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Syrien als Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs

Mein Wochenkommentar im Deutschlandradio vom vergangenen Samstag (Audio hier):

Mark Sykes hieß der britische Soldat und Diplomat, der den Nahen Osten schuf, so wie wir ihn kennen. Von ihm ist der Satz überliefert: „Ich möchte eine Linie ziehen vom O in Akko bis zum letzten K in Kirkuk.“ Akko, das liegt am Mittelmeer bei Haifa, Kirkuk im Norden Iraks.

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Warum uns die Christen des Nahen Ostens angehen

Merkwürdige Reaktionen auf mein Christen-Projekt versetzen mich in eine meditative Stimmung. Ich war mir bewußt, dass es Abwehrreaktionen hervorruft, über bedrohte Christen zu schreiben. Aber sie sind dann doch ein wenig sehr massiv ausgefallen.  Dazu später.

Das letzte Jahr war für mich sehr bereichernd. Ich habe so viele Menschen getroffen, über die ich nicht schreiben konnte – weil Platz und Zeit fehlten, oder weil sie dann nicht in die Geschichte passten, wie sie sich so beim Schreiben entwickelte. Ich bin viel gereist, und diesmal nicht in Delegationen, sondern auf eigene Faust, was die Begegnungen einfacher macht.

Ein paar möchte ich noch erwähnen. Bei meinen Recherchen in Israel über „Breaking the Silence“ hat mir Arye Sharuz Shalicar sehr geholfen. Er ist der Sprecher der israelischen Armee mit der Zuständigkeit für Europa. Arye hat natürlich nichts übrig für die Besatzungskritiker um Jehuda Schaul. Ich war Anfang des Jahres im Süden Israels mit ihm unterwegs, um auch die Perspektive der Armee kennenzulernen, nicht nur die der Kritiker. Arye brachte mich nach Sderot und Beer Scheva und an den Gazastreifen, wo wir mit einem Intelligence Officer Patrouille fuhren. Ich wollte eigentlich ein Porträt über Arye schreiben, bin aber nicht dazu gekommen.

Er ist ein Phänomen: Im Wedding aufgewachsen als Kind iranischer Juden, die nach Deutschland ausgewandert waren, als Jugendlicher Teil einer Gang von Türken und Libanesen, immer am Rande des Jugendknastes vorbei. Unter muslimischen Jugendlichen aufzuwachsen, hat ihn das Judentum entdecken lassen – beziehungsweise: er wurde darauf gestoßen („Was, Du bist Iraner und Jude? Willst Du uns verarschen?“). Als die Gang-Brüder mitbekamen, dass sie es mit einem Juden zu tun hatten, distanzierten sich viele von ihm (bis auf einen Libanesen).

Arye ging zur Bundeswehr, wo er sich wohl fühlte, und wanderte schließlich nach Israel aus, wo er wiederum die Grundausbildung durchmachte (gibt es noch jemanden, der Bundeswehr und IDF durchlaufen hat?). Arye studierte an der Hebrew University und machte einen Abschluß mit einer Arbeit über Moscheebaukonflikte in Deutschland. Er wurde Offizier der israelischen Armee und bewarb sich auf einen Sprecherposten. So ist aus einem iranisch-jüdisch-deutschen Ghettokind aus Wedding eine Stimme Israels geworden.

Arye ist ein toller Typ, sein Buch über die Erfahrung des Aufwachsens in Wedding ist unbedingt lesenswert. Als der letzte Gaza-Krieg losging, musste ich viel an ihn denken. Er ist im letzten Jahr Vater geworden. Vielleicht schreibe ich das Porträt ja doch noch.

Zweitens möchte ich Simon erwähnen. Simon traf ich bei meiner Recherche über Christen in der Türkei. Auch er hat eine Vergangenheit in Deutschland. Simon wuchs als Kind türkisch-christlicher Einwanderer in Bayern auf. Die Eltern waren überfordert mit dem Leben in Deutschland und ließen die Kinder viel allein, weil sie beide arbeiteten. Simon geriet auf eine schiefe Bahn – Gewalt, Jugendgangs, Kleinkriminalität. Immer wieder mussten seine Eltern ihn bei der Polizei abholen. Es half nichts. Simon war nicht zu bremsen, ganz wie der berühmtere Wiederholungstäter „Mehmet“.  Mit 18 Jahren wurde Simon in die Türkei abgeschoben. Er kannte die Sprache nicht, er war noch nie dort gewesen, er hatte kaum Kontakte. Er wurde zum Militär eingezogen, eine extrem harte Schule, wie er sagt. Er musste sich bei Verwandten in Midyat mit kleinen Jobs herumschlagen. Nach Deutschland führte kein Weg zurück, es gab ein Einreiseverbot.

Simon sagt, es war eine extreme Zeit gewesen. Er musste irgendwie in der Türkei überleben, deren Staatsangehörigkeit er durch die Eltern hatte, dabei war er mehr Deutscher und Christ als Türke, und wurde auch so angesehen. Heute hat Simon einen modernen Bus, mit dem er als Taxifahrer und Reiseführer selbständig ist. Es gibt keinen besseren Reiseführer durch das christliche Kurdistan, den Turabdin, als Simon. Er kennt jeden Winkel, er ist mit den Mönchen per Du, und er fährt schnell und sicher, immer wieder unterbrochen von bayrisch eingefärbten Flüchen, wenn türkische Lastwagenfahrer die Regeln brechen: „Host’des gsehn, wie der Wixxer do mittn auf der Audobahn wendn tut? Verdammtes Orschloch, du! Die kenn olle ned foahn, die hoam an Führaschein von ihre Vettan gekauft, die Türken.“

Simon sagt, dass die Abschiebung ihn wahrscheinlich gerettet hat. Er wäre untergegangen in der Welt der Jugendgangs. Er hat den Jugendrichter angefleht, ihn nicht wegzuschicken, aber es war das einzig richtige, meint er heute. Er musste da raus. Der Heimwehtourismus der Exil-Aramäer, die die Orte ihrer Vorfahren aufsuchen, ist sein Geschäft geworden. Er fährt sie zu den Kirchen und Klöstern, macht Kontakte zu den Mönchen und den Äbten. Er ist stolz darauf, dass die Aramäer wieder hierherkommen. Ein Junge, der sich fast verloren hätte in der Fremde ist zu einem Fremdenführer geworden, der die Wiederaneignung der alten Heimat zu seiner Sache gemacht hat. Aber auch für Simon gilt: Fällt das Kloster Mor Gabriel durch die Klagen bei türkischen Gerichten, dann hat auch er keine Zukunft hier.

Ich müsste auch noch Maria Khoury in Taybeh in der Westbank erwähnen, die mich dort aufgenommen und herumgeführt hat. Maria ist eigentlich griechisch-amerikanisch. Sie hat ihren Mann David in Boston kennengelernt. Als David nach dem Oslo-Abkommen beschloss, in die Westbank zurückzugehen, zog sie mit. Die Hoffnungen auf einen eigenen Staat, der schon fünf Jahre nach dem Abkommen zu Leben anfangen sollte, haben getrogen. Maria zeigt mir die Nachbarschaft von Taybeh: gegenüber der Brauerei sieht man die Siedlung Ofra auf dem nächsten Hügel, 1975 gegründet, Speerspitze der Siedlungsbewegung. Ofra verweist auf den biblischen Ort Ephraim, auf den sich auch Taybeh beruft. Im Neuen Testament wird der Ort als derjenige erwähnt, an den sich Jesus mit den Jüngern zurückzieht, als er schon weiß, dass es mit ihm zuende geht. Wenn Gott diesen Ort als Heimat der letzten Christen in der Westbank ausgesucht hat, dann hat er einen Sinn für schwarzen Humor.

Maria Khoury könnte in Amerika leben, aber sie will Taybeh nicht aufgeben. Juden und Muslime wollen beide die Christen nicht dort haben. „Die streiten sich untereinander um das Land, wir Christen stören dabei nur.“ Sie hat sich die Sache mit dem „Oktoberfest“ ausgedacht, das jeden Herbst hier stattfindet. „Unser Bier ist friedlicher Widerstand“, sagt sie. „Wir bleiben.“

Es versetzt mir einen Stich, dass manche Leute solche Geschichte nicht hören wollen. Ein Aktivist, der sich für die Freiheitsbewegung vom Tahrir-Platz einsetzt, wirft mir vor, mit der Rede von der Christenverfolgung das alte Spiel der Diktatoren weiter zu spielen, die die Religionen gegeneinander ausgespielt haben. Letzteres ist nicht zu bestreiten, und es ist auch nicht zu bestreiten, dass manche christliche Führer sehr faule Deals mit unterdrückerischen Regimen gemacht haben. Aber das kann doch kein Grund sein nicht hinzuschauen, wenn nun unter anderen Vorzeichen die Rechte der Christen in Gefahr sind.

Ein Leser war angenervt davon, dass die Thematik überhaupt im Rahmen eines religiösen Konflikts beschrieben wird. Da scheint die Annahme durch, es gehe nie „wirklich“ um Religion, sondern die religiösen Differenzen würden immer nur „vorgeschoben“, um andere Konflikte zu bemänteln. So etwas gibt es zwar auch, aber wenn die Folge ist, dass Gemeinschaften nicht mehr in der Region bleiben können (-> Irak), dann ist es am Ende de facto religiöse Verfolgung, egal welche Nebenmotive mitspielen.

Eine Kommentatorin wies darauf hin, dass das Christentum mit dem Kolonialismus zusammengebracht würde und daher viele Ressentiments erklärbar seien. Nun, das ist historisch sicher richtig, aber – was meine Beispiele angeht – eben Teil des Problems: Ich habe ausschließlich indigene christliche Communities besucht, die länger da sind als der Islam. Diese Gruppen haben nichts mit Missionaren und Kolonisatoren zu tun. Im Gegenteil sind sie historisch zum Gegenstand islamischer Mission und Kolonisation geworden. Das Perverse ist, dass die christlichen Ureinwohner der Länder in Verkehrung dieser Tatsachen zu „Fremden“ umgewidmet werden (weil sie sich teils mit den Usurpatoren und Diktatoren eigelassen haben, man wird das in Syrien noch sehen, wenn Assad weg ist). Dem muss man entgegen treten, und das habe ich mit diesem Text auch versucht.

Ich habe auch zustimmende und ermutigende Reaktionen bekommen. Aber vielen ist das Thema unangenehm. Es stört ein Bild des arabischen Völkerfrühlings, es stört das muslimische Selbstbild („wir sind historisch toleranter als die Christen“ – was ja für viele Phasen stimmt, vor allem gegenüber den Juden), es stört das abendländische Selbstbild („wir sind die Bösen, die Kolonisatoren, die Missionare, die Imperialisten“). Und dann: Man weiß einfach nicht, was man tun soll. Ist auch nicht einfach! Es ist nicht richtig, die verfolgten Christen des Orients als „welche von uns“ zu vereinnahmen, denen „wir“ helfen müssen, weil sie so sind wie wir. Das führt genau in die Falle der Umdefinition des orientalischen Christen als Fremden und Agenten des „Westens“. Nein, diese Christen sind nicht „wie wir“. Sie sind (auch theologisch) anders und gehören nach Ägypten, Syrien, Iran und in die Türkei, nicht ins westliche Exil. Die Mehrheitsgesellschaften müssen für sie kämpfen, weil sie ein Teil des vielschichtigen Gewebes des Orients sind. Es muss sich die Einsicht durchsetzen, dass der erzwungene Exodus der Christen eine Selbstverstümmelung des Orients ist. Ob das rechtzeitig so kommt – da bin ich sehr pessimistisch zurückgekehrt von meinen Reisen.

 

 

 

Neue islamistische Gewalt gegen Christen und Jeziden im Irak

Aus dem irakischen Norden, der bisher ein sicherer Hafen für die bedrängten Christen im Irak zu sein schien, erreichen mich beunruhigende Berichte. Der Autor, der mir persönlich bekannt ist, will aus Gründen der persönlichen Sicherheit nicht genannt werden. Die erwähnten Ereignisse wurden auch von der Gesellschaft für bedrohte Völker berichtet. In deutschen Medien fanden sie bisher kaum Erwähnung (hier ein Bericht des Guardian). Im folgenden dokumentiere ich den Text meines Bekannten:

Christians and Yezidis in Kurdistan Region (KR) in Iraq were stunned on Friday 2 Dec 2011, by attacks on their businesses, religious and social institutions.

The attacks began by an apparently small demonstration by young men who, incited by a Mosque Imam, soon turned violent and went on the rampage destroying and burning cosmetic and make-up shops, hotels, alcohol shops belonging to Christian and Yezidi owners downtown the city of Zakho on the Iraqi Turkish borders.

The demonstration soon swelled into a huge angry crowd that headed to the Christian Quarter in the town destroying alcohol shops and other properties belonging to Christians under the watching eyes of hundreds of angry and defiant onlookers.

Once perhaps the only safe haven for the Christian community and other ethnic minorities in Iraq in the aftermath of the last regime change, Kurdistan Region (KR) was swept away by the tides of violence against this indigenous community in Iraq.

There were similar attacks in the city of Duhok the centre of Duhok Governorate, Sumeil the site of the 1933 massacre of Christians, the Christian village of Sheuz about 10km to the north west of Duhok, and other villages in what seemed to be coordinated and well-planned attacks.

Following many years of relatively peaceful coexistence in KR, the ethnic minorities in the region are once again caught in between political bickering and a growing extremist theocratic ideology as has always been the case throughout its history in Mesopotamia.

It was shocking to see footage of films and pictures run on the local TV stations showing young men causing havoc with no one to keep them at bay.
The recent and unprecedented sudden upsurge in violence against Christians and Yezidis in (KR) has sent the shivers down the spine of the members of these communities.

More shocking and surprising still was the ease and freedom with which the attacks were carried out – questioning the future of the values of a fledgling democracy, tolerance and coexistence in the region.

The village of Sheuz was attacked by some 400 men in private cars who destroyed and set to fire alcohol warehouses belonging to Christians in the village.
“After destroying and burning the stores, attackers loaded their cars with undamaged containers of alcohol and drove away”, said an eye-witness.

For such attacks to happen in KR raises the questions as to who is behind mobilizing and inciting such big multitudes of young men and what is really happening behind doors and how are the defenseless and peaceful ethnic communities in the region to face such situations.

The prospect of the total disappearance of this already endangered ethnic community along with other non-Muslim ethnic communities such as Yezidis and Sabaites, from the social fabric of the Iraqi society seems to be looming large.

It was not clear why it took the local authorities quite some time to bring the situation under control.

During President Barzani’s visit to the town, and in a defiant gesture, leaflets were given out to people in Zakho threatening, “ if you ever reopen, we will kill you and let your defenders come to your rescue”. Others, meanwhile, attacked other Christian villages in the village of Derabun.

„We hereby caution all alcohol-shop owners that anyone who re-opens will have only to blame themselves, for this action will be coupled with death.“

Strict security measures were later taken to protect Christians in Kurdistan ahead of Christmas celebrations.

However, an aura of anxiety and fear haunts the minds and hearts of the non-Muslim ethnic communities living in the region.

It remains to be seen for how long can these communities survive and go on about their ordinary lives under government protection.

The Christian community political parties and organizations have been demanding an autonomous region in (KR) whose draft constitution (article 35) has provided for the creation of such an autonomous region, as well as a governorate in areas of the Plain of Nineveh where there is a majority of non-Muslim ethnic communities.

The question is if such demands will ever be realized on the ground before the last Christian leaves Iraq in the foreseeable future.

 

Die schleichende Vernichtung der irakischen Christen

Ich hatte heute Besuch von vier irakischen Christen, die dieser Tage auf Einladung des Goethe-Instituts in Deutschland sind.

Was sie mir über ihre Lage erzählt haben, ist sehr aufwühlend. Sie hatten auch Bilder dabei, die ich wohl so schnell nicht vergessen werde. Auf ein solches Grauen war ich nicht vorbereitet. Ein wenig bin ich immer noch unter Schock, vielleicht hilft es da, ein paar Eindrücke aufzuschreiben.

Nabeel Qaryaqos ist Journalist in Baghdad. Er sagt, wenn er schreiben würde, was er denkt und was er für richtig hält, würde er umgebracht. Über die grassierende Korruption kann er nicht ohne Lebensgefahr berichten. Seine Tochter, auch sie Christin, wird in der Schule gezwungen, den Koran zu lernen. Seine Frau, eine Ingenieurin, kann nicht mehr an der Uni unterrichten, weil sie sich weigert, ein Kopftuch anzulegen. (Auch sie ist Christin.) Abends klopfen Leute an die Tür und rufen: Haut ab! Sie hinterlassen auch Zettel mit Drohungen. Die Christen sollen aus Bagdad, aus dem ganzen Land verschwinden. Über so etwas kann er nicht schreiben, sonst bringen sie ihn gleich um. Herr Qaryaqos erzählt von einer Familie, die sich nach jahrelanger Einschüchterung entschlossen hatte, auszuwandern. Sie verkauften ihr Haus, allerdings zu einem viel zu geringen Preis – weil ja bekannt war, dass sie unter Druck standen wegzugehen. Nach dem Verkauf wurde die Familie überfallen und ermordet. Das Geld aus dem Hausverkauf wurde gestohlen.

Aziz Emanuel Al-Zebari ist Sprecher des „Chaldean Syrian Assyrian Popular Council“, einer Dachorganisation der chaldäischen Christen im Irak, einer der ältesten christlichen Gemeinschaften weltweit. Christen hätten keine Rechte im Irak, sagt der exzellent englisch sprechende Herr Al-Zebari, der in Erbil Englisch lehrt. Sie werden bestenfalls als „Dhimmis“ behandelt und müssen oft die islamische Kopfsteuer (Jiziya) an islamistische Gruppen bezahlen, die wie Mafiosi ihnen gegenüber auftreten. Man versuche systematisch, Christen aus ihren Häusern und Wohnvierteln zu verdrängen und ihnen ihr Eigentum wegzunehmen. Moscheen werden in Christengegenden gebaut, um den Machtanspruch des Islams zu demonstrieren. Iran und Saudiarabien, sonst verfeindet, würden beide jene Gruppen unterstützen, die den Irak vom Christentum reinigen wollen. Ein halbe Million Christen hat den Irak bereits verlassen, eine weitere halbe Million hält sich noch, vor allem im kurdischen Norden. Aber viele seien als Binnenflüchtlinge dorthin gekommen und hätten keine Lebensgrundlage. Das chaldäische Christentum, so schildert es Herr Al-Zebari, steht vor dem Aus. Die einzige Lösung wäre eine autonome Region, sagt er, so wie die Kurden eine haben. Ohne einen sicheren Hafen sei die Jahrtausende alte christliche Kultur, die lange vor dem Islam in Mesopotamien zuhause war, in wenigen Jahren am Ende. Seine eigene Familie ist schon teils im Ausland.

Dr. Samir S. Khorani, ein (christlicher) arabischsprachiger Professor für Literaturkritik an der Salahadeen Universität von Erbil, schließt sich dem Plädoyer an. Die Welt solle den Christen lieber im Irak helfen, statt sie zu Flüchtlingen zu machen. Nur dort könnten sie auf Dauer ihre Kultur bewahren. Mit Saddam Husseins Förderung des politischen Islams in seiner späten Phase habe das Elend angefangen. Christen, die Ureinwohner des Landes, wurden schon unter Saddam zunehmend zu „Ungläubigen“ umdefiniert. Nach der Invasion von 2003 wurden sie zur Zielscheibe des Hasses vor allem der Sunniten auf den Westen, auf Amerika. Die einheimischen Christen, sagt Herr Khorani, haben den Preis für den Krieg bezahlt, weil man sich an ihnen ohne Risiko schadlos halten konnte. Sie wurden als Verräter gebrandmarkt, weil man automatisch annahm, sie hätten die Amerikaner gerufen. Weil im Irak seit 2005 die Scharia als Maßstab der Gesetzgebung gilt, sie die institutionelle Diskriminierung von Christen programmiert. Was den Christen im Irak angetan werde, sei ein „Genozid in Zeitlupe“. Täglich würden Christen in Mossul und Bagdad ermordet.

Abdulla Hermiz Jajo Al-Noufali ist Chef der staatlichen Stiftung für „Christen und andere Religionen“ in Bagdad. Er sagt, die Christen seien das Ventil für den innerislamischen Hass zwischen Sunniten und Schiiten. Das ist die einzige Sache, über die sich die Extremisten in beiden muslimischen Lagern einig seien: der Hass auf die Christen. „Hier bei euch in Europa verlangen Muslime die Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften, selbst wenn die Muslime nicht Bürger dieser Länder sind. Wir aber sind die Ureinwohner des Irak und haben keine Rechte. Alles, was wir verlangen, ist folgendes: Behandelt uns in unserem eigenen Land so, wie die Muslime in Europa behandelt werden. Das würde uns schon reichen.“ Schiiten, sagt Herr Al-Noufali, seien etwas weniger schlimm als die radikalen Sunniten, deren Agenda von Al-Kaida bestimmt werde. Und dies deshalb, weil die Schiiten selber jahrhundertelang von den Sunniten verfolgt und unterdrückt wurden. Auch theologisch seien die Schiiten wesentlich gesprächsbereiter als die Sunniten, bei denen die Salafiten den Ton angeben. Trotzdem: das Ende des Christentums in Mesopotamien stehe bevor, wenn die internationale Gemeinschaft nicht bald handele.

Und dann holt er ein Album hervor. Er will mir zeigen, was in der Kirche „Maria Erlöserin“ in Bagdad am 31. Oktober passiert ist. (Ein Massaker, das bei uns kaum Reaktionen ausgelöst hat.) Ein Al-Kaida-Kommando hatte das Gotteshaus am Sonntagabend überfallen, die Gottesdienstbesucher als Geiseln genommen. Am Ende des Gemetzels waren 58 Menschen tot, mehr als 70 verletzt.

Ich blättere: Blutspuren an allen Wänden, an der Decke, zwei tote Priester im Ornat, eine Mutter mit einem totem Baby, noch eine Mutter mit totem Baby, ein Leichenfetzen hängt im Kronleuchter, ein Stück Fleisch liegt zwischen Kirchenbänken, und dann: Tote, Tote, Tote. Eine Gruppe von Menschen, erklärt Herr Al-Noufali, hatte sich in einen hinteren Raum zurückgezogen und diesen mit Regalen verrammelt. Zwei Islamisten sprengten sich am Eingang des Raumes in die Luft, um den Weg freizubekommen. Dann warfen andere aus dem Kommando Granaten in die betende Menge.

Die Zeit ist um, die vier Herren ziehen weiter, um anderen Journalisten und Abgeordneten von der Lage ihrer Leute zu erzählen.

Herr Al-Zebari sagt, er werde noch einen Abstecher nach Schweden machen, bevor er in den Irak zurückkehrt. Dort wohnt ein Teil seiner Familie. „Haben Sie von dem Anschlag in Stockholm gehört?“ fragt er mich. Natürlich, sage ich, und verweise auf den irakischen Hintergrund des Täters. „Wir fühlen mit Ihnen, wenn dieser Wahnsinn jetzt nach Europa kommt“, sagt Herr Al-Zebari.

 

„Krieg gegen den Terrorismus“ ist zuende

Jedenfalls der Gebrauch des Begriffs. Das sagte die amerikanische Aussenministerin Hillary Clinton Reportern auf dem Flug nach Den Haag, wo sie heute an der Afghanistan-Konferenz teilnimmt.

Es gebe keine Direktive zum Wortgebrauch. Die Obama-Regierung habe einfach aufgehört, das Wort zu benutzen.

Gut so. Es war von Anfang an eine dumme Idee, einen Krieg gegen eine Methode zu führen.

Und dann kam noch hinzu, dass die Phrase für die Propaganda zur Vorbereitung des Irak-Krieges gebraucht wurde. Und der Krieg gegen Saddam Hussein hatte mit dem internationalen Terrorismus nun wirklich gar nichts zu tun.

Ironie der Lage: Während uns die Worte ausgehen, um den Konflikt zu beschreiben, wird die Lage immer dramatischer, vor allem in AfPak. Der „lange Krieg“ ist noch lange nicht vorbei: 

Replying to a question on the plane bringing her to The Hague, Clinton declared: „As you said, the administration has stopped using the phrase, and I think that speaks for itself, obviously.“

The secretary of state, who was to take part in an international conference on Afghanistan in the Dutch administrative capital, said of the phrase: „I haven’t heard it used. I haven’t gotten any directive about using it or not using it. It’s just not being used.“

The Bush administration that preceded Obama in the White House used the „war on terror“ to justify its intervention in Iraq, as well as its imprisonment of detainees at Guantanamo in Cuba and secret CIA prisons abroad.

 

Mit dem radikalen Islam verhandeln?

 

Aus der ZEIT von morgen:

Es ist schon atemberaubend, wem auf einmal alles Gespräche angeboten werden: Mit den »moderaten Taliban« will Obama reden. Ohne »pragmatische« Teile von Hamas könne es keinen Frieden geben, sagen 14 angesehene Ex-Diplomaten. Die Briten sprechen jetzt offiziell mit dem »politischen Flügel« Hisbollahs. Amerikanische Senatoren eruieren beim Autokraten Syriens die Möglichkeit eines Friedens mit Israel. Und dann hat sich der amerikanische Präsident in einer spektakulären Videobotschaft an Iran gewandt, jenes Land, in dem immer noch Kundgebungen mit dem Ruf »Tod Amerika« enden. 

Obama, der die Wähler und die Welt mit seinem Idealismus gewann, offenbart sich außenpolitisch als radikaler Realist. In kaum sechzig Tagen hat er die herrschende Maxime der amerikanischen Politik seit 9/11 gekippt: Keine Verhandlungen, keine Gespräche mit dem politischen Islam. Ihr seid entweder für uns oder für »die Terroristen«. Und die bekämpfen wir mit Bomben, nicht mit Worten. Doch nun sind (fast) alle, für die bislang Kontaktsperre galt, gesuchte Gesprächspartner.

Denn eine große Ernüchterung hat eingesetzt. Die Bestandsaufnahme ergibt folgendes Bild: Der radikale Islam ist bis auf Weiteres ein Machtfaktor vom Maghreb über den Nahen Osten bis Pakistan. Die Islamisten haben Macht über die politische Einbildungskraft der Muslime gewonnen. Unsere Interventionen haben ihren Einfluss nicht gebrochen. Eher im Gegenteil. Der Islamismus lässt sich nicht wegbomben – weder aus Afghanistan noch aus Gaza. Er verschwindet auch nicht durch Modernisierung und Säkularisierung. Und es macht sich der nagende Zweifel breit, ob dies gerade wegen unserer Präsenz im Herzen der islamischen Welt so ist. Was tun? Rückzug? Raus, bloß raus?

Es darf keine schwarzen
Löcher mehr geben

In der vernetzten, globalisierten Welt wäre das eine fatale Option, wie der Fall Afghanistan zeigt: Denn der 11. September ist ja gerade dadurch möglich geworden, dass wir die Afghanen mit den Taliban allein gelassen hatten, nachdem sie die Sowjetunion besiegt hatten. Dass so etwas nicht wieder passieren darf, dass es keine schwarzen Löcher der Staatlichkeit mehr geben darf, ist unterdessen der Minimalkonsens darüber, was der Westen in Afghanistan erreichen muss. Alle anderen leuchtenden Ziele in dem kriegsgeplagten Land – Demokratie, Menschenrechte, Bildung – werden längst immer weiter abgedimmt. Und wenn Barack Obama nun gar von Abzugsplänen zu reden beginnt, liegt ein Hauch von Defätismus in der Luft.  Weiter„Mit dem radikalen Islam verhandeln?“

 

Lässt sich das Erfolgsrezept des irakischen „Surge“ auf Afghanistan übertragen?

Eine neue Studie (für das Marine Corps) beschreibt, was zu beachten ist, wenn man die Lektionen aus dem Irak auf Afghanistan übertragen will. Entscheidend sind Politik und Diplomatie, schreiben die Autoren. Die schlechte Regierungsführung in Afghanistan schafft große Unzufriedenheit und  treibt den Aufständischen Unterstützung zu. Beim Reden und Verhandeln mit den Stammesführern sind aber deutliche Unterschiede zwischen Afghanistan und al-Anbar im Irak zu sehen. Eine essentielle Studie. Auszüge aus der Konklusion: 

 

In summary, counterinsurgency in Afghanistan will be different from counterinsurgency in Al Anbar. Any “solution” to the Afghan insurgency must address not sectarianism or a civil war but government misrule tied to a history of warlordism—strategic factors that define the problem. Without reducing the abusive behavior of the government and their warlordclients, it is hard to see how security measures will have a long-lasting effect. Security will not stop mistreatment at the hands of government officials or the continued predatory behavior of warlords.

Another strategic factor that cannot be avoided is the large safe haven in Pakistan’s tribal areas, where insurgents can readily train, recuperate, and organize; a permanent bastion. Given time, US forces may be able to pacify some parts of Afghanistan, perhaps even the bulk of the population. Nevertheless, until the policies of the Pakistani military change, the insurgents should be able to regenerate in the tribal areas. From there, they will be able to try again and again at breaking into pacified areas. Poppy does not help. Funds from its production and trade enhance the ability of the insurgents to keep going. In the end, their attempts may go nowhere but they will have the wherewithal to go round after round, fighting season after fighting season.

Other differences between Al Anbar and Afghanistan may not be strategic but will affect operations, most notably tribal engagement efforts. Tribal engagement, to include the development of tribal forces, will need to be built around the fragmented nature of the tribal system, the feuding of Pashtunwali, and the opportunism of warlords. Patience and forethought in the planning and execution of tribal engagement efforts are advised. Smallscale community successes are more likely than large-scale province-wide successes. Gaining the support of as many tribal elders as possible and using the shura system are likely to be necessary steps in any effort. Locally recruited forces—whether police or some kind of neighborhood watch—will only be as strong as the shura behind them.

Finally, the differences between Al Anbar and Afghanistan will affect tactics. A rural environment, the tactical skill of the insurgency, and Pashtunwali compel a re-thinking of the tactics of counterinsurgency. How Marines and Soldiers outpost, patrol, re-supply, collect bottom-up intelligence, and many other tactics—not to mention logistics—will have to adjust to a rural environment where the population is spread out over wide distances and to an insurgency skilled at small-unit tactics. The usefulness of certain other tactics deserves reconsideration, most notably cordon and searches, air strikes, and population control measures. Because of Pashtunwali, their costs may be greater than their benefits.

In spite of all these differences, Al Anbar and Afghanistan have some similarities. In addition to government misrule, Afghan insurgents also fight because of the presence of US (and allied) forces—infidels—in their country and, in some cases, because they want to see the establishment of an Islamic government.24 The same could be said of insurgents in Al Anbar.

Accordingly, the emphasis that was placed on giving Iraqis a lead role in counterinsurgency operations in Al Anbar will need to be replicated for Afghans in Afghanistan (even if we must at the same time try to empower the right leaders and guide them toward good governance). To give other examples, tribes are important political players in both regions,underlining the wisdom of tribal engagement of some kind; while advising indigenous forces and clear, hold, and build efforts have proven as effective in Afghanistan as Al Anbar, though the tactical details of implementation differ. These similarities make clear that some fundamentals of counterinsurgency remain the same even though strategy as a whole may need to be re-shaped around the unique characteristics of Afghanistan.

 

Die Welt, die George W. Bush schuf

Was ist das bleibende Erbe George W. Bushs?

In diesem Bild ist es auf einen Blick zu erfassen: Irans Aufstieg zur regionalen Vormacht.

Iraks Premierminister Nuri al-Maliki war am letzten Sonntag zu Gast in Teheran beim Revolutionsführer Khamenei. Man sprach über Handel und Investitionen Irans in Irak. Al-Maliki versprach, von Irak aus werde nie ein Krieg gegen Iran geführt werden.

Und schließlich verurteile man das israelische Vorgehen in Gaza. Es war ein harmonisches Treffen.

Quelle.

 

Warum Al-Kaida Angst vor Obama hat

Auf der Website von Newsweek schreibt der marokkanische Kollege Achmed Benchemsi, Herausgeber von TelQuel und Nichane, warum Ayman Al-Zawahiri so nervös ist angesichts des kommenden amerikanischen Präsidenten:

Al Qaeda and all its followers badly need to perpetuate Samuel Huntington’s „clash of civilizations“ paradigm. The West and Islam are deadly enemies, in the radicals‘ view. The more irreconcilable the former, the happier the latter. In this regard, the agenda of Bush and the neocons was a true blessing for the terrorists. Consider this: after 9/11 and the U.S. strike on Afghanistan, Al Qaeda was badly hit and its leaders were piteously hiding in caves. Later, by attacking Iraq for no valid reason–which caused, as a direct or indirect consequence, hundreds of thousands of deaths among innocent civilians–Bush’s administration provided Al Qaeda leaders with a new rationale. They reinvigorated, prospered and recruited hundreds, if not thousands, of brand-new adeptsfollowers, infused with a strong willingness for jihad. „War on terror“? If they could, they would just keep it on forever.

Al Qaeda’s true problem with Obama has indeed nothing to do with the color of his skin. By proposing to meet Iran’s Ahmadinejad without preconditions instead of just bombing him out, the American president-elect thinks outside of the confrontation box. The radicals just hate that. And above all, they hate the idea of the United States resuming the chase of Al Qaeda operatives in the mountains of the Pakistan-Afghanistan borders. He’s coming to them, how could they not react fiercely?

There is something else, which I witness everyday in the streets of Casablanca, where I live: Muslims tend to claim Obama as their own—because he’s black, because he comes from an oppressed minority, because his middle name is Hussein. I presume this holds true for all the nonradical Muslims (the vast majority of them) throughout the world. Not that they think Obama is a Muslim himself—he made clear that he was not. Yet he could have been. His father was. Anyway, this man looks like a „brother“ to many Muslims, which is indeed a good thing for the prospect of global peace.

Not surprisingly, Zawahiri’s video message targeted this specific point: „Obama is not a Muslim, he’s a renegade who abandoned his ancestor’s religion to embrace the ‚crusaders faith‘ and the ‚Zionists‘ ideology‘,“ Zawahiri suggests. The genuine message being: please don’t like him!

Well, too bad for them: we do. We will like him more, of course, if he keeps his promise of backing out of Iraq within 16 months and putting the Israeli-Palestinian peace process back on track. Meanwhile, let’s all of us, Muslims and Westerners, take advantage of the honeymoon period. And let’s enjoy the terrorists‘ embarrassment: it’s a rare occasion.

Hier ein Interview mit dem klugen und mutigen Benchemsi (frz), dessen Zeitschriften schon verboten wurden, weil er das Königshaus kritisiert hatte.

Hier sieht man Benchemsi (rechts) beim Betreten des Gerichts in Casablanca. Er mußte sich im letzten Jahr dort verantworten wegen „mangelnden Respekts vor dem Königshaus“.

Achmed Benchemsi  Foto: AFP – Abdelhek Senna