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Ein Fall „Hoder“? Der bekannteste iranische Blogger auf Abwegen?

Je angespannter die Lage im Iran, um so tiefer werden auch die Risse in den Dissidentenzirkeln im Ausland.
Derzeit ist die Bewertung des Falles Jahanbegloo (siehe vorherige Posts) die Frage, an der sich die Geister scheiden.

Der iranische Blogger Hossein Derakshan (aka „Hoder“: www.hoder.com), eine wichtige Figur der jüngeren iranischen Exilopposition, gewinnt dem „Geständnis“ von Ramin Jahanbegloo jetzt andere Seiten ab: Derakshan erklärt das „Geständnis“ zum Zeichen eines wirklichen Umdenkens.
Jahanbegloo habe sich von der Idee des „regime change“ verabschiedet, die er als falsch erkannt habe. Zum Interesse des Regimes, Jahanbegloo als Regime-change-Advokaten hinzustellen, siehe meine früheren Posts.
Unter anderen reformgesinnten Exilanten (die durchaus nicht für gewaltsamen Regimewechsel, sondern demokratischen Wandel von innen stehen) Hoders Deutung heftigen Widerwillen, ja sogar Abscheu ausgelöst.

Die Tatsache, daß Jahanbegloos „Undemkungsprozeß“ nach 4 Monaten Einzelhaft stattfand und daß das Regime nachhalf, indem es Ramin Jahanbegloo das eigene Haus und das seiner Mutter als Sicherheit abverlangte, spielt in Hoders Deutung seltsamer Weise keine Rolle.
KÜRZLICH ERST HAT HODER DAS ATOMPROGRAMM DES IRAN GERECHTFERTIGT, UND ZWAR AUCH EINDEUTIG ALS WAFFENPROGRAMM.
Im letzten Jahr war Hoder im Iran, um über die Wahlen zu berichten. Er durfte selbst erst nach intensiver Befragung durch den Geheimdienst ausreisen.
Es gibt gute pragmatische Gründe, gegen eine aggressive Regime-change-Politik im Iran zu sein. (Vor allem, weil sie in einem Land nichts fruchtet, das sich sehr zu Recht vom Westen, besonders von den USA, verraten und verkauft fühlt – seit der Unterstützung des Schahs und schließlich Saddam Husseins, selbst noch als dieser Giftgasangriffe auf iranische Truppen ausführen ließ.)
Aber man muß die Falschheit der Regimewechsel-Propaganda nicht an jemandem zu belegen versuchen, der mit ihr nie etwas zu tun hatte und nun vom iranischen Geheimdienst in durchsichtiger Weise als „reuiger“ Einflußagent hingestellt wird.

 

Die neue Teheraner Strategie gegen Dissidenten? Rätsel um Ramin Jahanbegloos „Geständnis“

Was ist los mit Ramin Jahanbegloo? Nach seiner Entlassung aus dem berüchtigten Teheraner Evin Gefängnis hat der international renommierte Philosoph mit einem „Geständnis“ große Verwirrung gestiftet.
Das Verhalten des Philosophen unmittelbar nach seiner überraschenden Freilassung wirft bei seinen Freunden und Unterstützern besorgte Fragen auf. Der Fall scheint mehr mit dem Kollisionskurs des Regimes zu tun zu haben, als man zunächst annehmen konnte, möglicher Weise sind sogar höchste Stellen in die Sache verwickelt.
Nach vier Monaten im Gefängnis (rechts unten: Eingangstor) – ohne regelrechte Anklage – wurde Jahanbegloo am 30. August ohne weitere Begründung auf Kaution entlassen. Angesichts der Schwere der Vorwürfe, die aus regierungsnahen Kreisen zirkuliert wurden – „Spionage“, „Vorbereitung einer samtenen Revolution im Iran“ – muss diese abrupte Entlassung verwundern.
Eine mögliche Erklärung mag darin liegen, daß am 31. August das Ultimatum des UN-Sicherheitsrates gegen Iran verstrich. Die Entlassung eines Dissidenten, der in der Folge gesteht, für den Westen gearbeitet zu haben, könnte das Regime als eine willkommene Ablenkung von dem Druck betrachtet haben, unter dem es sich befindet. Zugleich sollte es offenbar intern als Bestätigung der Regierungspropaganda über die feindlichen Bestrebungen westlicher Mächte inszeniert werden.
Jahanbegloo wurde, wie jetzt bekannt wurde, von Beamten des iranischen Sicherheitsapparats nach Hause begleitet – mit einer Schachtel Süßigkeiten versehen, wie es der traditionellen iranischen Weise entspricht, ein glückliches Ereignis zu feiern.
Sofort darauf suchte er die halboffizielle iranische Studenten-Nachrichtenagentur ISNA auf, um in einem „Interview“ über seine Haft zu berichten. ISNA genießt im Land eine gewisse Glaubwürdigkeit.
In diesem Interview sagte Jahanbegloo, Geheimdienstmitarbeiter gegnerischer Staaten hätten an Seminaren teilgenommen, die er im Ausland gegeben habe. Diese Agenten hätten ihn und seine Expertise über Iran zu feindlichen Zwecken benutzen wollen.
Er sagte, eine vergleichende Studie über die osteuropäischen Zivilgesellschaften und den Iran, die er für den transatlantischen Thinktank German Marshall Fund anfertigen wollte, hätte benutzt werden sollen, um den Umsturz im Iran zu planen.
(Dies ist grotesk: der GMF ist ein regierungsfernes, politisch pluralistisches Netzwerk von amerikanischen und europäischen Experten, das nichts mit eventuellen Regime-change-Plänen der US-Regierung zu tun hat.)
Weiter gestand Jahanbegloo, daß Websites, auf denen seine Arbeiten veröffentlich worden sind, von „Geheimdienstleuten“ unterhalten würden – was wiederum impliziert, daß diese Websites von Staaten betrieben werden, die dem Iran feindlich gesinnt seien. (Ebenfalls grotesk: Jahanbegloo hat einige Stücke bei openDemocracy veröffentlicht, einer unabhängigen, tendenziell sehr Bush-kritischen Website.)
Das selbsterniedrigende Interview überrraschte offenbar die ISNA-Reporter. Jahanbegloo betonte mehrmals, seine Arbeit enthalte das Potential zur Manipulation durch fremde Mächte. Er plädierte auch dafür, Seminare und Konferenzen innerhalb des Irans abzuhalten, um sich nicht Mißbrauch im Ausland auszusetzen. (Jahanbegloo hatte während der Jahre vor Ahmadinedschad viele westliche Denker in den Iran geholt, wie etwa Michael Walzer, Richard Rorty, Jürgen Habermas. Damit soll ganz offensichtlich Schluß sein, ja diese Besuche, die Teherans Studenten inspirierten, sollen im Nachhinein diskreditiert werden.)
Der unmittelbare Grund für seine Verhaftung, schreibt der Soziologe Rasool Nafisi (links) auf der Website openDemocracy, sei ein Projektaufriß, den Jahanbegloo für den German Marshall Fund geschrieben hatte. In diesem Papier habe er die iranischen und die osteuropäischen Intellektuellen verglichen und angeblich Mutmassungen über den Zusammenhang zwischen der Stärke der Zivilgesellschaft und den Umsturzwillen der Bevölkerung angestellt. Dieses Papier geschrieben zu haben, so Jahanbegloo in seinem „Interview“, sei ein Fehler gewesen.
Er habe sich irreführen lassen, daß die Studie als eine wissenschaftliche Arbeit intendiert sei, während es in Wirklichkeit immer nur um die Durchkreuzung der nationalen Interessen des Iran gegangen sei – was er freilich niemals beabsichtigt habe. (Welche Demütigung für einen der renommiertesten Denker des Landes!)
Er wolle in Zukunft seine Arbeit in Indien fortsetzen und sich aus politischen Dingen heraushalten.
Er sei im übrigen im Evin-Gefängnis gut behandelt worden, die Zustände dort seien nicht vergleichbar mit Abu Ghraib oder Guantanamo. Er habe lesen und schreiben, Fernsehen schauen und einen Arzt konsultieren können.

Was hat dies alles zu bedeuten?
Rasool Nafisi glaubt, das Interview solle, genau wie die Verhaftung Jahanbegloos eine „Botschaft an die iranischen Intellektuellen schicken: Haltet Euch aus der Politik heraus, vermeidet Kontakt mit Ausländern, schreibt nicht für deren Medien. Dieser Ansatz paßt zu einer neuen Anordnung des Ministeriums für Islamische Führung, die Iranern verbietet, Interviews an Medien außerhalb der iranischen Republik zu geben.“
Ich möchte hinzufügen: Das Ganze ist auch eine wirksame Botschaft an eben jene westlichen Medien und Austausch-Organisationen. Wenn Ihr Leute wie ihn einladet, und mag der Anlaß auch noch so unverfänglich sein, dann gefährdet Ihr deren Leben. Also laßt es lieber.
Rasool Nafisi sieht in diesem Fall eine neue Taktik des Regimes gegen unabhängige, freie Denker – und zwar „eine, die wesentlich subtiler ist als Folter und Morde auf offener Straße. Neben den üblichen Methoden, iranische Intellektuelle zu diskreditieren, ruhig zu stellen oder außer Landes zu treiben, beinhaltet die Taktik eine Kombination von willkürlicher Verhaftung und finanziellem Druck. Es drohen schmerzhafte wirtschaftliche Folgen, wenn der Entlassene den Anordnungen der Behörden zuwider handelt.“
Nafisi weiß zu berichten, daß kritische Journalisten nach willkürlichen Verhaftungen und Verhören nur dann freigelassen wurden, wenn sie den Besitz ihrer Familie als Kaution hinterlegten. Eine Journalistin, die ihre kranke Mutter besuchte, wurde gezwungen, das Haus der Mutter als Kaution einzusetzen. Das Haus wird konfisziert, falls die Journalistin weiter kritisch schreibt und sich der Anordnung des Ministeriums entzieht, in den Iran zurückzukehren.
Diese neue Erpressungstaktik, meint Nafisi, sei viel effektiver als die altmodischen TV-Beichten, denen ohnehin niemand mehr glaubte – und von denen sich die Betroffenen später leicht distanzieren konnten.
Es scheint, so Nafisi, daß Jahanbegloo die Freiheit und ein Pass versprochen worden seien, falls er bereit sei, einer „Agentur seiner Wahl“ ein Interview mit seinem „Geständnis“ zu geben.
Das Angebot hatte allerdings einen Haken. Um sicher zu stellen, daß Ramin Jahanbegloo sich wirklich an den Deal hält, mußte er zwei Häuser als Kaution verpfänden: das seiner Mutter und sein eigenes.
Außerdem scheint der Fall noch weitere innenpolitische Implikationen zu haben. Payam Akhavan, Juraprofessor in Montreal und Menschenrechtsaktivist, will aus mehreren Quellen erfahren haben, daß Jahanbegloo in seiner Einzelhaft gezwungen wurde, ein Geständnis abzulegen, das politische Gegner Ahmadinedschads (vermutlich aus dem Reformlager) belastet. Dieses Geständnis soll benutzt worden sein, um von den Betroffenen politische Konzessionen zu erpressen.
Jahanbegloo leugnet gegenüber ISNA, ein solches Geständnis abgelegt zu haben. Dre iranischen Generalstaatsanwalt Najaf-Abadi allerdings hatte vor zwei Wochen behauptet, es existiere eine Bandaufzeichnung. Jahanbegloo habe der Ausstrahlung im Fernsehen zugestimmt. „Ob diese Ausstrahlung stattfindet, das isteine andere Frage,“ sagte Najaf-Abadi gegenüber Reportern.

 

Neues aus Londonistan

Die New York Times berichtet, daß die selbe islamische Schule südlich von London, in der Freitagnacht 14 Verdächtige festgenommen wurden, denen man Rekrutierung und Ausbildung von Terroristen vorwirft, zuvor von der Polizei aus Ausbildungsstätte für „Diversity Training“ benutzt wurde.
Während Polizisten sich in der Jamiah Islamiah Schule in Sussex in interkultureller Sensibilität unterrichten ließen, so der Verdacht, lief dort parallel Unterricht für aufstrebende Dschihadisten.
Die wohlmeinenden Polizisten studierten also den Koran, während sich sozusagen nebenan eine Gruppe junger Kämpfer auf „Märtyreroperationen“ vorbereitete?
Der britische Multikulturalismus zeigt sich immer mehr als eine Form organisierter Verantwortungslosigkeit.
Seit 1999 war bereits bekannt, daß der radikale Haßprediger Abu Hamza Kontakte zu der Schule pflegte.

 

Die öffentliche Vernichtung eines Intellektuellen als Schauspiel vor der Weltöffentlichkeit

Das Transskript des „Geständnisses“ von Ramin Jahanbegloo (siehe Link in der Titelzeile) läßt keinen anderen Schluß zu, als daß wir Zeugen einer öffentlichen (Selbst-)Vernichtung eines hervorragenden Intellektuellen werden.
Es ist ein erschütterndes, abstoßendes Schauspiel.
Es wird auch offenbar, dass diese erzwungene Selbstzerstörung eines integren und mutigen Philosophen nicht nur auf die iranische Öffentlichkeit zielt. Austauschorganisationen, westliche Medien und Individuen, die Kontakt mit unabhängigen Köpfen wie Jahanbegloo suchen, sollen abgeschreckt werden.
In diesem Fall ist der German Marshall Fund in die Schußlinie geraten, mit dem Ramin kooperieren wollte. Der GMF ist eine integre, unabhängige und überparteiliche Institution, die den transatlantischen Austausch pflegt. In Jahanbegloos „Geständnis“ erscheint er als sinistere Organisation, die den Umsturz im Iran vorbereitet.
Das ist grotesk, doch es geht hier nicht um Tatsachenfeststellungen. Es sollen schlichtweg alle abgeschreckt werden, die sich für die Dissidenten des Landes einsetzen.
Die Botschaft lautet: Wenn ihr sie druckt, wenn ihr sie einladet, wenn ihr auch nur Kontakt mit ihnen aufnehmt, kann das für uns Grund genug sein, sie fertigzumachen!

 

Ramin Jahanbegloo ist frei!


Nach Meldungen der halbamtlichen iranischen Agentur Fars ist der Philosoph Ramin Jahanbegloo gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen worden.
Die kanadische Regierung hat diese Meldung unterdessen bestätigt (siehe Link im Titel).
Die unabhängige Website Roozonline zitiert Jahanbegloo mit Aussagen über seine Haft: Er sei ärztlich betreut worden und habe nach drei Monaten eine Einzelzelle bekommen, in der ihm auch Zugang zu Medien und telefonischer Kontakt nach aussen gestattet worden sei.
Er sei „keinem psychischen und physischen Druck“ ausgesetzt worden.
Die milde Darstellung der Haftbedingungen muss im Kontext der Gefahr gesehen werden, in der Jahanbegloo und seine Familie immer noch schweben.
Es drohen auch nach der Freilassung immer noch juristische und andere Pressionen, die ihm, seiner Frau und seiner Tochter das Leben schwer machen könnten.

Am 27. April war Jahanbegloo auf dem Teheraner Flughafen verhaftet worden, als er versuchte, zu einer Veranstaltung des German Marshall Fund auszureisen.
Es hat in den vier Monaten seiner Haft im berüchtigten Evin-Gefängnis nie eine ordentliche Anklage gegeben.
Jahanbegloo wurde allerdings über regierungsnahe Kreise vorgeworfen, in Zusammenarbeit mit „ausländischen Botschaften“ eine „samtene Revolution“ im Iran geplant zu haben.
Zuletzt war gestreut worden, es existiere ein auf Video aufgezeichnetes „Geständnis“ mitsamt einer „Entschuldigung“ des Philosophen. Es hieß, das Video sei im Iran einer ausgewählten Schar von Journalisten vorgeführt worden. Kenner der Unterdrückungstechniken des Regimes sahen in dieser Meldung den Versuch eines Rufmordes an einem integren und international renommierten Denker (siehe www.zeit.de/2006/32/Iran).
Eine internationale Kampagne von prominenten Intellektuellen zur Freilassung Ramin Jahanbegloos, diplomatischer Druck der Europäischen Union und vor allem Kanadas (er ist iranischer und kanadischer Bürger) scheint nun doch Erfolg gehabt zu haben.
Jahanbegloo sieht allerdings höchstwahrscheinlich immer noch einem Prozeß entgegen.
Man darf auf die Anklagepunkte gespannt sein.
Es wird berichtet, daß er durch die Haft stark abgemagert sei.

 

Die „linke“ Rhetorik der Hisbollah


Hazem Saghieh, der große Liberale unter den arabischen Journalisten, schreibt in Al-Hayat vom 28. August eine ätzende Kritik der revolutionären Rhetorik der Hisbollah und ihres Führers Hassan Nasrallah (Foto rechts). Will solche kritischen Stimmen im Westen noch jemand wahrnehmen?
Für den „alten, korrupten, merkantilen Libanesen“, so Saghieh, sei kein Platz in der schönen neuen Welt, die der „historische Sieg“ der Hisbollah heraufbeschwört.
Saghieh, selber ein früherer Linker, fühlt sich durch die linke, „zweifellos progressive“ Rhetorik an alte Zeiten erinnert, weil man uns „wieder einmal aufzeigt, wer – wie der alte Lenin sagte – die Freunde und die Feinde des Volkes sind“.
„Unbedeutende korrupte Leute, die schlaflose Nächte in Sorge über irdischen Dingen verbringen, müssen jetzt Platz machen für Leute, die nur über der Frage der Geschichte schlaflos werden“, schreibt Saghieh mit Blick auf das aussichtslose Duell des Ministerpräsidenten Siniora mit dem Hisbollah-Führer Nasrallah um die moralischen Führerschaft im Libanon: „Diejenigen, die Tränen vergießen, wie Fouad Siniora, müssen denjenigen weichen, die nicht einmal bluten, wenn sie geschnitten werden.“
„Hitler, Stalin und Chomeini“, so Saghieh, waren von dieser Art.
Sie waren trunken von ihrer geschichtlichen Sendung. Sie waren nicht korrupt. Sie kannten keine Skrupel.
„Ohne Zweifel gehören Hassan Nasrallah und Hisbollah zu dieser Schule des Denkens.“

 

Untote Bush-Doktrin?


Norman Podhoretz, einer der Neocons der ersten Generation, ein intellektueller Wegbereiter der Reagan-Revolution, versucht in einem langen Essay für Commentary (Link siehe Überschrift) die sich auflösenden Bataillone der neokonservativen Außenpolitiker bei der Fahne zu halten.
Die Bush-Doktrin sei keineswegs tot, wie viele angesichts der Mißerfolge der amerikanischen Demokratisierungsbemühungen im Irak und anderswo im Mittleren Osten behaupten.
Podhoretz sieht mit Grausen, daß sich angesichts der Unregierbarkeit des Irak und des hohen Blutzolls durch die Anschläge Defätismus in den Reihen ehemaliger Kriegsbefürworter breitmacht.
Die Wiederkehr des außenpolitischen „Realismus“ im Zeichen dieser Entwicklungen ist ihm ein Gräuel.
Auch wer glaubt, daß der sogenannte Realismus nie wichklich realistisch war, und wer zugesteht, daß „Stabilität“ die meiste Zeit nur ein schöneres Wort für orientalische Despotie war, wird sich angesichts des Podhoretz’schen Traktats grausen.
Podhoretz rekonstruiert die Bush-Doktrin, die nach dem 11. September formuliert wurde, folgendermaßen: Erstens Ablehnung des Relativismus, der in der Terrorismus-Debatte vorherrschend war (was dem einen ein Terrorist, ist dem anderen ein Freiheitskämpfer). Stattdessen „moralische Klarheit“ – wahr und falsch, gut und böse.
Zweitens werden Terroristen nicht mehr als Verbrecher oder Verbrecherbanden verstanden, sondern als „irreguläre Truppen“ jener Staaten, die sie beherbergen oder unterstützen. 9/11 wurde als Kriegserklärung begriffen. Daraus folgte, so Podhoretz, die Rechtfertigung zur Invasion Afghanistans und Iraks (?). Er verweilt nicht bei der Frage, ob das im Falle des Irak plausibel ist.
Der dritte Pfeiler der Doktrin wiederum sei die Erkenntnis der Notwendig präemptiven Handelns: der 11. September habe gezeigt, daß man den Terroristen und den sie unterstützenden Regimen zuvorkommen müsse, statt sie nur zu verfolgen.
Es handele sich um ein böswilliges Mißverständnis, wenn diese Politik als „unilateral“ gebrandmarkt wird. Podhoretz zitiert einige Bush-Reden, in denen von friends and allies die Rede ist. Damit ist für ihn der Beweis erbracht: Die Bushies waren nur allzu gutwillig auf Kooperation bedacht, nur europäische Überempfindlichkeit in Kombination mit Feigheit hat einen anderen Eindruck aufkommen lassen können.
Genauso verfährt Podhoretz in seiner Bilanz des Irakkrieges. Den Kritikern der Demokratisierungspolitik, die der Bush-Regierung vorhalten, das Augenmerk viel zu sehr auf freie Wahlen gelegt zu haben – und dabei den Rechtsstaat, die Institutionen und die Zivilgesellschaft vergessen zu haben, in die freie Wahlen eingebettet werden müssen – , hält Podhoretz ein paar Bush-Zitate vor, in denen eben davon die Rede ist. Aber was soll damit bewiesen sein? Doch wohl nur, daß Bush von den Voraussetzungen erfolgreicher Demokratisierung hätte wissen können – was das Desaster des heutigen Irak nur noch schlimmer macht.
Doch: Welches Desaster überhaupt, fragt Podhoretz? Das Land ist von einem der schlimmsten Tyrannen des Nahen Ostens befreit worden. Drei Wahlen wurden abgehalten. Eine anständige Verfassung wurde geschrieben. Eine Regierung ist im Amt, und vorher „unvorstellbare Freiheiten“ werden genossen: „Nach welcher bizarren Rechnung ist das ein Desaster?“

Es ist sicher richtig, auf die Erfolge hinzuweisen. Aber darum darf man doch nicht die Kosten verschweigen: Die tausenden Toten – täglich werden es mehr – kommen in Podhoretz‘ Rechnung nicht vor, der Haß zwischen Sunnis und Schiiten interessiert ihn nicht, auch nicht die Gefahr eines langen Bürgerkrieges im Irak, wenn die Amerikaner eines Tages abziehen.
Er kann sich den Gedanken nicht erlauben – der ja auch wirklich schrecklich ist – daß der Tyrannensturz nicht der „guten Gesellschaft“ zum Vorschein verholfen hat (wie in Osteuropa 89/90), sondern einstweilen den Kräften des Hasses und der Anarchie (siehe das Interview mit Hazem Saghieh auf dieser Seite).
Und vor allem kann er sich einen Gedanken nicht gestatten: Dass die Interventionen in Afghanistan und Irak dem Iran zu einer vormals unvorstellbaren Macht verholfen haben – also jenem Regime, auf das alles zutrifft, was im Falle des Irak an Lügen, Halbwahrheiten und Ahnungslosigkeiten verbreitet wurde, um den Krieg zu rechtfertigen. Iran bastels wirklich Massenvernichtungswaffen. Iran unterstützt wirklich den internationalen Terrorismus. Und es ist heute nicht mehr abzusehen, wie man es daran hindern kann, die Synergien beider Geschäftsfelder zu nutzen.
Statt diese Bilanz zu ziehen, geht der Ex-Trozkist Podhoretz in guter alter K-Gruppen-Manier die Reihen durch und straft alle ab, die sich zweite Gedanken über den Irakkrieg gestatten.
Was den Atomstreit mit Iran betrifft, ist die Marschrichtung für Podhoretz klar. Niemand solle sich durch Bushs Unterstützung der diplomatischen Versuche der Europäer blenden lassen: „Das Ziel, heute wie damals (vor dem Irakkrieg, J.L.), besteht darin, die Untauglichkeit der Diplomatie zu erweisen, wenn man es mit Leuten vom Schlage Saddam Husseins und der der iranischen Mullahkratie zu tun hat, und zu zeigen, daß die einzige Alternative zur Hinnahme der Bedrohung, die sie darstellen, militärische Aktionen sind.“
Im Klartext: Ein Krieg mit Iran muß her, und das Ziel der Diplomatie sind gar nicht die Mullahs selber, sondern die naiven (feigen) Europäer. Dass solche verbohrten Leute – die sich mit der häßlichen Wirklichkeit nicht beschäftigen wollen, sondern lieber gleich den nächsten Zaubertrick zur Verwandlung des Nahen Ostens aufführen wollen – immer noch das Ohr des Präsidenten haben, ist ein Alptraum. Gerade auch für unsereinen, der durchaus die Einschätzung teilt, daß es sich bei der Auseinandersetzung mit dem militanten Islamismus um einen Krieg um die Zivilisation handelt, der gut und gerne noch Jahrzehnte dauern kann.

 

England revidiert seine Integrationspolitik


Die britische Integrationsministerin Ruth Kelly („Community Secretary“) hat in einer Rede die Revision der Minderheitenpolitik angekündigt. Kelly fordert eine „neue und ehrliche Debatte über Integration und Zusammenhalt“.

Die Sprache ist noch sehr politisch korrekt, obwohl die Ministerin sagt, „wir dürfen uns nicht von politischer Korrektheit zensieren lassen, und wir dürfen auch nicht auf Zehenspitzen um wichtige Themen herumgehen“.

Sie glaube, heißt es in der Rede, „wir haben uns von einem gleichmäßigen Konsens über den Wert des Multikulturalismus hin bewegt zu einer Debatte, in der wir die Frage stellen dürfen, ob dieser (der Multikulturalismus) das Leben in getrennten Welten befördert.“

Und weiter: „Haben wir – indem wir unbedingt vermeiden wollten, eine einzige britische Identität und Kultur aufzuzwingen – am Ende voneinander isolierte Gemeinschaften befördert, zwischen denen es keine Bindungen gibt? Ich glaube, daß wir Diversität nicht mehr als ein Land erfahren, sondern als eine Ansammlung lokaler Gemeinschaften.“

Das ist alles noch sehr wolkig dahingesprochen, aber dennoch tut sich was: von „nicht verhandelbaren Regeln“ ist nun die Rede, und davon, daß man das Selbstvertrauen haben müsse „Nein zu sagen zu bestimmten Vorschlägen von partikularen ethnischen Gruppen“.

Das richtet sich eindeutig an die muslimische Community. Der Ärger über deren kaltschnäuzige Reaktion auf die vereitelten Anschläge – die schlichtweg auf die verfehlte Außenpolitik Blairs zurückgeführt wurden – sitzt tief.

 

Der Schuhbomber spricht

Der Anwalt Peter Herbert gewährt im Guardian von 24.8. erstmals Einblicke in die Gespräche, die er mit dem „Schuhbomber“ Richard Reid führte, der es im Dezember 2001 beinahe geschafft hätte, ein Flugzeug zwischen Paris und den Verienigten Staaten zum Absturz zu bringen. „Ich bin nicht verrückt, wie behauptet wird, ich wußte genau, was ich tat“, sagt Reid. „Natürlich hätte es mir leid getan, all diese Menschen sterben zu sehen aber ich wußte, daß meine Sache richtig und gerecht war. Es war der Wille Allahs, daß ich keinen Erfolg hatte.“

Reid spricht hier von den 184 Passagieren und 14 Crew-Mitgliedern des American Airlines Fluges 63. Hätte er es kurz nach dem 11. September vermocht, sein Attentat zu vollenden, wäre dies ein großer Triumph für Al-Kaida gewesen. Die Schockwellen über einen zweiten Angriff so kurz nach der Zerstörung der Twin Towers wären enorm gewesen.

Reid ist der Sohn zweier britischer Nicht-Muslime, einer weißen Mutter und eines jamaikanischen Vaters. Er hatte wegen einiger Überfälle in einem Londoner Gefängnis eine Jugendstrafe abgesessen, dort den Islam kennengelernt. Zu seiner Radikalisierung hat, wie Herbert schreibt, eine Kombination aus radikal-islamistischer Propaganda und Diskriminierungserfahrungen geführt.

Reid hatte in Brixton, Süd-London, den Prediger Scheich Abdullah el-Feisal gehört, und er saß auch dem mittlerweile verhafteten Abu Hamsa in der Finsbury Park Moschee zu Füßen. Diese Männer hätten ihm die letzte Gewißheit auf seinem Weg in den Dschihad gegeben, sagte Reid seinem Anwalt. Erst in diesem Jahr (!) wurde Abu Hamsas Treiben von den britischen Behörden – auf Grundlage der neuen Gesetze nach den Londoner Anschlägen von 7/7 – ein Ende gesetzt. Der britische Umgang mit Hasspredigern, das zeigt dieser Fall abermals, war absolut fahrlässig.

Reid war von den Hintermännern des Attentats mit einem weiteren jungen Briten, Saajid Badat, zur Attacke auf den Flug eingeteilt worden. Badat zog in letzter Minute zurück, Reid wollte das Attentat zuende zu bringen, wurde aber von Passagieren überwältigt, als er die Schuhbombe zu zünden versuchte. Der Führungsmann der beiden Attentäter, Nizar Trabelsi, verbüßt derzeit eine zehnjährige (!) Haftstrafe in einem belgischen Gefängnis, weil er geplant hatte, eine Nato Airbase zu bombardieren.

Peter Herbert widerspricht mit seinem Bericht allen Gerüchten, daß Reid verwirrt und geistig minder bemittelt sei. Herbert hatte 2002, nach seinem Besuch im amerikanischen Gefängnis seines Mandanten, den britischen Behörden mitgeteilt, daß er mit Reid gesprochen habe. Niemand aus der britischen Terror-Bekämpfung hat je mit Herbert das Gespräch gesucht, um die Mentalität des Schuhbombers verstehen zu lernen.