight area around the TV building seemed to have responded to the call. Rough-looking men were arriving in groups; people said they were neighborhood thugs. They held bludgeons, wooden planks, knives, and even swords, and walked boldly into the chaos of burning cars, flying bullets, and glass. “We’ll kill any Christian we get our hands on,” one of them shouted. Someone tweeted that he was in the middle of what looked like a militia, “men with clubs and antique pistols.” Nearby, a young girl was harassed, and a mob assaulted a young Coptic couple, beating them and ripping their clothes. One of the perpetrators emerged from the gang with blood on his hands. “Christian blood!” he boasted. (The couple survived—rushed away by ambulance to be treated for wounds and possible fractures.)

For the next few hours, the violence ebbed and flowed between riot police, soldiers, Copts, and mobs. I could see clashes up on the bridge and was told that the army was chasing protesters through the streets of downtown. I was chased myself at one point, up a ramp. Young boys were also flocking in—many of them teenagers, some as young as nine or ten. They picked up rocks and threw them, challenging anyone to fight back, shrieking insults about Christians, and chanting for an Islamic state. Many of them looked familiar—the same youth I had seen gather outside the Israeli embassy a few weeks before, and at other protests in recent months that had turned violent. Soldiers looked on, many of them leaving the rowdy crowds to battle, while others tried to break up the mobs. The sirens of ambulances rushing to and from the area could be heard in all directions.

 Vivian and Michael

By 10 p.m., as the crackdown continued and dozens of box-shaped olive-green Central Security Forces trucks rolled in as reinforcement, 23-year-old Michael, the young Copt I had met in Shubra that afternoon, had been confirmed dead. Images and footage from the morgue taken by friends show him covered in a white sheet while his fiancée Vivian sobbed by his side, holding his hand, saying she wouldn’t leave him. He had been crushed beneath a twelve-ton APC. His legs had been almost severed and internal organs ruptured. Police then beat him as he lay on the sidewalk, Vivian begging them to have mercy as he gasped his last breaths. “You infidel,” they had screamed back at her.

 

Frau El Rashidi beschreibt auch, dass es für den Mörder an den Christen in Nag Hammadi, der kürzlich hingerichtet wurde, eine nach tausenden zählende Trauerprozession gab:

On Tuesday, as Copts were mourning their loved ones, the funeral procession of the executed gunman, El-Kamouny, marched through the streets of the southern city where he opened fire on Copts as they were leaving church on Christmas eve, killing six. Thousands of Muslims marched through the streets with his coffin. They chanted “La Illaha IlaAllah, La Illaha IlaAllah, El-Kamouny shaheed Allah” (There is no God but Allah, There is no God but Allah, El-Kamouny is a martyr of Allah). People cheered them on. El-Kamouny, in their eyes, was a hero.

Schande.

 

Warum die arabische Demokratie einem Angst und Schrecken einjagen kann

Zwei Ereignisse der letzten Wochen haben mich aufgewühlt: das Massaker an den Kopten in Ägypten, dem zwei Dutzend Menschen zum Opfer fielen, und die wütende Mob-Attacke auf einen tunesischen Fernsehsender, der Marjane Satrapis Film „Persepolis“ ausgestrahlt hatte.

Über die Ereignisse in Ägypten ist viel berichtet worden, ich kann mir die Einzelheiten sparen. Das Staatsfernsehen, obwohl es selbst mit zur Aufstachelung beigetragen hat, machte „äußere Mächte“ mit verantwortlich für die Geschehnisse. Auch manche der jungen Revolutionäre wollte gerne daran glauben, dass es irgendwelche agents provocateurs waren, die die Sache ins Rollen brachten: Salafisten, von den Saudis bezahlt; Mubarak-Anhänger; Agenten des Militärs, das die Revolution in Blut ersticken möchte. Ausschließen läßt sich das alles nicht.
Doch die Frage, die die Ägypter sich stellen müssen, ist: ob die Demokratisierung in ihrem Land, wie im gesamten Nahen Osten, zu einer Herrschaft des Mobs führen wird. Und der Mob geht eben in Krisenzeiten auf Minderheiten los. Die Christen im Irak haben das erfahren, als Saddams Herrschaft beseitigt war. Die Kopten waren schon zum Ende des Mubarak-Regimes ein beliebter Blitzableiter geworden. Nun droht ihre Lage unterträglich zu werden.

Und damit bahnt sich ein fürchterliches Paradox an – dass die Demokratisierung im Nahen Osten das Ende der religiös-kulturellen Viefalt dieser Region bedeuten könnte. Schon die Entkolonialisierung hatte – zusammen mit der Gründung Israels – den Exodus der Juden aus der arabischen und weiteren muslimischen Welt vorangetrieben. Nun droht den Christen, darunter vielen der ältesten Gemeinden überhaupt, das gleiche Schicksal. Auch das steckt dahinter, wenn die syrischen Christen sich hinter Assad stellen: sie fürchten, dass es ihnen in einem Bürgerkrieg an den Kragen gehen wird, weil sich alle darauf einigen können, dass sie die fremdesten Fremden im Lande sind, und dass sie zum Opfer einer ethnischen Säuberung werden könnten.
Der tunesische Vorfall ist ebenso beunruhigend, er wurde in unseren Medien kaum aufgegriffen: der Sender Nessma TV hatte Satrapis „Persepolis“ ausgestrahlt – die im Comic-Stil erzählte autobiografische Geschichte eines jungen Mädchens im Iran (und eines der großen Filmkunstwerke der letzten Jahre). Darin gibt es eine Episode, in der die junge Marjane sich mit Gott unterhält. In vielen tunesischen Moscheen war gegen den Film gehetzt worden, so dass sich in der letzten Woche ein Mob in der Hauptstadt zusammenfand. Salafisten stürmten den Sender und das Haus des Senderchefs. Dessen Haus wurde gar mit Brandsätzen angegriffen.

Die kleine Marjane streitet mit Gott. Screenshot: JL (der ganze Film kann hier auf Deutsch gesehen werden, die bewusste Stelle etwa ab der 20. Minute)

Die Islamisten hatten offenbar verstanden, dass Satrapis Kritik an den Zuständen im Iran auch auf das bezogen werden konnte, was bei ihrer Machtergreifung droht. In gewisser Weise war daher ihre wütende Ablehnung des Films erhellend und verständlich. Dass sich hunderte junger Männer mobilisieren lassen für eine Terrorkampagne gegen die Meinungs- und Pressefreiheit, ist aber erschreckend: Senderchef Karoui hat sich mittlerweile für die Ausstrahlung des Films entschuldigt: eine Schande für das neue Tunesien, obwohl man den Mann weißgott verstehen kann. Die vermeintlich gemäßigten Islamisten der Partei Ennahda haben sich zwar von den gewaltsamen Protesten distanziert und behauptet, sie träten für Meinungsfreiheit ein, aber der Wiener Standard zitiert deren Sprecher: „Wenn das Volk solche Aussagen nicht für richtig hält, dann können sie auch nicht toleriert werden. Man darf nicht religiöse Gefühle verletzen. (…) Sie gehen ja auch nicht mit einem Bayern-Trikot in den gegnerischen Block.“
Wenn das die Vorstellung von Zivilgesellschaft ist – Hooliganblocks, die sich berechtigt fühlen, jeden umzunieten, der „das falsche Trikot“ trägt – dann sehe ich schwarz für Tunesien. Ennahda werden bei den Wahlen am kommenden Wochenende übrigens große Chancen zugerechnet, stärkste Partei zu werden.

 

Nutzt die ägyptische Revolte den Muslimbrüdern?

Die Muslimbrüder haben sich zuerst aus den Protesten herausgehalten. Ab heute ist das anders. Die älteste, mitgliederstärkste und wichtigste islamistische Gruppe weltweit, der Inbegriff des politischen Islam, hat sich hinter die Protestierenden gestellt. Nach den Freitagsgebeten kamen Tausende auch mit der Rückendeckung der „Ikhwan“ (Brüder) auf die Straßen.

Die Muslimbrüder waren viele Jahre ein wichtiges Element in der Selbstrechtfertigung des ägyptischen Regimes gewesen. Mubarak empfahl sich seinen westlichen Unterstützern als Bollwerk gegen die einflussreiche islamistische Bewegung. Der Westen ging auf den Deal ein und schaute zum Dank nicht so genau hin, wenn das Regime Islamisten (genau wie auch seine säkularen Gegner) verhaftete und folterte. Mit dem 11. September und seinen Folgen aber hatte sich das Spiel verändert. Mit al-Qaida und anderen global operierenden Dschihadisten tauchte ein radikalerer Zweig des politischen Islam auf, der die Muslimbruderschaft plötzlich in einem moderateren Licht erschienen ließ.

Der ehemalige ägyptische Muslimbruder Aiman al-Sawahiri prangerte die Muslimbrüder nun dafür an, dass sie an Wahlen teilnahmen: Sie sollten die jungen Männer lieber für den Dschihad mobilisieren, statt sie an die Wahlurnen zu treiben. Selbst die Hamas, der Zweig der Muslimbrüder in Gaza, der mit Gewalt gegen Israel kämpft, sieht sich der Kritik von al-Qaida ausgesetzt: Es sei zuwenig, nur um Land gegen die Juden zu kämpfen. Man müsse es als göttlichen Auftrag begreifen.

In jeder Nach-Mubarak-Regierung, die nicht eine Militärdiktatur ist, werden die „Brüder“eine Rolle spielen. Bei den letzten einigermaßen offenen Wahlen im Jahr 2005 kamen ihre Kandidaten auf etwa 20 Prozent. Wie viele in freien Wahlen für sie stimmen würden, ist schwer zu sagen, weil ihr Nimbus natürlich auch vom Verbot profitiert.

Die breite Volksbewegung gegen das Regime hat das Spiel der ägyptischen Regierung mit den westlichen Ängsten vor dem Islamismus nun aber endgültig als erpresserische Überlebenstaktik entlarvt. Nach dem Motto: Wenn wir nicht mehr da sind, dann wird dies hier ein zweiter Iran. Dafür spricht im Moment nichts. Die Muslimbrüder sind bisher nur ein Teil einer nationalen Bewegung. Sie führen die Proteste nicht an. Und der derzeitige Führer der MB, Mohammed Mehdi Akef, wird wohl kaum Ägyptens Chomeini werden.

Die Muslimbrüder wurden 1928 von Hassan al-Banna gegründet. Ihre beiden Themen waren von Beginn an das fundamentalisch-islamische Revival und der Anti-Imperialismus. Die beiden Wege dahin: die Islamisierung der Gesellschaft von unten und der paramilitärische Kampf. Sie hatten ein wechselvolles Verhältnis zu den ägyptischen Machthabern, sowohl zum König Faruk, der bis 1946 die Engländer im Land dulden musste, wie auch zu den „Freien Offizieren“ um Nasser und Sadat, die ihn 1952 stürzten. Hassan al-Banna wurde 1948 ermordet, die Bruderschaft in den Untergrund getrieben. Das anfängliche antiimperialistische Bündnis mit den Offizieren endete in Unterdrückung der Bruderschaft. Sayyid Qutb, der einflussreichste Denker der Brüder, trieb eine Radikalisierung voran, die zur Grundlage des modernen Dschihadismus wurde: die Unterdrücker waren keine Muslime, so Qutb, sondern Apostaten, und die ganze weltliche Ordnung der Gegenwart erschien im Licht der vorislamischen Zeit der Unwissenheit und Gottlosigkeit (Dschahiliya).

Dschahiliya Foto: Jörg Lau

Gewaltsamer Widerstand gegen diese Weltordnung wurde für Qutb zur religiösen Pflicht. Qutb wurde hingerichtet und damit zum Märtyrer. Bis heute werden seine Schriften in Kreisen der Muslimbruderschaft vertrieben. Die offizielle Haltung der Organisation wird aber von Qutbs internen Kritikern wie Hassan al-Hudeibi bestimmt, der Ende der sechziger Jahre gegen die Praxis des Takfir Stellung nahm: Nur Gott könne beurteilen, wer ein guter Muslim sei. Menschen dürften sich nicht wechselseitig zu Apostaten erklären und damit zum legitimen Ziel politischer Gewalt. Die Ablehnung von Takfir durch die MB war wiederum einer der Gründe für die Gründung radikalerer Abspaltungen wie des „Islamischen Dschihad“ und der „Jama’al Islamiya“. Letztere war für die Attentate auf Touristen in den achtziger Jahren verantwortlich. Wiederum eine ihrer Abspaltungen brachte 1981 vor laufenden Kameras den Präsidenten Sadat um, weil er nicht gemäß der Scharia regierte und Frieden mit Israel gemacht hatte.

Während der breite Strom der Muslimbruderschaft solchen Terrorismus verurteilt, unterstützen auch die Moderaten im Mainstream der Bewegung Attentate im Irak und in Israel als „legitimen Widerstand“. Der Ableger der Bruderschaft in Gaza, die Hamas, erkennt Israels Recht zu existieren nicht an. Die MB hat allerdings die Attentate vom 11. September als Taten von „Kriminellen“ bezeichnet, was al-Qaida gegen sie aufgebracht hat. Und der wichtigste Prediger der MB, Yussuf al Qaradawi, hat es Wahnsinn genannt, dass al-Qaida der ganzen Welt den Krieg erklärt hat. Diese Brüche im islamistischen Lager machen deutlich, dass es falsch ist, die Muslimbrüder in einem Kontinuum mit den militanten Dschihadisten zu sehen.

Heißt das, niemand muss sich vor einem möglichen maßgeblichen Einfluss der „Brüder“ auf die künftige ägyptische Politik fürchten? Nein. Die Bruderschaft hat das klare Ziel, die ägyptische Gesellschaft zu islamisieren, wenn auch auf dem legalistischen Weg. Das schariakonforme öffentliche Leben ist für die Bruderschaft als Ziel nicht verhandelbar. Nur über den Weg kann man streiten. Und Ägypten ist in den letzten Jahren schon von unten her stark islamisiert worden. Was mehr MB-Einfluss für die ohnehin schon belagerten Minderheiten bedeuten würde – wie Kopten oder Bahais – kann man sich ausmalen.

Und die ohnehin schon stockenden Bemühungen um eine Zweistaatenlösung in Nahost könnte man womöglich endgültig vergessen. Ägypten ist maßgeblich für die Abriegelung Gazas verantwortlich. Wie wird eine neue Regierung handeln? Zu erwarten wäre wohl, dass die Restriktionen für das von Hamas regierte Gebiet aufgehoben würden. (Allerdings könnte das die Hamas-Herrschaft auch destabilisieren, weil man ja nur unter Belagerung die Bevölkerung als Geisel halten kann.)

Aber welchen Einfluss die Bruderschaft auf ein neues Ägypten hätte, ist alles andere als ausgemacht. Die jungen Leute, die derzeit die Straßen beherrschen, haben nicht auf die Führung durch die Brüder gewartet, um gegen das Regime vorzugehen. Sie haben sich an den Tunesiern orientiert, die ebenfalls ohne die Islamisten ihren Pharao Ben Ali losgeworden waren.

Bisher hatte Demokratisierung in der islamischen Welt meist Islamisierung geheißen. Wer weiß, vielleicht ist diese Welle in Tunis gebrochen?