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Ein rechtsextremer Aussteiger über Einwanderung, Integration und Identität

Dann wieder ist das Internet doch eine feine Sache.

Am Freitag fand ich einen Verweis auf Facebook vor, dass sich ein gewisser Andreas Molau ausführlich mit meinem auch hier veröffentlichten Vortrag beim Berliner Integrationsforum auseinandersetzt. Herr Molau hat im letzten Jahr Aufsehen erregt, als er aus der rechtsradikalen Szene ausstieg. Er war zuletzt bei pro NRW aktiv, davor bei der DVU, und davor viele Jahre ein wichtiger Kopf der NPD. Seit er sich mithilfe eines Ausstiegsprogramms des Niedersächsischen Verfassungsschutzes aus der Szene abgesetzt hat, versucht Andreas Molau offenbar, sich auch politisch-geistig neu zu orientieren. Ein interessanter Vorgang. Ich kann nicht beurteilen, wie authentisch und ernsthaft Molaus Nachdenken über die Szene ist, aber seine Einlassungen zu meinem Artikel sind teilweise sehr bedenkenswert. Ich kann mir schwer vorstellen, wie es ist, sein halbes Erwachsenenleben in diesen Zirkeln zu verbringen und dann neu anzufangen. (Leute mit linksradikaler Vergangenheit wären da vielleicht näher dran.)

Zitat aus dem Artikel:

Als „Rechter“ war die Logik für mich klar und holzhammermäßig: Entweder „die“ passen sich an – und damit ist am Ende eher Assimilation gemeint –, oder sie verlassen eben das Land. In der extremeren Form rechter Ideologie, die rein biologistisch argumentiert, geht man noch einen Schritt weiter: Anpassungsbemühungen seien gar nicht notwendig, denn jeder, der fremd ist, sollte ohnehin in seine Heimat zurückkehren. Diese Position hat kaum vermittelnde Potenziale. Aber sie ist auch so abstrus, dass sie in einer offenen Debatte leicht widerlegt werden könnte.

Die so genannten Islamisierungskritiker erscheinen auf den ersten Blick erst einmal als gemäßigter im Gegensatz zu den klassischen NS-Freaks. Das war für mich auch der Grund, auf meinem Weg in den Ausstieg, es noch einmal mit der PRO BEWEGUNG zu versuchen. Im Gegensatz zur NPD ist der geistige Bezugspunkt solcher Bewegungen, ob es sich nun um die FREIHEIT handelt, PRO NRW oder pro Deutschland, nicht das Dritte Reich. Im Gegenteil, man sei antitotalitär, so die Außendarstellung, weil man sich gegen eine totalitäre Ideologie stelle, den Islam. Außerdem stehe man für die Bewahrung der Identität. Im Gegensatz zu Lau, der von einer Identität nichts wissen will, bin ich schon der Überzeugung, dass jeder Mensch mit sich selbst identisch sein muss – jedenfalls über Phasen – und dass auch Gruppenidentitäten an sich nichts Schlechtes sind, jedenfalls, wenn sie sich nicht zu stark ins Absolute hineinsteigern.

Letztlich musste ich aber feststellen, dass der politische Beitrag der „Rechtspopulisten“, um im Bild Laus zu bleiben, die Atmosphäre doch nur vergiftet und nichts, aber auch gar nichts an den Problemen im Land löst. Ich denke schon, dass sich auch Muslime kritische Fragen zu ihrem Glauben gefallen lassen müssen (dem Islam kann man ebenso wenig eine Frage stellen wie dem Christentum). Ebenso wenig hilft es, kritische Fragen über die Folgen der Einwanderung einfach auszuklammern oder noch schlimmer zu tabuisieren. Am Ende seines Textes attestiert Lau, dass es nicht gemütlich sei in Einwanderungsländern – sie seien auf allen Seiten voller Konflikte und Ressentiments –, „Ängste und Vorbehalte, Konflikte und Ressentiments darf man nicht wegdrücken, weil sie ,der falschen Seite‘ nutzen.“ Insofern kann man den Islamkritikern nicht sagen, sie dürften diese oder jene Frage nicht stellen.

Diese Frageverbote sorgen meiner Erfahrung nach am Ende sogar noch mehr für eine Verfestigung der extremen Positionen als für deren Aufweichung. Die Frage ist eben nur, welche Antworten man findet. Als Islamkritiker kennt man eine ganze Reihe von merkwürdigen Koranversen (die es aus unserer Sicht des 21. Jahrhunderts in der Bibel auch gibt), die die angebliche totalitäre Ideologie, die sich hinter der Religion verbergen solle, belegen sollen. Aber man kennt, und auch das ist meine Erfahrung, keinen Gläubigen persönlich. Diese selektive Wahrnehmung ist konstituierend für das Feindbild Islam. Und so sorgt der gesellschaftliche Ausschluss der Islamkritiker, dafür, dass man diese selektive Wahrnehmung gar nicht mit der Wirklichkeit abgleichen muss. Der Dialog ist also nicht nur vergiftet, es findet eigentlich gar keiner statt. Der ist nämlich beendet, wenn der amtliche Stempel „Rechtsextremist“ auf der Stirn prangt. Das ist schade, denn das Konfliktpotential wird sich so immer weiter verschärfen. Stattdessen sollte man auf jede Frage eingehen, die im Raume steht.

Bedroht „der Islam“ unsere Freiheit und unsere Identität? Freiheit und Identität sind für mich wichtige Begriffe, die aber weder von der NPD noch von PRO oder PI-News verteidigt werden. Neuerdings gibt es „identitäre Gruppen“, die sich mit Masken verhüllen und in gezielten Störaktionen die „multikulturelle Gesellschaft“ bekämpfen wollen. Wenn man sich so ein Aktionsfilmchen anschaut, dann ist man genauso ratlos wie nach den Demonstrationsberichten von PRO NRW oder pro Deutschland. Wo ist da etwas von der „deutschen Identität“ zu spüren? Welche politische Konsequenz soll man denn aus den Forderungen, eine Moschee nicht zu bauen oder der Kampfansage an die „multikulturelle Gesellschaft“  ziehen? Kein Mensch hindert die Islamkritiker, ihre Werte darzustellen und vor allem zu leben. Innerhalb dieser Szene habe ich davon aber in den zwei Jahren meiner Tätigkeit nichts bemerkt.

Es ist sicher so, dass es in Saudi Arabien nicht möglich ist, als Christ bekenntnisoffen zu leben. Das bedeutet für mich, dass ich dort sicher nicht meinen Wohnsitz aufschlagen möchte. Es mag auch so sein, dass es in Deutschland Menschen gibt, denen so eine Gesellschaftsordnung vorschwebt. Mit Sicherheit kann man die Freiheit aber nicht verteidigen, wenn man sie abwürgt und Andersgläubigen das Recht auf ein aktives religiöses Leben zu nehmen versucht. Denn weder ist die islamkritische Szene bereit, die Dinge differenziert zu betrachten, noch sind weite Teile ehrlich. Denn ihnen geht es im Kern nur darum, wie der NPD, einen ethnisch oder zumindest kulturell homogenen Staat schaffen zu wollen, in dem jede Art von Anderssein als Bedrohung empfunden wird.

Ich glaube, dass Molau mich falsch versteht, was den „deutschen Selbsthass“ angeht oder die Notwendigkeit einer Identität. Dazu habe ich vor vielen Jahren mal einen Versuch gemacht, der vielleicht deutlicher zeigt, wie ich es sehe: eine de facto multikulturelle Gesellschaft braucht eine Leitkultur, allerdings eine offene, variable, verhandlungsbereite.

Was den Patriotismus angeht, halte ich es mit dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty:

 „Nationalstolz ist für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den einzelnen: eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung. Zuviel Nationalstolz kann Aggressivität und Imperialismus erzeugen, genau wie übermäßiges Selbstgefühl zu Überheblichkeit führen kann. Doch zuwenig Selbstachtung kann den einzelnen daran hindern, moralischen Mut zu zeigen, und ebenso kann mangelnder Nationalstolz eine energische und wirkungsvolle Diskussion über die nationale Politik vereiteln. Eine Gefühlsbindung an das eigene Land – daß Abschnitte seiner Geschichte und die heutige Politik intensive Gefühle der Scham oder glühenden Stolz hervorrufen – ist notwendig, wenn das politische Denken phantasievoll und fruchtbar sein soll. Und dazu kommt es wohl nur, wenn der Stolz die Scham überwiegt […] Wer eine Nation dazu bringen möchte, sich anzustrengen, muß ihr vorhalten, worauf sie stolz sein kann und wessen sie sich schämen sollte. Er muß etwas Anfeuerndes über Episoden und Figuren aus ihrer Vergangenheit sagen, denen sie treu bleiben sollte. Einer Nation müssen Künstler und Intellektuelle Bilder und Geschichten über ihre Vergangenheit erschaffen. Der Wettbewerb um politische Führungspositionen ist zum Teil ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Vorstellungen von der Identität der Nation und verschiedenen Symbolen ihrer Größe.“

Hier das Schlussplädoyer aus meinem Essay, mit dem vielleicht auch Andreas Molau etwas anfangen kann:

Nicht nur die Rot-Grünen, sondern auch die Konservativen durchlaufen im Rahmen der Patriotismusdebatte einen Lernprozeß. Denn nicht nur der naive Multikulturalismus mancher Linken ist gescheitert, die sich Integration als einen Selbstläufer vorstellten. Wir zahlen auch einen hohen Preis dafür, daß die Konservativen ausdauernd abgestritten haben, daß Einwanderung längst Realität ist. Beide Versionen deutscher Wirklichkeitsverleugnung sind am Ende.

Eine demokratische, republikanische Leitkultur ist kein Gegensatz zur multikulturellen Gesellschaft, sondern die Voraussetzung ihres Funktionierens. Eine weltoffene Leitkultur kann den gemeinsamen Bezugspunkt für eine Gesellschaft bereitstellen, die ihre kulturelle Vielfalt als Bereicherung zu erkennen lernt, ohne dabei in Werterelativismus abzugleiten. Ihr Kanon muß immer wieder neu verhandelt werden, auch mit den jeweiligen Neuankömmlingen. Der Patriotismus der Berliner Republik darf, wenn er wirklich als „notwendige Bedingung zur Selbstvervollkommnung“ funktionieren soll, weder autoritär drohend noch biedermeierlich selbstzufrieden auftreten. Sonst kann er kein Gefäß für eine großherzige, inklusive, weltoffene Haltung sein. Aus demselben Grund – allerdings eigentlich schon aus Höflichkeit – verbietet sich der Rückfall in den nationalen Negativismus, diese Überwinterungsform des deutschen Größenwahns. Unser Selbstvervollkommnungspatriotismus muß Leit- mit Streitkultur verbinden und Selbstbewußtsein mit Ironie. Und damit die Sache nicht nur für uns selber, sondern auch für unsere Nachbarn und Neubürger attraktiv wird, wäre vielleicht ein bißchen Coolness nicht schlecht.

 

Das Ende des Konservatismus durch demographischen Wandel?

Im Anschluss an meinen Post über Obamas Dankesrede möchte ich eine Denksportaufgabe formulieren, vor der nicht nur die amerikanische Republikanische Partei steht – sondern auch die deutschen Christdemokraten, insofern sie sich überhaupt noch als „Konservative“ verstehen. Und das sind in der Wählerschaft immer noch viele, und auch unter den Protagonisten gibt es einige: Thomas de Maizière, Peter Altmaier, Volker Kauder zum Beispiel (jeder auf seine Art).

Wenn man sich auf die klügste mir bekannte Definition des Konservativen einigt, auf die 10 Prinzipien, die Russell Kirk formuliert hat, dann stellt sich die Frage, wie eine konservative Partei auf den demographischen Wandel reagieren und neue Mehrheiten aufbauen kann. Oder anders gefragt: Ob es eine mehrheitsfähige konservative Politik in einer unwiderruflich pluralistischeren, diversifizierten, multikulturellen Gesellschaft geben kann? Kann es eine konservative Regenbogenkoalition geben? Oder droht mit dem Wandel der Gesellschaft die Marginalisierung des organisierten Konservatismus und die permanente Mehrheit links der Mitte?

 

Hier die 10 Prinzipien Kirks – das sind aber nur die Überschriften. (Bitte den gesamten oben verlinkten Text lesen!)

First, the conservative believes that there exists an enduring moral order. That order is made for man, and man is made for it: human nature is a constant, and moral truths are permanent.

Second, the conservative adheres to custom, convention, and continuity.

Third, conservatives believe in what may be called the principle of prescription.

Fourth, conservatives are guided by their principle of prudence.

Fifth, conservatives pay attention to the principle of variety. 

Sixth, conservatives are chastened by their principle of imperfectability.

Seventh, conservatives are persuaded that freedom and property are closely linked.

Eighth, conservatives uphold voluntary community, quite as they oppose involuntary collectivism.

Ninth, the conservative perceives the need for prudent restraints upon power and upon human passions.

Tenth, the thinking conservative understands that permanence and change must be recognized and reconciled in a vigorous society.

Für die deutsche Christdemokratie stellt sich die gleich Frage wie für die Republikaner, obwohl Schwarzgelb noch regiert. Der Verlust der Städte, in denen die CDU einst stark, ja unanfechtbar war, ist das Krisensymptom, das zu denken geben muss, ob zukunftsfähige Koalitionen machbar bleiben.

Ich bitte um Beiträge, Anregungen, Ideen!

 

„You can make it here“

Ein wesentlicher Aspekt des Wahlsiegs ist die sich ändernde Demographie Amerikas. Wer darauf die richtigen Antworten findet, hat große Chancen das Land zu führen. Wer sich in Angst und Abwehr einmauert, wird dieses Land nicht regieren. (Das ist keine Frage von Rechts und Links: George W. Bush hatte bei den Latinos große Sympathien, weil er immerhin versucht hat, eine Einwanderungsreform zu machen, die Illegalen eine Chance auf Bürgerstatus eröffnet.)

Glaubt irgendjemand, dass in Deutschland nicht Ähnliches gilt? Aber wir haben noch keine Politiker, die den richtigen Ton für die Einwanderungsgesellschaft finden.

Das ging mir durch den Kopf, als ich diese Sätze aus Obamas Siegesrede hörte:

„What makes America exceptional are the bonds that hold together the most diverse nation on earth. The belief that our destiny is shared; that this country only works when we accept certain obligations to one another and to future generations. The freedom which so many Americans have fought for and died for come with responsibilities as well as rights. And among those are love and charity and duty and patriotism. That’s what makes America great. (…) I believe we can keep the promise of our founders, the idea that if you’re willing to work hard, it doesn’t matter who you are or where you come from or what you look like or who you love. It doesn’t matter whether you’re black or white or Hispanic or Asian or Native American or young or old or rich or poor, able, disabled, gay or straight, you can make it here in America if you’re willing to try.“

 

Kein Döner-Land in dieser Zeit

Werte Gemeinde, heute gibt es für Berliner Gelegenheit, unseren Mitblogger Cem Gülay mit seinem neuen Buch live zu erleben:

CEM GÜLAY & HAMED ABDEL-SAMAD & HANS RATH: KEIN DÖNER-LAND

„Kurze Interviews mit fiesen Migranten“ – Lesung + Diskussion

Mit seiner Autobiografie „Türken-Sam“ ist Cem Gülay
aufgrund seiner Auftritte und Lesungen zu einer Art
literarischem Sozialarbeiter geworden, mit dem alle
reden, Jugendliche und Erwachsene, Migranten und
„Bio-Deutsche“.
Daraus entsteht ein scharfes, manchmal satirisch
gefärbtes Bild vom Stand der Dinge nach Sarrazin.
Viel Kommunikation fand im Internet statt, politisch
korrekt und politisch unkorrekt. Auf der Seite PI
(www.pi-news.net) gab es 327 Kommentare zu Gülay,
von „Stoppt Tierversuche! Nehmt Türken!“ bis zu –
„Thilo sei Dank – anatolisches Inzuchtmännchen“.

Die Parallelwelten kann man nicht auflösen, man kann sie
nur ausdünnen. Zuerst muss man mal genau hinsehen.
Das gilt nicht nur für den Verfassungsschutz.

Präsentiert von: Hugendubel am Hermannplatz

EINTRITT
8 €

TICKETS
Tickethotline 030. 61 10 13 13

VVK im Heimathafen Neukölln Büro | Karl-Marx-Straße 141, Vorderhaus, 3. Stock
Infos 030. 56 82 13 33

VVK ohne Gebühr für ausgewählte Veranstaltungen im Heimathafen
Hugendubel am Hermannplatz | Mo. bis Sa. von 10 bis 20 Uhr

 

Zeig Deine Kippa! Juden müssen sichtbar bleiben, auch wenn sie angegriffen werden

Mein Kurzkommentar aus der ZEIT von morgen:

Der Rabbiner Daniel Alter wurde letzte Woche in Berlin-Friedenau vor den Augen seiner Tochter von vermutlich arabischstämmigen Jugendlichen zusammengeschlagen. »Bist du Jude?«, hatten sie ihn gefragt, nachdem sie seine Kippa gesehen hatten. Es kann hierzulande gefährlich werden, als Jude erkennbar zu sein.

Das ist ein schrecklicher Satz. Aber er stimmt – trotz der Renaissance des Judentums in Deutschland, von der die neuen Synagogen in unseren Städten zeugen.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin rät Eltern, ihre Kinder nicht mit Kippa in der Stadt herumlaufen zu lassen. Nicht nur vor dem einheimischen Hass der Neonazis, auch vor dem importierten islamisch eingefärbten Antisemitismus müssen sich Juden in manchen Quartieren in Acht nehmen. Die islamischen Verbände und die Moscheegemeinden müssen sich endlich damit auseinandersetzen, statt reflexhaft auf die verbreitete Islamfeindlichkeit zu verweisen, die auch schlimm sei. Manche muslimische Jugendliche wachsen in einer Monokultur auf, berieselt von judenfeindlicher Propaganda. Der Jude, den sie schlagen, ist vielleicht der erste, den sie je getroffen haben.

Solche Abschottung muss bekämpft werden, am besten von Juden, Christen, Muslimen und Atheisten gemeinsam. Denn auch die Mehrheit ringt schwer mit religiöser Differenz. Es entspricht nicht dem Selbstbild des liberalen Deutschland, doch unsere engherzigsten gesellschaftlichen Debatten kreisen ums Anderssein, das sich in Kopftüchern, Moscheebauten und Beschneidungen manifestiert. Eine religiös bunte Gesellschaft braucht aber ein entspanntes Verhältnis zur Sichtbarkeit des anderen.

Darum wäre es fatal, wenn Juden in Deutschland ihre Kippot nun unter Basecaps verstecken würden. Ein »Kippa-Flashmob« in Berlin, bei dem Hunderte – auch Nichtjuden – solidarisch mit Käppchen flanierten, war das richtige Zeichen.

Wenige Tage nach dem Angriff sagte Daniel Alter bei einer Demo – die Wange noch verbunden –, er habe zwar »das Jochbein gebrochen bekommen, aber meinen Willen, mich für den interreligiösen Dialog und die Verständigung von Völkern und Nationen einzusetzen, haben diese Typen nicht gebrochen«.

Daniel Alter ist ein Held. Er hat sich um ein besseres Deutschland verdient gemacht, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.

 

Die Türken gehören zu uns

Thierry Chervel vom Perlentaucher wirft in der Jüdischen Allgemeinen interessante Fragen auf, was die mediale Wahrnehmung der NSU-Terrorserie betrifft.

 

 Angela Merkel hat für die Regierung um Entschuldigung gebeten. Von einer vergleich- baren Zerknirschung in den Medien war nichts zu spüren. Inzwischen machen investigative Journalisten auf Reportageseiten und in Politikmagazinen hervorragende Arbeit. Aber wären nicht auch ein paar Fragen zu stellen, die gut ins Feuilleton passen?

VERDRÄNGUNG Wie kommt es eigentlich, dass auch die Medien vor der bestürzenden Nachricht keine Sensibilität für den Zusammenhang zwischen den Morden aufbrachten? Warum wurden die Thesen der Behörden einfach nachgebetet? Gab es nicht einmal die Arbeitshypothese Rechtsextremismus? Warum sind so wenige Journalisten auf Rechtsextremismus spezialisiert? Wie genau muss das Umfeld beschaffen sein, das über Jahre hinweg solche Taten möglich macht? Nicht nur das engere, sondern gerade auch das weitere?

Es könnte an mangelnder Empathie mit den Opfern liegen. Anders als Breiviks Tat zielten die Morde der Zwickauer Nazis nicht auf eine Institution dieser Gesellschaft, sondern auf die »anderen«. Die Morde nahmen ein Muster wieder auf, das schon nach dem Mauerfall für verlangsamte Wahrnehmung gesorgt hatte.

Es hatte auch nach Hoyerswerda, Rostock und Solingen monatelang gedauert, bis sich die Zivilgesellschaft zu Lichterketten zusammenschloss. Man hatte sich zunächst nicht zuständig gefühlt. Im Gegenteil: Vor diesen Pogromen hatte es aus den Mündern von Politikern aller Parteien höchst problematische Äußerungen in der Frage der Asylpolitik gegeben. Lange Zeit hatte sich das ganze Boot ziemlich voll gefühlt. Helmut Kohl achtete bis zum Schluss darauf, sich nicht mit den Opfern blicken zu lassen. Erst Richard von Weizsäcker handelte.

REIZ-REAKTIONS-SCHEMA Die Mordserie der Zwickauer Nazis lief auch deshalb unter der Wahrnehmungsschwelle, weil die Türken auch von großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft – trotz des stets ängstlich beschworenen »Respekts vor dem Islam« – nicht als dazugehörig betrachtet werden. Diese Taten sind die extreme Zuspitzung einer verbreiteten Mentalität.

Daraus wäre zu lernen, dass nicht in erster Linie »der Islam«, sondern die Türken und die Deutschen türkischer Herkunft zu Deutschland gehören. Die Zwickauer Nazis haben ihre Opfer nicht erschossen, weil sie anders an Gott glauben, sondern weil sie schlechterdings andere waren. Auch dies nimmt ein Muster der Pogrome und Morde nach dem Mauerfall auf, die auf alle zielten, die anders waren, Türken, Asylbewerber, Vietnamesen, Schwarze, Behinderte, Obdachlose.

Daran anschließend ließe sich fragen, ob Wulff besser hätte sagen sollen: „Auch die Deutschtürken gehören mittlerweile zu uns .“ Es ist tatsächlich ein Problem, dass wir die Fragen von Inklusion und Exklusion, Zugehörigkeit und Anderssein fast ausschließlich über das Thema der Religion verhandeln.

 

Meine ersten Türken

Der Vater hatte eine Bitte. Ob ich ihm dieses Blatt bitte fotokopieren konnte, und zwar zehn Mal? Sicher, warum nicht. Ich steckte es ein, ich wollte es in die Stadt mitnehmen, wo das Gymnasium war, und dann im Schweibwarengeschäft die Kopien machen.

Als ich meine Tasche packte, sah ich mir den Zettel an. Es war ein Spottgedicht über Türken darauf, handgeschrieben. Mein Vater hatte es von einem Bekannten bekommen.

Es war das Jahr 1980, und damit ein Zeitalter der Unschuld in den Beziehungen der Deutschen zu „ihren“ Türken. Zumal bei uns in diesem entlegenen, äußerst westlichen Winkel von Nordrhein-Westfalen. Auf unserem Dorf gab es nur eine einzige türkische Familie, die Duraks. Ali Osman war in meinem Alter, sein Name wurde rheinisch Allijossmann ausgesprochen. Sein Bruder Süleyman wurde Sleemann genannt.

Mit Spaniern und Italienern kannte man sich unterdessen aus, und man hatte sich über sie einigermaßen beruhigt (immerhin waren die doch alle gut katholisch). Türken aber waren immer noch relativ neu für uns, nicht nur auf dem Dorf. Günter Wallraff hatte noch nicht einmal angefangen mit seinem „Ali“-Buch.

Mein Vater war Bäckermeister, kein gebildeter Mann, aber auch nicht borniert. Er trieb mich und meinen Bruder als erste in der Familie aufs Gymnasium, er wollte nicht, dass wir auf dem Dorf versauerten. Er war in seinen Lehr- und Gesellenjahren weit herumgekommen. Nicht ganz freiwillig: Sein Teil unserer Familie kam aus dem „Osten“, aus dem heutigen Polen, aus Obergruppe (Gorna Grupa). Man war vertrieben worden am Ende des Krieges, man hatte alles verloren, Vaters Vater war irgendwo im Osten noch am Kriegsende eingesetzt worden und vermutlich gefallen.Wir haben es nie erfahren.

Der Verlust des Vaters und der Heimat hatte meinen Vater zu einem Anti-Nazi gemacht. Nie habe ich von ihm ein schlechtes Wort über die Polen gehört, die unseren Familienbesitz übernommen hatten. Es herrschte bei uns die stille Übereinkunft, dass man sich auch ohne individuelle Schuld über den Ausgang des Krieges nicht zu beklagen habe. Revanchistische oder revisionistische Töne habe ich von meinem Vater nie gehört. Wohl aber von meiner Großmutter, die es nie überwunden hatte, mit fünf Kindern alleine zur Flucht gezwungen worden zu sein. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mein Vater hatte keine Sympathien für die Hasstiraden meines Onkels Viktor, der seine schrecklichen Erlebnisse in Stalingrad und danach in russischen Lagern nicht anders als durch liebevoll gehegte Ressentiments gegen alles Nichtdeutsche, gegen „Linke“ und andere Vaterlandsverräter zu bewältigen wußte. Wie er Willy Brandt („Frahm, Frahm!“) hasste! Viktor flirtete mit Neonazi-Ideen, las gelegentlich die National-Zeitung und erschreckte uns Kinder mit Grausamkeiten aus dem Krieg. Mein Vater hat ihn dafür verachtet. Seine Lektion war das „Nie wieder“, was dazu führte, dass mein Entschluss zur Kriegsdienstverweigerung von ihm offen unterstützt wurde, obwohl er politisch entschieden rechts stand. Es war ihm physisch unmöglich, etwas anderes als die Union zu wählen, und was er damit meinte war die offen konservative Linie der Dregger, Kanther, Barzel, Strauss. Dass sein Sohn nicht zur Bundeswehr wollte, begrüßte er dennoch ausdrücklich. Schluß mit dem ganzen Horror, die Deutschen haben auf ewige Zeiten genug Blut vergossen, das war meines Vaters Geschichtslektion. (Später konnten wir uns nicht einigen, als ich für eine Intervention auf dem Balkan eintrat.)

Ich erzähle das, um meinen Schock zu verdeutlichen, als ich dieses widerwärtige Antitürkengedicht in Händen hielt. Vater wollte es in unserer Bäckerei unter den Gesellen verteilen, damit man etwas zu lachen haben würde. Ich weiß nicht mehr genau, was mir im Kopf herumging. Aber schließlich habe ich ihm gesagt, dass ich ihm diese Kopien nicht machen werde. Das hat ihn kalt erwischt, und er wurde sehr wütend. Er schrie mich an. Ich weigerte mich abermals. Es war unser erster wirklich heftiger politischer Streit.

Wir waren selber Fremde auf diesem Dorf. Mein Vater war als Habenichts hierhergekommen und hatte sich hochgearbeitet. Die Ostflüchtlinge wurden nicht herzlich aufgenommen. Sie hatten eine andere, fremde Religion (naja, ob es wirklich eine war oder nicht nur eine Form der Dekadenz, da gingen die Meinungen auseinander), den Protestantismus. Ein Onkel aus der einheimischen katholischen Linie meiner Mutter ermahnte mich einmal, ich solle sehr nett zu den Nachbarskindern sein, sie hätten es nicht leicht: „Die Eltern wählen SPD, sind evangelisch und wollen sich scheiden lassen.“ Das eine Unglück folgte logisch aus dem anderen.

Mein Vater war gezwungen, zum Katholizismus zu konvertieren, um meine Mutter, ein katholisches Dorfmädchen, heiraten zu können. Man fürchtete, dass „Mischehen“ (so nannte man interkonfessionelle Paare damals) die Kinder in völliger Haltlosigkeit würden aufwachsen lassen. Wir hatten ein gutes Leben dort auf dem Dorf in der Eifel, aber wir blieben Fremde. Ich bin mit 18 von dort weggegangen, und mein Weg hat mich halb wieder in den Osten zurückgeführt, und schließlich bin ich sogar zum Protestantismus zurückkonvertiert, den mein Vater aufgegeben hatte. Auch mein Bruder hat das Dorf verlassen. In anderen Worten: Wir waren Fremde, wir blieben Fremde, wir hatten einen Migrationshintergrund. Über die Sprache meiner Oma mit ihren vielen polnisch-jiddisch-westpreußischen Floskeln machte man sich lustig. Sie zahlte es heim, indem sie die „Mischpoche“ heimlich verfluchte. Von den deutschen Menschen aus dem Osten schienen viele zu denken, dass die einer niederen Kultur entsprungen waren.

Ich habe meinen Vater erst sehr viel später als den Flüchtling gesehen, der er bis zu seinem Lebensende geblieben ist, trotz Mitgliedschaft im Schützenverein und Eigenheim. Damals, als ich dieses Gedicht kopieren sollte, habe ich seinen Wunsch, sich auch einmal über andere Neuankömmlinge lustig zu machen, nicht in diesem Zusammenhang gesehen. Heute möchte ich mir das so zurecht legen. Wir haben nie wieder von dieser Sache gesprochen. Es war ihm, scheint mir, unendlich peinlich. Er wußte, dass ich Recht hatte, dass mein Impuls, dieses Spottgedicht nicht zu kopieren, der richtige war. Er hat es auch nicht selber kopiert.

Als ich kurz nach dem Vorfall an meiner Schule einen Arbeitskreis gegen die bei uns sehr starke Neonazi-Gruppe „Wiking Jugend“ gründen half, hat er mich rückhaltlos unterstützt.

Süleyman Durak wurde wenige Jahre später Mitglied im Verein der St. Sebastianus Schützen Vicht, und wenn ich mich recht erinnere, hat er es sogar zum Schützenkönig gebracht.

Ich hatte diese ganze Geschichte vergessen. Am letzten Donnerstag fiel sie mir wieder ein, als ich Ismail Yozgat bei der Feier in Berlin reden hörte. Sein Sohn Halit war von den NSU-Killern umgebracht worden. Es war das erste Mal, dass die gesamte deutsche Öffentlichkeit einen dieser Einwanderer der ersten Generation zur besten Sendezeit reden hörte, einen dieser stummen Menschen, über die zwar viel, mit denen aber bis heute nicht geredet wird.

Yozgat spricht kein Deutsch, er ist in seiner Generation einer von Hunderttausenden, einer wie der Herr Durak aus unserem Dorf. Nun saß er neben der Bundeskanzlerin, die mit ihrer DDR-Vita in ihrem Milieu auch eine Art Einwanderin ist. Ismail Yozgats Sohn sprach nicht nur Deutsch, er hatte auch wirtschaftlichen Erfolg mit seinem Internetcafé, bis seine Mörder plötzlich seinem Leben ein Ende setzten.

Er wolle keine Kompensation, sagte Herr Yozgat, das Geld solle besser in eine Krebsstiftung gesteckt werden. Er wünsche sich die Umbenennung der Straße, in der sein Sohn aufgewachsen war und schließlich ermordet wurde, in Halit-Straße. Er glaube an die deutsche Justiz.

Es ist schade, dachte ich in diesem Moment, dass mein Vater das nicht mehr hat sehen können. Ismail Yozgat hätte auch ihn beeindruckt.

 

 

 

Nach Wulffs Rücktritt: Was Angela Merkel den NSU-Opfern sagen muss

Christian Wulff, der am Freitag zurückgetreten ist,  hatte sich das Thema des inneren Zusammenhalts der Einwanderungsgesellschaft als Schwerpunkt ausgesucht. Er hatte mit seinem Satz über den Islam etwas Richtiges getroffen. Auch die Reaktion seiner Gegner, teilweise aus der eigenen Partei, ja aus dem Kabinett (Friedrich) hat das bewiesen.

Dass er nun erkannt hat (wenn auch erst durch die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens!), dass er nicht mehr der Richtige ist für den Job des Präsidenten und für diese Mission, ist zu begrüßen. Es ging einfach nicht mehr.

In seinem Statement sagte er:

Es war mir ein Herzensanliegen, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu stärken. Alle sollen sich zugehörig fühlen, die hier bei uns in Deutschland leben, eine Ausbildung machen, studieren und arbeiten, ganz gleich, welche Wurzeln sie haben. Wir gestalten unsere Zukunft gemeinsam.

Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft am besten entfalten und einen guten Beitrag zur europäischen Einigung leisten kann, wenn die Integration auch nach innen gelingt.

Wulff hätte gerne am kommenden Donnerstag die Trauerfeier für die Opfer der NSU-Mordserie geleitet. Nun wird die Bundeskanzlerin seine Aufgabe übernehmen und dort sprechen. Einfach wird das nicht. Aber es ist gut, dass die Kanzlerin selber in die Lücke geht und ein Zeichen setzt.

Es wird nämlich unterschätzt, wie erschüttert viele türkische Deutsche von dieser Mordserie, vom Versagen der Behörden und der Medien („Dönermorde“) bis heute sind. Schon die letzten Jahre einer zunehmend als Demütigung und Kujonierung empfundenen „Integrationsdebatte“ haben viel Schaden angerichtet. Der Erfolg des Buchs von Thilo Sarrazin wurde als eine Abstimmung gegen Türken an der Ladenkasse empfunden. Mehrere türkische Bekannte haben mir erzählt, dass sie in Folge dieser Debatte Freunde verloren haben. Es wurde nicht verstanden, dass sie Sarrazins Buch und seine Interventionen – von den „Kopftuchmädchen“ über die „Gemüsehändler“ bis zu den „belgischen Ackergäulen“ als persönliche, ehrabschneidende Angriffe empfanden. Und dass die breite Zustimmung der Bevölkerung die Sache erst recht schlimm machte.

Die Enthüllung über die Mordserie kam noch dazu. Ohnehin angeknackstes Vertrauen war nun bei vielen ganz dahin: Die Hinrichtung von Türken, wie sich nun herausstellte, durch Neonazis, war jahrelang den Opfern und ihrem mutmaßlichen „Milieu“ zugeschrieben worden. Im Begriff „Dönermorde“ schien der antitürkische Rassismus zu sich zu kommen.

Gerade bei gut ausgebildeten und erfolgreichen deutschen Türken trifft man derzeit auf eine Mischung aus enttäuschter Liebe zu ihrer Heimat, auf Wut, Trauer und allgemeine Aufgewühltheit, in einem Maß, dass einem Angst um dieses Land und seinen Zusammenhalt machen kann.

Wir verlieren gerade die Besten. Auch die, die nicht weggehen, schließen innerlich mit Deutschland ab.

Wulff wurde fast schon bis über das Maß des Möglichen vonseiten der türkischen Community verteidigt. Man sah ihm sehr viel nach wegen des einen richtigen Satzes über den Islam. Es gab sogar Verschwörungstheorien, dass Wulff wegen dieses Satzes gehen musste. Darauf reagiert nun der Zentralratsvorsitzende der Muslime, Ayman Mazyek, sehr besonnen:

Wir haben uneingeschränktes Vertrauen in unser Rechtssystem. Und jeder in unserem Lande muss sich diesem gegenüber auch im Bedarfsfall stellen, auch ein Bundespräsident.

Ich teile die Verschwörungstheorie einiger in unserer Commnunity ausdrücklich nicht, wonach Herr Wulff wegen seinen Aussagen zum Islam den Hut nehmen musste.

Wohl aber sollte man sich fragen, wie es denn zu diesen Theorien kommen kann. Warum fühlen sich manche so alleingelassen und so unerwünscht, dass ihnen derartige Theorien plausibel vorkommen?

Ob es etwas mit dem zunehmend enthemmten und verhetzten Klima in vielen Internetforen zu tun hat – auch hier bei mir kann man das ja immer wieder beobachten, wenn ich bestimmte „islamkritische“ Flashmobs wecke.

Die Bundeskanzlerin macht gerade selbst die Erfahrung. Sie hat zu einem „Zukunftsdialog“ per Website eingeladen – und das Ergebnis ist, dass das Thema Nummer eins in der Kategorie „Wie wollen wir zusammenleben?“ dieses hier wurde:

„Islamkritik wird pathologisiert und kriminalisiert!“ Das ist das Topthema der internetaktiven Deutschen. Es erhält auf der Website der Bundeskanzlerin die meisten Stimmen. Nummer zwei ist die Legalisierung von Cannabis. Also sollte man das vielleicht nicht zu ernst nehmen?

Doch. Darum bin ich auf den kommenden Donnerstag gespannt. Es ist gut, dass Angela Merkel nicht den Bundestagspräsidenten Lammert („Leitkultur“) oder – Gott bewahre – den Bundesratspräsidenten Seehofer („sträuben bis zur letzten Patrone gegen Zuwanderung in die Sozialsysteme“) am Donnerstag reden lässt.

Dies hier ist Chefsache. Hat die Kanzlerin endlich verstanden, dass etwas geschehen muss?

Die Opfer der Mordserie brauchen ein klares Signal, dass Deutschland mit ihnen fühlt, dass wir dem Eindruck entgegentreten werden, dass die Institutionen des Rechtsstaates nicht jeden Bürger gleichermaßen schützen, und schlicht: dass sie zu uns gehören.

Es geht um eine Geste der Empathie.

Die träge Mehrheit im Land braucht auch ein Signal: Es gibt Rassismus in diesem Land, meinetwegen kann man es auch „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennen.

Die Bundeskanzlerin muss auf die beschämende Tatsache reagieren, dass Politik, Medien und Sicherheitsorgane eine Dekade lang nach dem Motto „blame the victim“ vorgegangen sind. Etwas ist faul in diesem Land. Zeit es anzusprechen.

Helmut Kohl hat sich seinerzeit  geweigert, die Opfer des Solinger Brandanschlags von 1993 durch seine Anwesenheit bei der Trauerfeier zu ehren. Er denunzierte die Anteilnahme als „Beileidstourismus“. Merkel kommt nun ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt, wenn auch durch den Zufall des Wulffschen Rücktritts. Sie sollte das als Chance begreifen, nicht als lästige Pflicht.

 

Wilders weitet seinen Rassismus aus

Ich begrüße, dass Geert Wilders seinen Rassismus universalisiert. Zur Zeit sorgt eine Website seiner „Partei für die Freiheit“ für Aufsehen, die sich als „meldpunt“ (Meldestelle) für „Mittel- und Osteuropäer“ anbietet:

Heeft u overlast van MOE-landers? Of bent u uw baan kwijtgeraakt aan een Pool, Bulgaar, Roemeen of andere Midden- of Oost Europeaan? Wij willen het graag horen.

„Werden Sie von Mittel- und Osteuropäern belästigt? Oder haben Sie ihren Job an einen Polen, Bulgaren oder Rumänen oder andere Mittel- und Osteuropäer verloren? Wir wollen davon gerne hören.“

Nun haben 10 Botschafter betroffener Länder protestiert. Das ist verständlich, wird aber wenig Folgen haben, weil Mark Ruttes Minderheitsregierung von Wilders Duldung abhängt.

Interessant ist die Sache als Symptom der Transformation des Rechtsextremismus. Das Massaker von Utoya hat der islamophoben Ausrichtung gewisse politische Grenzen aufgezeigt. Die EU- und Euro-Krise eröffnet eine andere mögliche Front: Agitation gegen das Europa der 27 (und der 17). Aberwitzig ist es schon, dass Wilders unter dem Banner der „Freiheit“ gegen die Freizügigkeit der Arbeitskräfte in der EU agitiert.

Für jeden wahren Wirtschaftsliberalen ist Freizügigkeit im Gegenteil doch ein Kernbestandteil eines wiedervereinigten Europas ohne Mauern. Ein Grund der Strukturprobleme des europäischen Wirtschaftsraums ist mangelnde Beweglichkeit des Faktors Arbeit (im Vergleich mit den USA, wo sich regionale Krisen durch Wanderung leichter ausgleichen können).

Wilders interessiert sich für solche Dinge überhaupt nicht. Er ist ein Protektionist mit rassistischem Einschlag. Die muslimischen Migranten drängten sich nach 9/11 und van Gogh als Hauptgegner auf. Aber die Agitation in diese Richtung stößt nun an ihre Grenzen.

Muslime bleiben zwar mit Sicherheit aus ideologischen Gründen die Hauptgruppe, an der er sich auch in Zukunft abarbeiten wird. Aber Osteuropäer sind ihm nun eben auch recht. Überall in West- und Nordeuropa sind tief verankerte Stereotypen über die „Ostmenschen“ mit ihrer „kriminellen Ader“ und ihrer „niederen Kultur“ immer noch leicht abrufbar.  Man betrachte die zitierten holländischen Headlines auf der Website: „Osteuropäer immer kriminieller“, „Schamlose Diebe“, „Könnt ihr nicht lieber zurückkehren“.

Weil die Regierung Rutte Wilders bisherige Agenda schon weitgehend übernommen hat, nutzt sich seine Anti-Islam-Pose zusehends ab. EU und Euro sind also die nächste Arena für seine Polemik. (Ein deutscher Erfolgsautor bereitet dem Vernehmen nach auch ein neues Buch auf diesem Feld vor.)

Ich begrüße diese Ausweitung der Kampfzone, weil damit deutlich wird, dass Wilders nicht das Problem der Muslime und ihrer Vertreter ist. Er ist eine Herausforderung für alle Europäer, denen etwas an der Freiheit liegt.