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Seehofer: Bis zur letzten Patrone gegen Zuwanderung

Nein, Horst Seehofer hat bei seiner Aschermittwochsrede nicht damit gedroht, auf „Zuwanderer in die Sozialsysteme“ zu schießen.
Er hat lediglich gesagt, er werde sich in der Berliner Koalition „bis zur letzten Patrone“ dagegen wehren, dass „wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen“. Schießen wird Horst Seehofer also, wenn man ihn beim Wort nimmt, vorerst nur auf den Koalitionspartner, wie es ja übrigens auch seit Jahrzehnten gute Sitte unter den Unionsparteien und vor allem zwischen FDP und CSU ist.
Trotzdem ist diese Äußerung des Parteivorsitzenden eine ungeheuerliche Entgleisung der politischen Rede in diesem Land. Die Metaphorik des bewaffneten Kampfes gegen Einwanderung in Stellung zu bringen, bedeutet eine unverantwortliche Eskalation des Diskurses.
Es war einmal ein Grundsatz des aufgeklärten Konservatismus, dass „Ideen Konsequenzen haben“. Dass es auf einen verantwortlichen Umgang mit Worten und Parolen ankommt.
Als die Linke in den sechziger und siebziger Jahren begann, mit dem radical chic der Gewalt zu flirten, haben Konservative zu Recht vor den Konsequenzen gewarnt: Redet nur lange genug von „Bullenschweinen“, vom „System“ und seinen „Charaktermasken“ und dem legitimen „Widerstand“ dagegen – und bald wird irgendwer schießen. So ist es dann ja auch gekommen: Die Enthemmung der Gedanken ging dem politischen Morden voraus.
Horst Seehofer hat nun die Metaphorik bewaffneten Widerstands gegen Einwanderung bierhallenfähig gemacht. Was wird er sagen, wenn demnächst irgendjemand schießt und sich auf ihn beruft?

Es ist ein Skandal. Man stelle sich mal vor, der viel kritisierte Erdogan hätte in seiner Rede in Düsseldorf gesagt, er werde bis zur letzten Patrone für die türkische Identität kämpfen? Es hätte zu Recht einen Aufruhr gegeben.
Die rechte Mitte ist auf einer abschüssigen Bahn. Sie ist dabei, ihre Funktion aufzugeben, rechtsextreme Tendenzen zu neutralisieren und zu bekämpfen. Sie füttert sie jetzt munter mit an.
Wo ist der Aufschrei der Kirchen gegen die inhumane Rhetorik des christsozialen großen Vorsitzenden? Es ist ein Skandal, dass sich kaum jemand darüber aufregt.

 

Immer Ärger mit Erdogan

Als ich vor fast einem Jahr in den Moscheen des Ruhrgebiets (mit Sigmar Gabriel) unterwegs war, bestimmte auch gerade eine Äußerung des türkischen Premiers Erdogan die Schlagzeilen. Er hatte in einem Interview mit der ZEIT gefordert, „türkische Gymnasien“ in Deutschland zu errichten.

Nun scheinen die ungebetenen integrationspolitischen Interventionen Erdogans eine Tradition zu werden. In Düsseldorf hat er vor wenigen Tagen Aufmerksamkeit gefunden mit seiner Forderung, Kinder sollten erst Türkisch lernen, dann Deutsch. Und wie bereits vor einigen Jahren polemisierte er auch wieder gegen „Assimilation“ und suggerierte, den Türken solle ihre Kultur genommen werden als Preis für die Integration (die Erdogan befürwortete).

Vor einem Jahr in den Moscheen war eine sehr gesunde Reaktion der türkischen Community zu beobachten, wenn man sie auf Erdogans Forderungen ansprach: Was denkt dieser Typ, wer er ist – und wer wir sind? Er ist für uns nicht zuständig, er soll sich raushalten. Vural Öger sagte in der Moschee in Oberhausen:

“Wir wollen keine Diasporatürken in der dritten und vierten Generation. Ankara soll sich hier gefälligst nicht mehr einmischen. Wie lange soll das noch weitergehen? Bis zur 5. Generation? Das macht die Identitätskrise der Menschen hier nur noch schlimmer, wenn sie als Stimmvieh der türkische Politik behandelt werden. Es wäre keine Schande, sondern ein Grund zum Stolz, wenn junge Leute hier besser Deutsch als Türkisch könnten. Seid endlich Deutsche – mit einem großen türkischen Herzen!”

Das wäre immer noch der passende Kommentar zu Erdogans erneuter populistischer Wahlkampftour.

Man wird solche abweisenden Äußerungen aber immer seltener hören. Und das liegt an dem katastrophal gewandelten Klima in unserer Gesellschaft. Unsere Debatte des letzten Jahres hat Erdogans Erfolg bei seinen Landsleuten den Boden bereitet. Er surft auf dem Gefühl der Menschen, nicht angenommen zu sein und niemals angenommen zu werden, weil sie Türken und Muslime sind. Die allzu berechtigten Retourkutschen gegen seine Anti-Assimiliations-Rhetorik (Was ist mit den Kurden, den Aleviten, den Christen in der Türkei?) verfangen so kaum. Denn es gibt eine Wagenburg-Mentalität unter vielen Türken, ja selbst unter den Musterbeispielen der Integration. Auch diejenigen, die mit Erdogan nichts am Hut haben, sind frustriert, enttäuscht, wütend über das türkenfeindliche Klima hierzulande. Es hilft nichts, dass auch darin viele Übertreibungen sind: So etwas hat fatale Folgen für ein Einwanderungsland.

Das Wort Integration ist so weit heruntergewirtschaftet worden, dass es gerade die Besten nicht mehr hören können. Es liegt ein Hauch von Schikane, Überheblichkeit und Resentiment in der Rede von der Integration.

Und die reflexhaften Reaktionen auf Erdogan schüren dieses Gefühl weiter. Der Herr Dobrindt von der CSU mit dem bizarr überzeichnenden Satz etwa, der Auftritt Erdogans habe die Integrationsbemühungen „um Jahre zurückgeworfen“. Welch eine Bigotterie. Erdogan ist ein geschickter Vertreter des gleichen religösen Rechtspopulismus, dem auch die CSU anhängt, wenn es um die Heimat und das kulturell-religiöse Erbe geht. Erdogan geht ganz einfach in die Lücke, die ängstliche deutsche Politiker offen lassen, weil sie die Türken nicht als eine zu umwerbende Wählerschaft wie jede andere Gruppe behandeln. Warum mieten deutsche Politiker sich nicht einmal eine Halle und laden die Türken ein und reden zu ihnen? Warum appellieren  Merkel, Steinmeier, Gabriel, Özdemir oder Westerwelle nicht an den Stolz der Deutschtürken, wie es Erdogan tut?

Das erste, was ihnen einfällt, ist die Replik, Türkisch als erste Sprache sei nicht gut, das müsse bitte Deutsch sein. Das ist einfach Humbug: Das Problem der jungen Bildungsversager ist nicht, dass sie zuerst Türkisch lernen, sondern dass sie nicht einmal ordentlich Türkisch lernen. Ist Türkisch eine schlechtere Sprache als Französisch oder Italienisch oder Polnisch? Käme irgendjemand auf die Idee, italienischen, französischen oder polnischen Eltern reinzureden, sie sollten ihren Kindern zuerst Deutsch beibringen? Der Appell sollte lauten: Bringt euren Kindern gutes Türkisch bei, lest mit Ihnen Kinderbücher, sprecht mit Ihnen über die Schule, ladet deutsche Nachbarskinder ein, bringt sie in den Kindergarten.

Jetzt wird Erdogan seine Ambivalenz vorgehalten, seine „vergiftete Liebeserklärung“ für die hiesigen Türken. Leider ist die Botschaft der hiesigen Politik und der gesellschaftlichen Debatte genauso voller Ambivalenz und Gift. Und das ist – es tut mir leid – das größere Problem – denn nicht Herr Erdogan ist politisch verantwortlich für den Erfolg/Mißerfolg der Türken hier, sondern dieselben deutschen Politiker, die ihn kritisieren. Politisch, wohl gemerkt: Denn ein Hauptproblem von Deutschen und Türken – da haben sie mal was gemeinsam – ist ihre Staatsverliebtheit. Beide Völker mit ihren obrigkeitstaatlichen Traditionen erwarten viel zu viel vom Staat und zuwenig vom einzelnen Bürger. Türken und Deutsche  fragen zuviel, was das Land für sie und zu wenig, was sie für das Land tun können. Da haben sich zwei gefunden!

Ein Problem ist, dass die Deutschtürken von zwei Seiten mit mixed messages beschossen werden: Erdogan sagt: Integriert euch, aber assimiliert euch nicht (als gäbe es da akademisch anerkannte feine Grenzen). Die deutsche Gesellschaft kommuniziert: Wir sind ein Einwanderungsland, aber ihr seid die falschen Einwanderer.

Wenn man einem national-religiösen Populisten wie Erdogan etwas entgegensetzen will, muss man ein klare und selbstbewusste Botschaft haben:  Lass diese Leute in Ruhe. Die gehören zu uns. Sollen sie mit Ihren Kindern Türkisch sprechen! Aber gutes Türkisch muss es sein, damit darauf dann gutes Deutsch und Englisch aufbauen können.

 

In eigener Sache

Ich bin derzeit viel unterwegs, um über den Antisemitismus zu recherchieren, der jüdischen Gemeinden überall in Europa – zum Beispiel in Malmö, Amsterdam und Budapest zu schaffen macht. Zum Bloggen komme ich da kaum. Demnächst mehr von den interessanten, teils auch ziemlich erschütternden Begegnungen auf diesen Reisen.

In der Zwischenzeit sei auf zwei englischsprachige Veröffentlichungen meiner Sachen verwiesen, die recht frisch sind. Reset (das italienische Magazin) hat meinen Kommentar zu dem Massaker an Kopten gebracht. Und die englischsprachige Version der „Internationalen Politik“ hat einen Blogbeitrag (extended und remixed) für druckwürdig befunden (hier online).

 

Tariq Ramadan: Migranten sind keine Opfer

Ich habe mit Tariq Ramadan ein Interview über die europäische Islam-Debatte geführt. Ich finde die Klarheit, mit der er ein Bekenntnis der Muslime zu Europa fordert und auch um Verständnis für die Irritation der Alteingesessenen wirbt, bemerkenswert. Über die Jahre habe ich mich immer wieder mit Ramadan auseinandergesetzt. Ich finde seine Entwicklung seit der Istanbuler Erklärung von 2006 ziemlich erfreulich.

Ramadan ist seit kurzem Professor für zeitgenössischen Islam am St. Antony’s College in Oxford. Dort habe ich ihn vor zwei Wochen besucht.

DIE ZEIT: Professor Ramadan, in Europa macht sich eine Stimmung gegen den Islam breit. Minarette, Burkas und Kopftücher werden verboten. Deutschland debattiert über integrationsunwillige Muslime. Warum diese Zuspitzung?
Tariq Ramadan: Unsere westlichen Gesellschaften sind verunsichert durch die Globalisierung. Auch die Einwanderungsströme gehören dazu. Aber entscheidend ist das Sichtbarwerden des Fremden. Darum erregen sich die Leute über Moscheebauten, Minarette, Kopftücher, andere Hautfarben, Sprachen und Gerüche in ihren Vierteln. Wenn gegen die angebliche Islamisierung der Städte protestiert wird, geht es um die Sichtbarkeit einer fremden Religion, die dazugehören will. Das ist neu. Solange das Fremde nicht dazugehört, kann man leichter damit leben.
ZEIT: Seit Jahren leben wir mit der Terrordrohung im Namen des Islams.

Foto: Martin Bureau, Getty Images

Ramadan: Gewalt im Namen der Religion vergiftet die Debatte. Wir Muslime können die Augen nicht davor verschließen, dass dies die Wahrnehmung des Islams beeinflusst. Doch handelt die Islam-Debatte von unserer europäischen Identität. Sie ist hochpolitisch: Auf dem ganzen Kontinent bilden sich Parteien, deren Wahlerfolg davon abhängt, Misstrauen zu schüren. Sie füttern das Gefühl der Verunsicherung, man könne nicht mehr Deutscher oder Niederländer sein wegen dieser Einwanderer.
ZEIT: Der deutsche Präsident hat gesagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Er wurde angegriffen, auch aus dem eigenen Lager.
Ramadan: Diese Identitätsfragen übersteigen die Bindungskraft der politischen Lager. Sie können heute Menschen auf der Linken finden, die sehr scharf gegen den Multikulturalismus polemisieren, und auf der Rechten gibt es welche, die einer pluralistischen Gesellschaft offen gegenüberstehen. Ihr Präsident hat etwas Offensichtliches festgestellt: Wenn es Millionen von Muslimen in Deutschland gibt, ist der Islam natürlich auch eine deutsche Religion. Der Islam ist eine europäische Religion, er ist ein Teil von Europas Geschichte und Gegenwart. Er ist nicht das ganz andere, er ist für Europa nichts Äußerliches mehr, bei sieben Millionen Muslimen in Frankreich, drei Millionen in England, vier in Deutschland.
ZEIT: Ebendies macht vielen Angst. Wie kommt man vom Hiersein zum Dazugehören?
Ramadan: Es hilft nicht, wenn sich die Haltung breitmacht: Was auch immer diese Leute tun, sie können nicht zu uns gehören, denn ihre Werte sind nicht die unseren, ihre religiösen Dogmen und Praktiken sind anders. Den Muslimen sage ich: Ein Bürger zu sein bedeutet nicht nur, die Gesetze zu achten und die Sprache zu sprechen. Ich muss loyal zu meinem Land stehen, weil ich das Beste für es will. Nur so wird die Wahrnehmung eines unlösbaren Konflikts zwischen Muslimsein und Europäertum verschwinden. Weiter„Tariq Ramadan: Migranten sind keine Opfer“

 

Multikulturalismus funktioniert

Jedenfalls in Kanada, das doch auch hierzulande jetzt immer wieder als Modell herumgereicht wird (Punktesystem…). Kanada hat sogar einen Minister für „Citizenship, Immigration and Multiculturalism“.

Die Voraussetzungen des Funktionierens beschreibt ein interessantes Stück aus der NYT über den Fall Manitoba: ein selektives Einwanderungsgesetz und unerbittliche Menschenfreundlichkeit gehören in Kanada zusammen.

In Kanada gibt es – unfasslich für unsere Breiten – einen Wettbewerb der Provinzen darum, wer mehr Migranten aufnehmen darf. (Hat natürlich auch geografische Gründe, die riesige Landmasse, kaum illegale Einwanderung durch die Grenzlage zu USA  etc… Aber was dem einen die Geografie, ist dem anderen die Demografie…)

Dabei geht es keineswegs nur um die höchst qualifiizierten Einwanderer, sondern auch um Handwerker und LKW-Fahrer:

Rancorous debates over immigration have erupted from Australia to Sweden, but there is no such thing in Canada as an anti-immigrant politician. Few nations take more immigrants per capita, and perhaps none with less fuss.

Is it the selectivity Canada shows? The services it provides? Even the Mad Cowz, a violent youth gang of African refugees, did nothing to curb local appetites for foreign workers.

“When I took this portfolio, I expected some of the backlash that’s occurred in other parts of the world,” said Jennifer Howard, Manitoba’s minister of immigration. “But I have yet to have people come up to me and say, ‘I want fewer immigrants.’ I hear, ‘How can we bring in more?’ ”

This steak-and-potatoes town now offers stocks of palm oil and pounded yams, four Filipino newspapers, a large Hindu Diwali festival, and a mandatory course on Canadian life from the grand to the granular. About 600 newcomers a month learn that the Canadian charter ensures “the right to life, liberty and security” and that employers like cover letters in Times New Roman font. (A gentle note to Filipinos: résumés with photographs, popular in Manila, are frowned on in Manitoba.)

“From the moment we touched down at the airport, it was love all the way,” said Olusegun Daodu, 34, a procurement professional who recently arrived from Nigeria to join relatives and marveled at the medical card that offers free care. “If we have any reason to go to the hospital now, we just walk in.”

“The license plates say ‘Friendly Manitoba,’ ” said his wife, Hannah.

“It’s true — really, really true,” Mr. Daodu said. “I had to ask my aunt, ‘Do they ever get angry here?’ ”

 

Deutschenfeindlichkeit an Berliner Schulen

Mein Beitrag aus der Zeit von heute über die Vorfälle an Berliner Schulen und den Versuch der Lehrergewerkschaft, sich einen Begriff von dem Problem des „Deutschenhasses“ türkisch- und arabischstämmiger Schüler zu machen. Es ist nicht meine erste Auseinandersetzung mit diesem Thema:

Es liegt ein Hauch von Panik in der Luft, als die Lehrerin endlich zu sprechen beginnt. Sie schluckt. Sie sagt: »Ich bekomme immer mehr Ehrfurcht und Respekt vor diesem Thema.« Dieses Thema, das ist die »sogenannte Deutschenfeindlichkeit« ihrer türkisch- und arabischstämmigen Schüler.

Kein Wunder, dass die Lehrerin so beklommen ist. Nur zwei Straßen entfernt vom Tagungsort hetzt der Rechtspopulist Geert Wilders (siehe Seite 12/13) gegen Muslime, die angeblich Deutschland durch Masseneinwanderung unterwerfen wollen. Die Lehrerin, die ihr halbes Leben an einer Schule in Neukölln verbracht hat, will mit der politisierenden Islamophobie nichts zu tun haben. Dies hier ist eine Veranstaltung des multikulturellen Ausschusses der linken Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die Furcht, eine ohnehin schon hysterische Debatte noch weiter anzuheizen, füllt den Raum.
Zwei Mitglieder des GEW-Ausschusses für multikulturelle Angelegenheiten, Andrea Posor und Christian Meyer, hatten in einem Artikel für die Berliner Lehrerzeitung Alarm geschlagen, in den zunehmend segregierten Schulen verstärke sich das Mobbing gegen deutsche Schüler. Dieser bereits vor einem Jahr erschienene Hilferuf löste so heftige Diskussionen unter den Lehrern aus, dass man sich, wenn auch unter großen ideologischen Bauchschmerzen, entschloss, eine Tagung zum Thema einzuberufen. Alles selbstverständlich hochseriös, abgesichert mit Rassismusexperten, Migrantenvertretern, Bildungsforschern. Zu groß ist die Angst, selbst unter Rassis­mus­verdacht zu geraten.
Aber am Ende schaut dann eben alles auf diese Frau, die von der Pöbelei berichtet, der deutsche Schüler – und Lehrer – ausgesetzt sind. Sie lehrt seit mehr als zwanzig Jahren an der Otto-Hahn-Gesamtschule im Stadtteil Neukölln und heißt Mechthild Unverzagt.
»Ist ja irre, dass die auch noch diesen Nachnamen hat«, flachst ein Lehrerkollege in der hintersten Reihe vor lauter Anspannung. Dann redet Frau Unverzagt, und sofort wird es leise im vollen Tagungsraum des Berliner GEW-Hauses.
Sie spricht von »Ghettoisierungstendenzen« in Neukölln, einem sogenannten »A-Bezirk« (»A« für Alte, Arbeitslose, Ausländer, Alleinerziehende). An ihrer Schule seien über 80 Prozent der Kinder »nichtdeutscher Herkunftssprache«, die große Mehrheit davon türkisch- oder arabischstämmig. Fast alle Familien seien arm, viele zerrüttet. Die türkischen und arabischen Schüler seien tonangebend in ihrer Respekt­losig­keit gegenüber Lehrern. Sie bekämen dafür Anerkennung unter ihresgleichen und stärkten so ihr Selbstwertgefühl: »Wenn es bei uns mal sogenannten Unterricht gibt, erleben sie Misserfolge. Also tun sie alles, um ihn zu sabotieren.« Die deutschen Kinder hätten als kleine Minderheit »alle Qualitäten, die ein Opfer haben muss«. Sie müssten lernen, »sich unsichtbar zu machen«. Sie wollten während der Pausen nicht mehr auf den Schulhof, weil draußen nur ein Spießrutenlauf mit Beschimpfungen und Drohungen auf sie warte. Nicht nur deutsche, auch leistungsbereite türkische und arabische Schüler würden von den Wortführern niedergemacht. Ein türkischer Junge, der zu den guten Schülern zähle, werde als »schwul« beschimpft: »Jeder, der irgendwas erreichen will in der Schule, ist der Gegner. Es wird alles gemobbt, was anders ist.« Auch sie selber ist in demütigender und sexistischer Weise angemacht worden.
Es dauert eine Weile, bis die Teilnehmer sich nach Unverzagts Schilderungen fangen. An diesem Samstagmorgen kann man erleben, wie schwer es manchen Linken immer noch fällt, offen von den Konflikten des Einwanderungslandes zu reden. Eine Professorin für Rassismusforschung versucht nachzuweisen, dass die »strukturell benachteiligten Schüler« türkischer oder arabischer Herkunft per definitionem nicht zum Rassismus fähig seien, weil sie ja eine machtlose Minderheit darstellten. Nach dem Bericht von Mechthild Unverzagt wirkt das einigermaßen bizarr. »Diese Kinder waren noch nie in einer Minderheitensituation«, erwidert die Lehrerin.
Vielleicht liegt ja darin das Problem. Chris­tian Meyer, selber Lehrer an der Hector-Peterson-Gesamtschule in Kreuzberg und einer der beiden Autoren des Artikels, der die Debatte ins Rollen brachte, spricht von der »doppelten Segregationsfalle«: Nicht nur die Deutschen ziehen aus den »A-Bezirken« weg, sondern auch die bildungsbewussten Migranten. Die verbliebenen Schüler »kompensieren Frustrationen und Per­spek­tiv­losig­keit durch Macho-Gehabe«. Sie definierten sich stolz als Nichtdeutsche und blickten verachtend auf Deutsche als Ungläubige, »Schweinefleischfresser« und – wenn es sich um Mädchen handelt – »Schlampen«. Die trotzige Selbstausgrenzung von Losern, die sich an noch Schwächeren abarbeiten, ist für sich nichts Neues – nur dass die Schwächeren jetzt in manchen Berliner Kiezen Deutsche sind. Jagen nicht anderswo deutsche Rechtsradikale Juden, Linke und alles irgendwie Fremde?
Mancher bei der Tagung neigt dazu, die Sache allzu schnell wegzuerklären. Bei dem Verhalten der Jugendlichen müsse es sich wohl um die »Rückgabe erlebter eigener Diskriminierung« handeln, sagt ein Teilnehmer. Sofort sind Beispiele zur Hand, bei denen Mädchen mit Kopftüchern diskriminiert und arabische Jungs nicht in die Disco gelassen werden. Ein Teilnehmer fordert daraufhin mehr »Lehrer mit Migrationshintergrund«, andere verlangen eine Nachschulung der Pädagogen in »interkultureller Kompetenz«, ergänzt um die Möglichkeit für »ausgebrannte Kollegen, sich früh pensionieren zu lassen«. Und auf einmal wendet sich der Verdacht gegen die Lehrer, die von ihrer Ohnmacht erzählt hatten: Sind sie einfach zu wenig »kultursensibel«?
Christian Meyer lässt das nicht auf sich sitzen. Seit über 30 Jahren ist er an der Schule in Kreuzberg, und er hat einen »interkulturellen Kalender« produziert, der die Feste aller Religionen verzeichnet: »Wir haben Türkischunterricht, wir machen Fahrten in die Türkei, Lehrer haben Türkisch gelernt. Gegen die Segregation kommen wir aber mit mehr Interkulturalität alleine nicht an.«
Meyer macht sich Sorgen, dass neuerdings die religiöse Differenz zunehmend zur Selbststigmatisierung benutzt wird. Und er möchte, dass gerade diejenigen verstehen, wie alarmierend das ist, die sich für die Integration des Islams einsetzen. Wenn die Religion zum Mittel der Abgrenzung wird, spielt das am Ende gerade denjenigen in die Hände, die sich darin einig sind, dass der Islam mit westlichen Werten unvereinbar sei: Hasspredigern und Islamophoben.
Das Unbehagen, Deutsche als Opfer von Diskriminierung zu thematisieren, bleibt bei der Tagung bis zum Ende. Mechthild Unverzagt sagt schließlich fast reumütig, sie wolle den politisierten Begriff der Deutschenfeindlichkeit »nicht mehr hören«. Sie will sich nicht vor den Karren der Demagogen spannen lassen, die auch ohne Kenntnis der Verhältnisse per Ferndiagnose schon »den Islam« als Ursache ausgemacht haben. Aber sie möchte doch, dass man zur Kenntnis nimmt, dass ausgerechnet sie, die engagierte Lehrerin, den Hass der Verlierer abbekommt, der dieser Gesellschaft im Ganzen gilt.
Was tun? Gewerkschafter sind nie lange verlegen, Rezepte gegen Benachteiligung zu formulieren. Eine bessere Schule, ganztags und mit mehr Ausstattung, wurde dann auch gefordert, neue Unterrichtsformen, interreligiös ausgebildete Lehrer, eine größere soziale Mischung. Also genau das, was an der einst als hoffnungslos geltenden Rütli-Schule die Wende gebracht hat. »Es ist ein Verbrechen, wie das Potenzial dieser Kinder verschwendet wird«, sagte Mechthild Unverzagt, so als müsse sie noch einmal klarstellen, dass die Schüler nicht ihre Gegner sind. »Wir brauchen eine Lobby«, sagt sie fast flehend.
Für Lehrer wie Mechthild Unverzagt und Christian Meyer ist es wichtig, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden. Sie fühlen sich alleingelassen. Sie brauchen keine Belehrung über die sozialen Ursachen des Mobbings, dem sie und andere ausgesetzt sind. Sie brauchen die Anerkennung, dass bestimmte Verhaltensweisen inakzeptabel sind, auch unter schlimmsten Bedingungen. Und so sind sie am Ende erleichtert, dass die Gewerkschaft die Angst vor der eigenen Courage überwunden hat.
Den Kampf mit der neu erstarkenden Rechten in Deutschland und Europa kann man auch so sehen: Wenn dieses Land eine Linke hat, die den öffentlichen Raum gegen jeden Rassismus verteidigt – auch den von Nichtdeutschen –, haben Rechtspopulisten ein Thema weniger.

 

Ein Ministerpräsident mit doppelter Staatsangehörigkeit

Jetzt hat Deutschland einen Ministerpräsidenten mit zwei Pässen: David McAllister, der heute in Hannover zum Nachfolger von Christian Wulff gewählt wurde, hat einen deutschen und einen britischen Pass. Sein Vater war ein schottischer Offizier. David McAllister, mit dem ich einmal vier Wochen in den USA verbracht habe – in einer Gruppe des German Marshall Fund – ist ein fröhlicher Konservativer, wie man ihn hierzulande selten trifft. (Glückwunsch, David! Ich wusste, dass Du nicht Bürgermeister von Bad Bederkesa bleiben würdest.)

Und jetzt möchte ich eine Wette eingehen: Wenn die Union mit einem Doppelpass-Ministerpräsidenten leben kann, werden wir eines nicht so fernen Tages eine Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts erleben. Denn wie bitte soll MP McAllister jungen Türken erklären, dass sie sich gefälligst zu entscheiden haben, wenn er es selber nicht tut?

 

85 Quadratmeter Deutschland

Mein Bericht über den Flaggenstreit in der Berliner Sonnenallee aus der ZEIT von heute, S. 5:

Berlin-Neukölln
Youssef Bassals Gesichtsfarbe changiert schon ein wenig ins Graugrünliche. Er hat nicht viel geschlafen in den vergangenen Tagen – seit »diese komischen Deutschen« nachts vor seinem Laden in Berlin-Neukölln aufkreuzen und ihm seine Fahne herunterreißen wollen. Er lächelt müde, aber zufrieden wie einer, der einen gerechten Kampf ausficht. Bassal kämpft für die Ehre der deutschen Flagge: »Ich werde diese Fahne verteidigen – und wenn ich überhaupt nicht mehr zum Schlafen komme!« Über seinem Laden, Bassals Elektro-Shop, am oberen Ende der Sonnenallee in Berlin-Neukölln flattert das größte Schwarz-Rot-Gold der Hauptstadt – von der Traufe bis hinunter in den ersten Stock gut 17 mal 5 Meter. 85 Quadratmeter Deutschland, die zum Gegenstand eines bizarren Streits geworden sind.
An der Ecke Sonnenallee/Pannierstraße ist fast nichts so wie erwartet. Bassals Laden liegt neben dem Imbiss Al Hara, diversen Shisha-Lounges und gegenüber der Bäckerei Sultan Zwei. Das Ende der Sonnenallee ist auf dem Weg, Berlins »Arabtown« zu werden, mitten in einem Stadtteil, der wie kein anderer in Deutschland für das Scheitern der Integrationspolitik steht.
Die »komischen Deutschen« aber, die dem gebürtigen Libanesen das schwarz-rot-goldene Banner nicht gönnen, sind nicht etwa Rechtsradikale, sondern Angehörige der sogenannten »linksautonomen Szene«. Für diese Szene ist es schwer genug zu ertragen, wenn geborene Deutsche dieser Tage überall Fahnen schwenken. Doch der fröhliche Patriotismus des arabischen Migranten treibt die Autonomen zur Verzweiflung.

Im Internet kursiert denn auch bereits eine Ausschreibung: »Hiermit setzen wir 100 Punkte Kopfgeld auf die Fahne aus. Ihr müsst sie
ja nicht mitnehmen, unbrauchbar machen reicht. Aber Achtung: Angeblich will Bassal einen Nachbarschafts-Fahnenschutz organisieren, nachdem sie bereits in den letzten Tagen angezündet und abgeschnitten wurde. Deswegen geben wir noch 10 Punkte drauf. 110 Punkte für diese eine Fahne.«
Damit war die Jagd eröffnet. Und so kommt es, dass Youssef Bassal nun schon unter der dritten Fahne in zwei Wochen sitzt, die er jeweils für 500 Euro hat maßschneidern lassen. Gleich am ersten Tag, nachdem Bassal und sein Kumpel Khaled Husseini die Flagge am Dach montiert und über drei Balkone nach unten hatten flattern lassen, kam eine junge Frau in typischer schwarzer Autonomen-Kluft vorbei und stellte die beiden zur Rede, wie Bassal erzählt: »Wir sollten lieber eine Palästina-Flagge aufhängen, hat sie gesagt. Wieso Palästina? Ich bin Libanese, ich liebe die deutsche Mannschaft, und die Palästinenser spielen, soweit ich weiß, nicht bei der WM mit.«
Bassal grinst verschmitzt – und unverdrossen. Eines Abends kamen zehn schwarz Vermummte vorbei, rissen die Fahne herunter und konnten mit ihrer Beute fliehen. Die zweite Fahne, die er sofort am nächsten Tag hisste, wurde vermutlich wieder von Autonomen angezündet und dann an der Dachkante abgeschnitten.
Als die zweite Fahne hing und klar wurde, dass Youssef Bassal nicht leicht zu entmutigen sein würde, sei erneut eine junge Frau in Schwarz in den Laden gekommen, erzählt er. »Die sagte zu mir: ›Warum machst du das? Du weckst die Deutschen wieder auf!‹ Und dann hat sie irgendwas über den Geist der Nazis erzählt. Was habe ich denn bitte mit den Nazis zu tun?«
Der dritten Flagge soll es nun nicht ebenso ergehen, und darum sitzt Youssef Bassal mit seinem Kumpel Khaled Husseini seither Nacht für Nacht auf dem Trottoir der Sonnenallee und trinkt einen Tee nach dem anderen. »Wer diese Fahne beschädigt, beleidigt mich, meine Familie und Deutschland«, sagt er.
Aber 1500 Euro für drei Fahnen in zwei Wochen – das ist schon ziemlich verrückt. Wie Fußballfans halt so sind: Bassal liebt den unbeschwerten Stil der deutschen Mannschaft. Zusammen mit türkischen und deutschen Freunden macht er bei jedem Spiel der Löw-Elf aus dem Bürgersteig der Sonnenallee eine kleine Fanmeile. Die Fahne sollte ursprünglich nur ein überschwänglicher Ausdruck der Spiel- und Lebensfreude sein, die dieser Tage durch Schweinsteiger, Podolski, Klose und Özil verbreitet wird. Aber jetzt ist dank der Anfeindungen von links außen etwas mehr daraus geworden. Youssef Bassal und seine Kumpel verteidigen mit dem Schwarz-Rot-Gold ihr Bild von Deutschland und ihr Recht, sich zugehörig zu fühlen, auch wenn sie anders heißen und aussehen als der übliche Fahnenträger hierzulande: »Was deutsch ist, bestimmen wir schon selbst!«
Bassal ist Anfang der Achtziger mit 16 Jahren als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Da wütete im Libanon ein Bürgerkrieg. Seiner Mutter, seiner Schwester und ihm habe Deutschland zu einem neuen Leben verholfen, sagt er. In seiner Erzählung ist Deutschland ein großzügiges, offenes, hilfsbereites Land. Wer ihm zuhört, muss sich beschämt fühlen angesichts mancher hässlicher und kleinlicher Debatten hierzulande über Quoten für Flüchtlinge oder Intelligenztests für Einwander. »Deutschland hat uns Sicherheit, Wohlstand und Freiheit gegeben. Wir dürfen das nicht vergessen. Da ist so eine große Fahne doch nur ein kleiner Dank.«
Aber eigentlich geht es Bassal nicht um die Vergangenheit, sondern um das Neue am deutschen Team: »Die Deutschen machen es richtig. Sie geben jedem eine Chance, egal, wo er herkommt. Sie machen keinen Unterschied. Das ist die Zukunft, während andere Teams wie Frankreich wieder zurückfallen in altes Misstrauen.« Im Bild eines offenherzigen Landes liegt für den autonomen deutschen Selbsthass eine ungeheure Provokation. Darum soll die Fahne verschwinden, ebenso wie die vielen anderen Wimpel, die linke Grüppchen bereits von den Dächern der Autos in der Sonnenallee gestohlen haben – die übrigens auch meist Türken oder Arabern gehören. In einschlägigen Webforen brüsten sich Vermummte mit Spitzenleistungen beim Sammeln der verhassten Symbole: »Wir, das Kommando Kevin-Prince Boateng Berlin-Ost, sind dem bundesweiten Aufruf, Nationalflaggen und -symbole zu sammeln, gefolgt und haben schon 1657 schwarz-rot-goldene Lumpen erbeutet.« Boateng, das ist der ghanaische Spieler mit Berliner Wurzeln, der den deutschen Kapitän Michael Ballack durch ein Foul aus dem Verkehr gezogen hatte. In rechtsradikalen Fan-Kreisen wird er dafür gehasst. Für die Linksradikalen ist Boateng dagegen ein Held, weil sein Tritt die verhasste deutsche Nationalmannschaft traf: der Migrant als Projektionsfläche deutscher Identitätskämpfe, eine alte Geschichte.
Vielleicht ist der Neuköllner Fahnenstreit ein Zeichen dafür, dass sich da etwas ändert: Bassal und seine Freunde wollen für so etwas nicht mehr herhalten. Sie wollen sich weder durch die Rechten, die »Deutschland den Deutschen« grölend durch die Sonnenallee ziehen, noch durch die Linksradikalen, für die ein Migrant offenbar immer Migrant zu bleiben hat, vorschreiben lassen, wie sehr und auf welche Art sie deutsch sein dürfen.
Auch Bassals Cousin Badr Mohammed ist häufig bei der Fahne anzutreffen. An diesem Montagnachmittag sitzt er gegenüber im Sultan Zwei und sieht mit Genugtuung, wie Fernsehkameras die Fassade mit der Fahne filmen und sein Cousin Interviews gibt. Mohammed ist ein Lokalpolitiker, der 17 Jahre für die SPD In­te­gra­tions­poli­tik machte, bevor er im vergangenen Herbst zur CDU wechselte. Als Mitglied der ersten Islamkonferenz von Wolfgang Schäuble habe er gespürt, dass »in der Union integrationspolitisch mehr möglich ist als bei den Sozis«. Mohammed packt die Wut über die »linken Blockwarte«, die seinem Cousin das Leben schwer machen: »Wir wollen keine Alibi-Ausländer für irgendjemand sein. Wir wollen nicht ewig Migranten bleiben und einen Migrationshintergrund haben bis ins siebte Glied. Wir sind neue Deutsche. Punkt.«
Das Spiel gegen Argentinien wird übrigens, wenn es nach Bassal, Mohammad und Husseini geht, mit einem 1 : 0 für Schweinsteiger, Özil und Klose enden. Dann werden sie wieder feiern auf der Sonnenallee, neue und alte Deutsche zusammen, unter der größten Fahne Berlins.