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Die arabische Demokratie wird islam(ist)isch sein

Eine unvermeidliche Folge der arabischen Freiheitsbewegung wird die Islamisierung der Politik sein. Denn die repressive Säkularisierung (ja, ich weiß, ein problematischer Begriff, denn klar säkularistisch war keines dieser Regime, überall gab es die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Religionen) durch autoritäre Herrschaft ist am Ende. Das heißt nicht, dass für alle Zeiten kein Säkularismus in der islamischen Welt möglich sein wird – der interessante Fall ist hier die Türkei. Aber zu einem Modell – oder zu Modellen – der Koexistenz von Staat und Religion wird man nur durch eine Phase der Renaissance des politischen Islams kommen.

Zunächst einmal ist das Ende der repressiven Säkularisierung für freiheitsliebende Menschen eine gute Nachricht. Die Unterdrückung der (politischen) Religion, mitsamt Folter, Entrechtung, Mord, ist vorbei. Eine Form der Religionsfreiheit – die Freiheit zur Religion im öffentlichen Leben – wird entsprechend Aufwind haben. Jedenfalls für die Mehrheitsreligion, den sunnitischen Islam. Aber: Das Schicksal der religiösen Minderheiten ist damit zugleich ungewisser geworden. Und wie es mit dem anderen Aspekt der Religionsfreiheit steht – der Freiheit von der Religion (von der Mehrheitsreligion, oder von jeglicher Religion im Fall von Atheisten) – das ist eine große Frage für alle Übergangsregime der arabischen Welt. Ausgang: offen.

Es gibt Anlässe zur Sorge: Wenn etwa der Vorsitzende des Übergangsrats in Libyen die Proklamation der Befreiung mit folgenden Sätzen krönt – „Männer, ihr könnt wieder vier Frauen heiraten! Denn so steht es im Koran, dem Buch Gottes. Ihr könnt beruhigt nach Hause gehen, denn ihr müsst nicht eure erste Frau fragen.“ Zinsen sollen übrigens auch verboten werden, weil sie unislamisch seien, so Mustafa Abdul Dschalil in Bengasi am letzten Wochenende. Oder wenn in Tunesien ein TV-Sender wegen der Ausstrahlung des Films „Persepolis“ angegriffen wird und der Senderchef um sein Leben fürchten muss angesichts eines aufgehetzten Mobs. Wenn in Kairo Dutzende Kopten massakriert werden und das Staatsfernsehen „ehrliche Ägypter“ auffordert, gegen Christen loszuschlagen. Wenn der Mörder der Kopten von Nag Hammadi, der für seine Bluttat zum Tode verurteilt wurde, als Held gefeiert wird: Was wird aus den religiösen (und anderen) Minderheiten in der befreiten arabischen Welt?

Trotzdem hilft alles nichts: Der politische Islam wird Teil des postrevolutionären politischen Spektrums in allen Ländern sein, die sich vom Joch befreien. Wie könnte es auch anders sein? Jahrzehntelang haben die Anhänger der islamistischen Bewegungen unfassliche Entrechtungen erlitten. (Man lese etwa die Romane von Ala Al-Aswani, der wahrlich keine Sympathien für den politischen Islam hat, aber dennoch die Märtyrer-Geschichten der Islamisten erzählt, die sich in Mubaraks Kerkern abspielten.) Wahr ist auch, dass sie machmal von den autoritären Regimen benutzt wurden: Man hat sie gewähren lassen, um die Linke und andere säkulare Kräfte zu schwächen. Man hat ihnen Spielraum gegeben, um sie dann immer wieder in Repressionswellen kleinzuhalten. Aber:  Sie haben unter schwierigsten Bedingungen überlebt, ihre Netzwerke aufrecht erhalten und sich in vielen Ländern um die Ärmsten gekümmert. Jetzt werden sie erst einmal als glaubwürdige Alternative dafür den Lohn einfahren.

Dass es auf Dauer ein Durchmarsch wird, ist nicht gesagt: Wo es andere Parteien gibt, ist das alte Spiel der Islamisten vorbei, sich als einzige Alternative zur autoritären Modernisierung von oben zu präsentieren. Und: Es ist nun nicht mehr mit Sprüchen wie „Der Islam ist die Lösung“ getan. Jetzt müssen Vorschläge vorgelegt werden, wie eine Wirtschaftspolitik, eine Sozialpolitik, eine Bildungspolitik aussehen würde, die die Länder aus dem Elend führt. Polygynie und Zinsverbot sind nicht die Antwort auf die Alltagsprobleme der Bürger, selbst der frommen.

Für die Beobachter in Europa stellt sich die Frage, wie sinnvoll der Begriff „Islamismus“ noch ist, wenn er Phänomene wie die türkische AKP, die tunesische Ennahda, die jemenitische Islah-Partei (mitsamt der Friedensnobelpreisträgerin), die ägyptischen Muslimbrüder ebenso wie die ihnen feindlich gesinnten Salafisten und möglicher Weise auch noch gewalttätige Dschihadisten von Hamas bis Al-Shabab bezeichnet. Zu erwarten sind noch weitere Differenzierungen im Laufe der kommenden Ereignisse. Der neue Parteienmonitor der Adenauer-Stiftung verzeichnet für die ägyptischen Wahlen alleine 13 (!) religiöse Parteien, und die Listen sind noch nicht geschlossen. (Sehr viel mehr säkulare und sozialistische, übrigens, was aber wieder nichts über die Wahlchancen der jeweiligen Lager aussagt.)

Ein instruktives Paper über die islamistischen Oppositionsbewegungen in Jordanien, Ägypten und Tunesien hat Karima El Ouazghari von der HSFK vorgelegt. Wie schwierig die Lage-Einschätzung selbst für Forscher ist, die vor Ort Gespräche führen, zeigt sich in dem Satz über die Ennahda-Partei. Weil sie in den Wochen des Umbruchs keine gewichtige Rolle gespielt habe, werde sie zwar versuchen, „ihren Platz im neuen Tunesien zu finden, doch wird sie dabei keine gewichtige Rolle spielen“. Das wurde offensichtlich schon vor Monaten geschrieben. Nach dem Wahlsonntag würde man das wohl kaum noch so sehen. Es kommt hier eine Täuschung zum Tragen, der viele Beobachter erlegen sind, und ich auch: Weil die Revolutionen nicht islamistisch geprägt waren, würden auch die Folgen dies nicht sein. So einfach ist das nicht. Islamisten werden eine wichtige Rolle spielen, und zwar wahrscheinlich in jedem Land eine andere. Eine Wiederholung des iranischen Falls ist wenig wahrscheinlich, wo die Islamisten schließlich alles übernahmen und die restliche Opposition terrorisierten, ermordeten und außer Landes drängten. Dies schon allein deshalb, weil der Iran als Modell so grandios gescheitert ist und die Parole vom Islam als Lösung diskreditiert hat.

Die interessanten Debatten der kommenden Zeit werden sich wahrscheinlich zwischen den verschiedenen Strängen des Islamismus – oder politischen Islams, oder islamisch geprägter Politik – abspielen, und nicht zwischen Islamisten und Säkularen (wie ich zunächst erwartet hatte). Soll es in Ägypten einen religiösen Rat der Ulema geben (eine Art religiösen Wächterrat der Politik), und wie weit sollen seine Kompetenzen gehen? Sollen tatsächlich Frauen von hohen Ämtern ausgeschlossen sein, wie es die konservativen Kräfte in der MB 2007 forderten? Oder passt das nicht mehr in die Post-Tahrir-Welt? Kann ein Kopte theoretisch Präsident von Ägypten werden?

Ein sprechender Moment der letzten Wochen war Erdogans Besuch in Kairo. Dort hat er für das türkische Modell eines säkularen Staates geworben. Die MB waren nicht sehr amüsiert. Das ist interessant: Der Vertreter eines modernen politischen Islams wirbt für die Trennung von Religion und Staat, und wird dafür von den Islamisten kritisiert, die sich sehr viel mehr Verschränkung von Religion und Staatlichkeit wünschen. Der im Westen als Islamist verdächtigte Erdogan findet sich plötzlich in der Rolle, von konservativeren Brüdern für seine paternalistische Einmischung kritisiert zu werden. Von den Türken will man sich kein Gesellschaftsmodell aufdrängen lassen. Zu westlich. Willkommen in unserer Welt, Bruder Recep! (Auch den äpyptischen Militärs, die anscheinend mit den MB schon hinter den Kulissen koalieren, ist das türkische Modell sicher nicht so sympathisch, seit Erdogan das Militär immer weiter zurückgedrängt hat.) Zur entscheidenden Rolle des türkischen Modells gibt es ein sehr aufschlußreiches Interview auf Qantara.de mit der Soziologin Nilüfer Göle. Darin  sagt sie:

Göle: Ich denke, dass das, was Erdoğan zuletzt in Kairo in Bezug auf den Säkularismus sagte, ein sehr wichtiges Signal ist. Ich kann die Frage, ob seine Aussagen aufrichtig oder Teil einer versteckten Agenda sind, nicht beantworten, weil das hieße, sich auf bloße Verdächtigungen zu stützen; ich glaube aber, dass es ein wichtiger Moment in dem Sinne war, dass es ihm darum ging, nicht zu einem populistischen Diskurs beizutragen.

Wenn Erdoğan sagt, dass wir den Säkularismus neu interpretieren und wir ihn als post-kemalistischen Säkularismus verstehen müssten, dann erscheint dieser Säkularismus viel offener und kann alle unterschiedlichen Glaubenssysteme umfassen. Eine solche Definition des säkularen Staates erfordert die gleiche Distanz des Staates zu allen Glaubenssystemen, mit der die religiöse Freiheit auch für Nicht-Muslime gesichert werden kann. In Erdoğans Kairoer Rede sehen wir seinen Versuch, mit den Mitteln des Säkularismus einen Rahmen für die Rechte der Nicht-Muslime in der arabischen Welt zu definieren. Und in diesem Sinne hat diese Definition des laizistischen Staates, der eben nicht nur eine Reproduktion des kemalistischen Laizismus ist, durchaus das Potenzial, die autoritären Züge, die ihm eigen sein können, zu überwinden und die Tür zu einem post-säkularen Verständnis der religiös-laizistischen Kluft zu öffnen.

 

Ebenfalls in Qantara.de schreibt Khaled Hroub über Erdogans Moment in Kairo:

Erdogan hat den Islamisten in Kairo mitgeteilt, dass der Staat sich nicht in die Religion der Menschen einzumischen habe und zu allen Religionen denselben Abstand halten solle. Er müsse säkular sein, wobei Säkularismus nicht Religionsfeindlichkeit bedeute, sondern der Garant für die freie Religionsausübung aller sei. Der Staat, den die arabischen Islamisten im Sinn haben, ist ein religiöser Staat, der jedem Individuum die Religion aufzwingt und natürlicherweise nur eine einzige Auslegung der Religion kennt.

Welcher der von den heutigen Muslimbrüdern oder Salafisten vorgeschlagenen islamischen Staaten würde denn die völlige Freiheit der anderen Religionen und Überzeugungen, wie Christentum, Judentum, Hinduismus oder Sikhismus akzeptieren? Welche dieser Staaten würden den islamischen Konfessionen, die den jeweils herrschenden Islamisten nicht passen, wie z.B. den diversen schiitischen Schulen, den Ismailiten, der Bahai-Religion, der Ahmadiyya-Bewegung usw., Freiheit und Sicherheit gewähren?

Ist es nicht eine Schande, dass im Westen unter den Bedingungen des Säkularismus die Muslime aller Konfessionen in Frieden und gegenseitiger Achtung miteinander leben, während sie in jedem ihrer islamischen Länder daran scheitern, sozialen Frieden zu schaffen und sich gegenseitig zu achten?

Der Vorsitzende der Ennahda in Tunesien, Rachid Ghanouchi, beruft sich immer wieder auf das türkische Modell. Seine Partei will er im Sinne der AKP als moderne, demokratische Partei verstanden wissen, die analog zu den Christdemokraten ihre Werte aus der Religion zieht, aber keine Theokratie und kein Kalifat anstrebt und den Pluralismus bejaht. Allerdings waren das bisher alles Bekenntnisse aus der Opposition heraus, unter der Notwendigkeit, sich gegen den Verdacht zur Wehr zu setzen, man habe eine versteckte Agenda, die sich erst nach Wahlen zeigen werde. One man, one vote, one time? Bald wissen wir mehr.

 

 

 

 

Warum die Mavi Marmara diesmal nicht nach Gaza ausläuft

Ich bin angenehm überrascht von der türkischen Entwicklung in Sachen Gaza-Flotte 2.
Vor kurzem hatte der türkische Außenminister Davutoglu zwar noch gesagt, die türkische Regierung habe keine Möglichkeit, die Hilfsorganisation IHH zu beeinflussen, die hinter der Mavi Marmara steht. Das Schiff, das im letzten Jahr von israelischen Soldaten gestürmt worden war, sollte auch dieser Tage wieder an einer Neuauflage der Antigazablockade-Aktion teilnehmen.
Nun aber hat sich ausgerechnet das Paradeschiff der Blockadebrecher zurückgezogen. Die israelische Regierung hat hinter den Kulissen massiv bei den Türken darauf gedrängt, dass man die IHH von dem Unternehmen abbringt. Die gute Nachricht: Offenbar gibt es wieder eine Verständigung der einstmals engen Alliierten Israel und Türkei.
Was könnte zum neuen türkischen Kurs beigetragen haben? Der arabische Frühling hat die Lage in der Region verändert. Gaza ist nicht mehr im gleichen Maße isoliert. Der Grenzübergang Rafah ist immerhin für Personen offen. Israel schafft auch mehr Güter in den Gazastreifen. Hamas und Fatah haben sich auf eine gemeinsame Regierung geeinigt.
Für die Türken mag auch die Eskalation in Syrien eine Rolle spielen. Man hatte sich des guten Drahtes zum Nachbarland gerühmt und muß nun feststellen, dass Assad sich um keine guten Ratschläge schert. Für die Türkei ist das unmittelbar bedrohlich, siehe das Flüchtlingsproblem an der Südostgrenze. Da kann man nicht noch eine Krise mit Israel brauchen.
Außerdem droht schon die nächste große Nahostkrise im September, wenn die Palästinenser sich von der Uno-Generalversammlung anerkennen lassen wollen. Auch die Türkei wird dazu Stellung beziehen müssen. Die Türkei will in der Region im Aufruhr als ein Faktor der Stabilität wahrgenommen werden. Erneute Sticheleien mit Israel sind da derzeit nicht erwünscht.
Es geht jetzt um mehr: Die palästinensischen Ambitionen auf Staatlichkeit könnten, wenn sie im September frustriert werden, zu einer neuen Intifada führen. Unter Bedingungen des arabischen Frühlings könnte niemand sie mehr kontrollieren, auch die Türken nicht. Dass sie wieder auf die Israelis hören, spricht dafür, dass auch sie diese Entwicklung fürchten. Und das ist auch gut so.

 

Immer Ärger mit Erdogan

Als ich vor fast einem Jahr in den Moscheen des Ruhrgebiets (mit Sigmar Gabriel) unterwegs war, bestimmte auch gerade eine Äußerung des türkischen Premiers Erdogan die Schlagzeilen. Er hatte in einem Interview mit der ZEIT gefordert, „türkische Gymnasien“ in Deutschland zu errichten.

Nun scheinen die ungebetenen integrationspolitischen Interventionen Erdogans eine Tradition zu werden. In Düsseldorf hat er vor wenigen Tagen Aufmerksamkeit gefunden mit seiner Forderung, Kinder sollten erst Türkisch lernen, dann Deutsch. Und wie bereits vor einigen Jahren polemisierte er auch wieder gegen „Assimilation“ und suggerierte, den Türken solle ihre Kultur genommen werden als Preis für die Integration (die Erdogan befürwortete).

Vor einem Jahr in den Moscheen war eine sehr gesunde Reaktion der türkischen Community zu beobachten, wenn man sie auf Erdogans Forderungen ansprach: Was denkt dieser Typ, wer er ist – und wer wir sind? Er ist für uns nicht zuständig, er soll sich raushalten. Vural Öger sagte in der Moschee in Oberhausen:

“Wir wollen keine Diasporatürken in der dritten und vierten Generation. Ankara soll sich hier gefälligst nicht mehr einmischen. Wie lange soll das noch weitergehen? Bis zur 5. Generation? Das macht die Identitätskrise der Menschen hier nur noch schlimmer, wenn sie als Stimmvieh der türkische Politik behandelt werden. Es wäre keine Schande, sondern ein Grund zum Stolz, wenn junge Leute hier besser Deutsch als Türkisch könnten. Seid endlich Deutsche – mit einem großen türkischen Herzen!”

Das wäre immer noch der passende Kommentar zu Erdogans erneuter populistischer Wahlkampftour.

Man wird solche abweisenden Äußerungen aber immer seltener hören. Und das liegt an dem katastrophal gewandelten Klima in unserer Gesellschaft. Unsere Debatte des letzten Jahres hat Erdogans Erfolg bei seinen Landsleuten den Boden bereitet. Er surft auf dem Gefühl der Menschen, nicht angenommen zu sein und niemals angenommen zu werden, weil sie Türken und Muslime sind. Die allzu berechtigten Retourkutschen gegen seine Anti-Assimiliations-Rhetorik (Was ist mit den Kurden, den Aleviten, den Christen in der Türkei?) verfangen so kaum. Denn es gibt eine Wagenburg-Mentalität unter vielen Türken, ja selbst unter den Musterbeispielen der Integration. Auch diejenigen, die mit Erdogan nichts am Hut haben, sind frustriert, enttäuscht, wütend über das türkenfeindliche Klima hierzulande. Es hilft nichts, dass auch darin viele Übertreibungen sind: So etwas hat fatale Folgen für ein Einwanderungsland.

Das Wort Integration ist so weit heruntergewirtschaftet worden, dass es gerade die Besten nicht mehr hören können. Es liegt ein Hauch von Schikane, Überheblichkeit und Resentiment in der Rede von der Integration.

Und die reflexhaften Reaktionen auf Erdogan schüren dieses Gefühl weiter. Der Herr Dobrindt von der CSU mit dem bizarr überzeichnenden Satz etwa, der Auftritt Erdogans habe die Integrationsbemühungen „um Jahre zurückgeworfen“. Welch eine Bigotterie. Erdogan ist ein geschickter Vertreter des gleichen religösen Rechtspopulismus, dem auch die CSU anhängt, wenn es um die Heimat und das kulturell-religiöse Erbe geht. Erdogan geht ganz einfach in die Lücke, die ängstliche deutsche Politiker offen lassen, weil sie die Türken nicht als eine zu umwerbende Wählerschaft wie jede andere Gruppe behandeln. Warum mieten deutsche Politiker sich nicht einmal eine Halle und laden die Türken ein und reden zu ihnen? Warum appellieren  Merkel, Steinmeier, Gabriel, Özdemir oder Westerwelle nicht an den Stolz der Deutschtürken, wie es Erdogan tut?

Das erste, was ihnen einfällt, ist die Replik, Türkisch als erste Sprache sei nicht gut, das müsse bitte Deutsch sein. Das ist einfach Humbug: Das Problem der jungen Bildungsversager ist nicht, dass sie zuerst Türkisch lernen, sondern dass sie nicht einmal ordentlich Türkisch lernen. Ist Türkisch eine schlechtere Sprache als Französisch oder Italienisch oder Polnisch? Käme irgendjemand auf die Idee, italienischen, französischen oder polnischen Eltern reinzureden, sie sollten ihren Kindern zuerst Deutsch beibringen? Der Appell sollte lauten: Bringt euren Kindern gutes Türkisch bei, lest mit Ihnen Kinderbücher, sprecht mit Ihnen über die Schule, ladet deutsche Nachbarskinder ein, bringt sie in den Kindergarten.

Jetzt wird Erdogan seine Ambivalenz vorgehalten, seine „vergiftete Liebeserklärung“ für die hiesigen Türken. Leider ist die Botschaft der hiesigen Politik und der gesellschaftlichen Debatte genauso voller Ambivalenz und Gift. Und das ist – es tut mir leid – das größere Problem – denn nicht Herr Erdogan ist politisch verantwortlich für den Erfolg/Mißerfolg der Türken hier, sondern dieselben deutschen Politiker, die ihn kritisieren. Politisch, wohl gemerkt: Denn ein Hauptproblem von Deutschen und Türken – da haben sie mal was gemeinsam – ist ihre Staatsverliebtheit. Beide Völker mit ihren obrigkeitstaatlichen Traditionen erwarten viel zu viel vom Staat und zuwenig vom einzelnen Bürger. Türken und Deutsche  fragen zuviel, was das Land für sie und zu wenig, was sie für das Land tun können. Da haben sich zwei gefunden!

Ein Problem ist, dass die Deutschtürken von zwei Seiten mit mixed messages beschossen werden: Erdogan sagt: Integriert euch, aber assimiliert euch nicht (als gäbe es da akademisch anerkannte feine Grenzen). Die deutsche Gesellschaft kommuniziert: Wir sind ein Einwanderungsland, aber ihr seid die falschen Einwanderer.

Wenn man einem national-religiösen Populisten wie Erdogan etwas entgegensetzen will, muss man ein klare und selbstbewusste Botschaft haben:  Lass diese Leute in Ruhe. Die gehören zu uns. Sollen sie mit Ihren Kindern Türkisch sprechen! Aber gutes Türkisch muss es sein, damit darauf dann gutes Deutsch und Englisch aufbauen können.

 

Ankara, Teheran, Kairo

Am 11. Februar, dem Jahrestag der Iranischen Revolution, hat Präsident Achmadinedschad diese Rede gehalten, in der er wieder gegen Israel hetzt. Er spricht in bewährter Manier von einem „satanischen“, „verbrecherischen zionistischen Regime“, das der Ursprung allen Übels in der Region sei. Die westlichen Mächte der Finsternis, die es dort installiert haben, werden freundlich gebeten, das „verbrecherische, teuflische Regime“ auch wieder zu deinstallieren.
Es ist übrigens der selbe Tag, an dem die Demokratiebewegung in Ägypten Mubarak zum Teufel jagt. Eine Bewegung, die mit dem verlogenen Anti-Israel-Spiel bricht und sich um die Missstände daheim kümmert: Unfreiheit, Korruption, Ungerechtigkeit. Kairo, Tahrir, das ist in gewisser Weise das Gegenteil von dem was Machmud A. auf dem Azadi-Platz in Teheran inszeniert (der auch nach der Freiheit benannt ist). Eine postislamische, post-postkolonialistische Revolution junger Leute, die sich nicht von der Welt abschotten, sondern endlich Anschluss an sie finden wollen.

Und so ist es nur folgerichtig, wenn in Teheran gestern gerufen wurde: „Mubarak, Ben Ali, der nächste ist Seyyed Ali.“ (i.e. Khamenei)
Um noch einmal auf die Türkei zurückzukommen: Präsident Güls Besuch – 4 Tage im Iran mit über 100 Geschäftsleuten – ist unter den derzeitigen Umständen ein Skandal. Von mindestens einem Toten bei den Protesten im Iran wissen wir bisher. Wie kommt die Türkei dazu, diesem Regime einen derartigen großen Bahnhof zu bereiten? Einem Regime, dessen Kasperletheater-Parlament heute dazu aufruft, den Anführern der Grünen Bewegung als „Verderber auf Erden“ den Prozess zu machen (der dann wohl nur mit der Todesstrafe enden könnte).
Gül hatte einem Reporter der Zaman auf seinem Flug folgendes zu sagen :

Speaking to a group of reporters en route to Egypt on Monday, Gül estimated that the events in Egypt and Tunisia will have an impact across the Middle East, saying all countries in the region will get their share from what happened in Egypt.

“People are making reforms, which leaders fell short of doing,” said Gül aboard the plane, emphasizing that the Middle East has been undergoing a fundamental, albeit late, transformation. He explained that the honor of the Egyptian people was damaged during the authoritarian rule and that their anger was not addressed by the administration.

Und was ist mit der Ehre des iranischen Volks? Wird die durch die autoritäre Herrschaft seiner Führung nicht verletzt?
Ich möchte nie wieder türkische Kritik an der westlichen Doppelmoral hören.

 

Amerika im Twitter-Krieg mit Iran?

Beginnt die Obama-Regierung im Licht des Abgangs von Mubarak mit einem Politikwechsel hin zu einer aggressiveren Demokratie-Agenda?

AFP berichtet, dass das amerikanische Außenministerium begonnen habe, Tweets in Farsi an die iranische Öffentlichkeit zu senden. Man hat sich offenbar darüber geärgert, dass die Iraner die Revolution in Ägypten vereinnahmen wollen, obwohl sie zuhause den eigenen Bürgern die Rechte verwehren, die die Demonstranten vom Tahrir-Platz sich genommen haben.

The Twitter feeds in the Iranian language began Sunday as US officials accused Iran of hypocrisy by supporting the anti-government revolt in Egypt but seeking to prevent anti-government demonstrations in Iran.

On the Twitter account, USAdarFarsi, the State Department said it „recognizes historic role of social media among Iranians We want to join in your conversations.“

In another tweet, the State Department said: „#Iran has shown that the activities it praised Egyptians for it sees as illegal, illegitimate for its own people.“

In a third tweet, it said „US calls on #Iran to allow people to enjoy same universal rights to peacefully assemble, demonstrate as in Cairo.“

Ich finde diese Aktion sehr gut, zumal sich heute in den iranischen Städten die iranische Demokratiebewegung Kämpfe mit Sicherheitskräften des Regime leistet. Es soll Tränengas eingesetzt worden sein, und von Tausenden Protestierenden ist die Rede.

Das läßt die Delegation des türkischen Präsidenten Gül einigermaßen zynisch aussehen, der heute mit einer riesigen Zahl türkischer Geschäftsleute im Iran weilt. Gül will das Geschäft mit Iran vorantreiben – ein Affront gegen die Nationen, die versuchen, Iran durch Sanktionen zur Offenlegung seines Atomprogramms zu veranlassen. Die Türkei glaubt nicht daran, das hat sie oft genug gesagt. Sie wird auch nicht direkt gegen das Sanktionsregime  verstoßen. Aber sich so demonstrativ und präpotent gegen einen Konsens zu stellen, dem selbst Russen und Chinesen zustimmen, ist eine politische Dummheit.

Im Lichte der angekündigten Proteste im Iran kann alle Welt sehen, wie die Türkei auf der Weltbühne herumstolpert und trotzig den besten Kumpel des häßlichsten Regimes der Region gibt. Die Neo-Osmanen werden zum Opfer ihrer Großmannssucht.

Wird Gül zuschauen, während Dutzende Demonstranten verhaftet werden – oder wird er ein Wort für sie finden?

 

Erdogan: Wir warten nicht ewig auf Europa

Der türkische Premier schlägt in Newsweek einen forschen Ton gegenüber Europa an: Ihr braucht uns mehr als wir euch!

Our European friends should realize that Turkey-EU relations are fast approaching a turning point. In the recent waves of enlargement, the EU smoothly welcomed relatively small countries and weak economies in order to boost their economic growth, consolidate their democracies, and provide them with shelter. Not letting them in would have meant leaving those countries at the mercy of political turmoil that might emerge in the region. No such consideration has ever been extended to Turkey. Unlike those states, Turkey is a regional player, an international actor with an expanding range of soft power and a resilient, sizable economy. And yet, the fact that it can withstand being rebuffed should not become reason for Turkey’s exclusion. Sometimes I wonder if Turkey’s power is an impediment to its accession to the Union. If so, one has to question Europe’s strategic calculations.

It’s been more than half a century since Turkey first knocked at Europe’s door. In the past, Turkey’s EU vocation was purely economic. The Turkey of today is different. We are no more a country that would wait at the EU’s door like a docile supplicant.

 

Wikileaks: Erdogans „Machthunger“

Unter den Enthüllungen aus „Cablegate“, die wir bisher einsehen können – Wikileaks stellt die diplomatischen Kabelberichte nur Stück für Stück online – gehören die Einschätzungen über die Türkei sicher zu den aufregendsten. Richtig klasse geschrieben ist zum Beispiel dieser geheime Bericht des seinerzeitigen Botschafters Eric Edelman aus Ankara von Ende 2004. Darin finden sich sehr freimütige Einschätzungen des Premierministers Erdogan, des damaligen Außenminister Gül, der Chancen der Türkei auf einen EU-Beitritt, des islamistischen Einflusses auf die AKP, der Lage des Islams in der Türkei und allgemeiner Hindernisse der Türkei auf dem Weg in den Westen.

...Erdogan's hunger for power reveals
itself in a sharp authoritarian style and deep distrust of
others: as a former spiritual advisor to Erdogan and his wife
Emine put it, "Tayyip Bey believes in God...but doesn't trust
him."  In surrounding himself with an iron ring of
sycophantic (but contemptuous) advisors, Erdogan has isolated
himself from a flow of reliable information, which partially
explains his failure to understand the context -- or real
facts -- of the U.S. operations in Tel Afar, Fallujah, and
elsewhere and his susceptibility to Islamist theories.  With
regard to Islamist influences on Erdogan, DefMin Gonul, who
is a conservative but worldly Muslim, recently described Gul
associate Davutoglu to us as "exceptionally dangerous."
Erdogan's other foreign policy advisors (Cuneyd Zapsu, Egemen
Bagis, Omer Celik, along with Mucahit Arslan and chef de
cabinet Hikmet Bulduk) are despised as inadequate, out of
touch and corrupt by all our AKP contacts from ministers to
MPs and party intellectuals.
...
Two Big Questions

----------------- 

24. (C) Turkey's EU bid has brought forth reams of

pronouncements and articles -- Mustafa Akyol's

Gulenist-tinged "Thanksgiving for Turkey" in Dec. 27 Weekly

Standard is one of the latest -- attempting to portray Islam

in Turkey as distinctively moderate and tolerant with a

strong mystical (Sufi) underpinning.  Certainly, one can see

in Turkey's theology faculties some attempts to wrestle with

the problems of critical thinking, free will, and precedent

(ictihad), attempts which, compared to what goes on in

theology faculties in the Arab world, may appear relatively

progressive.

25. (C) However, the broad, rubber-meets-the-road reality is

that Islam in Turkey is caught in a vise of (1) 100 years of

"secular" pressure to hide itself from public view, (2)

pressure and competition from brotherhoods and lodges to

follow their narrow, occult "true way", and (3) the faction-

and positivism-ridden aridity of the Religious Affairs

Directorate (Diyanet).  As a result, Islam as it is lived in

Turkey is stultified, riddled with hypocrisy, ignorant and

intolerant of other religions' presence in Turkey, and unable

to eject those who would politicize it in a radical,

anti-Western way.  Imams are for the most part poorly

educated and all too ready to insinuate anti-Western,

anti-Christian or anti-Jewish sentiments into their sermons.

Exceptionally few Muslims in Turkey have the courage to

challenge conventional Sunni thinking about jihad or, e.g.,

verses in the Repentance shura of the Koran which have for so

long been used to justify violence against "infidels". 

26. (C) The problem is compounded by the willingness of

politicians such as Gul to play elusively with politicized

Islam.  Until Turkey ensures that the humanist strain in

Islam prevails here, Islam in Turkey will remain a troubled,

defensive force, hypocritical to an extreme degree and

unwilling to adapt to the challenges of open society. 

27. (C) A second question is the relation of Turkey and its

citizens to history -- the history of this land and citizens'

individual history.  Subject to rigid taboos, denial, fears,

and mandatory gross distortions, the study of history and

practice of historiography in the Republic of Turkey remind

one of an old Soviet academic joke: the faculty party chief

assembles his party cadres and, warning against various

ideological threats, proclaims, "The future is certain.  It's

only that damned past that keeps changing." 

28. (C) Until Turkey can reconcile itself to its past,

including the troubling aspects of its Ottoman past, in free

and open debate, how will Turkey reconcile itself to the

concept and practice of reconciliation in the EU?  How will

it have the self confidence to take decisions and formulate

policies responsive to U.S. interests?  Some in AKP are

joining what is still only a handful of others to take

tentative, but nonetheless inspiring, steps in this regard.

However, the road ahead will require a massive overhaul of

education, the introduction and acceptance of rule of law,

and a fundamental redefinition of the relation between

citizen and state.  In the words of the great (Alevi)

Anatolian bard Asik Veysel, this is a "long and delicate

road."

Es ist faszinierend, solche Dokumente einsehen zu können. Aber es wäre naiv, sie als Stenographie des Weltgeistes zu lesen. Sie ergeben nicht einmal das Bild der USA von der Türkei. Man sieht, wie es auch hier auf den Autor und seinen Kontext ankommt. Edelman benennt freimütig viele reale Missstände – vor allem dieser letzte Absatz ist sicher auch heute noch hoch relevant.

Aber aus dem gesamten Kabel spricht eben auch der Gesandte George W. Bushs, ein gut verdrahteter Neocon, der der Türkei niemals verzeihen kann, dass sie sich dem Irakkrieg verweigert hat. Edelman wurde der erste wirklich verhasste Botschafter in der Türkei. Er wurde als eine Art Kolonialoffizier empfunden. Die Enttäuschung des Botschafters über den selbstbewusster werdenden Alliierten spricht aus dem Kabel und färbt offensichtlich die Analyse. Erdogan, der den Irakkrieg für einen Fehler hält, versteht eben einfach die Fakten nicht! Nun ja, das sieht man heute etwas anders. All das muss man mitbedenken, wenn man Edelmans Kabel liest. Man kann hier zum Zeugen eines wachsenden Entfremdung unter Partnern werden.

 

Taugt Istanbul als „Kulturhauptstadt Europas“?

Dass V.S. Naipaul vom Treffen des „Europäischen Schriftstellerparlaments“ in Istanbul vergrault wurde, lässt nichts Gutes über die Offenheit der türkischen Kulturszene ahnen. Naipaul sollte eine der Eröffnungsreden halten. Doch nachdem er in Teilen der türkischen Presse als Feind des Islams hingestellt worden war, hat er „freiwillig“ auf die Reise nach Istanbul verzichtet. Die Türkei verspießert religiös-nationalistsich, ausgerechnet in dem Jahr, in dem sie „Kulturhauptstadt Europas“ sein will? Bitter.

Hari Kunzru, der britische Autor, der an Stelle Naipauls redete, hat das einzig richtige gemacht, indem er in seiner Rede auf die Abwesenheit Naipauls einging und die Beschränkung der Meinungsfreiheit in der Türkei anprangerte:

Kunzru referred to the Nobel laureate’s absence and said: „I feel we would be stronger and more credible if we were to deal with divergent views within this meeting rather than a priori excluding someone because of fear that offence might be given.“

The writer also attacked Turkey’s record on free speech, citing the cases brought against novelist Orhan Pamuk and editor Hrant Dink under article 301 of the country’s penal code, which makes it illegal to insult Turkey, Turkish ethnicity or Turkish government institutions.

Kunzru told the assembled authors: „Pamuk faced trial for giving the following statement to a Swiss magazine: ‚Thirty thousand Kurds have been killed here and a million Armenians. And almost nobody dares mention that. So I do.'“ He added: „Dink, one of Turkey’s most prominent Armenian voices was convicted under article 301 then murdered by a young nationalist, who was subsequently photographed in a police station surrounded by smiling officers, against the backdrop of the national flag. There are many other examples in Turkey of the weapons of offence and insult being used to silence dissent. Turkey is obviously not alone in this, but since we are here, it is important that we acknowledge it.“

Bitter ist die Angelegenheit für Orhan Pamuk, der wie Naipaul den Literaturnobelpreis bekommen hat, nicht zuletzt auch wegen seines mutigen Eintretens für die Meinungsfreiheit in der Türkei. Pamuk ist einer der Gründer des „Schriftstellerparlaments“.

Naipaul ist allerdings ein gnadenloser Analytiker der kulturellen Verwüstung, die vor allem der von Saudi-Arabien gesponserte Islam in Pakistan, Indien und auch Indonesien anrichtet. Recht hat er damit! Er hat den islamischen Kulturimperialismus immer wieder beschrieben, wo er ihn auf seinen vielen Reisen in Asien beobachtet hat.

Naipaul ist ein immens schwieriger Charakter, wie ich persönlich erfahren habe, als ich einmal vor Jahren versuchte, ihn zu interviewen. Ein hochmütiger, ungeduldiger, menschenfeindlicher Reaktionär reinsten Wassers – beste englische Tradition in der Linie Evelyn Waughs. Unterträglich, aber doch liebenswürdig in seiner störrischen Unabhängigkeit.

Und was für ein weltgewandter Autor! Seine Sympathien für die Hindu-Nationalisten sind allerdings sehr problematisch und auch entsprechend angegriffen worden. Von deren Gewalt, von deren Rassismus hat er sich nicht genügend distanziert. Aber seine gnadenlosen Einblicke in das selbstgeschaffene Elend der Dritten Welt sind von großem Wert.

Und so einen großen Autor kann man in der „Europäischen Kulturhauptstadt“ nicht mehr ertragen? So wird aus diesem Titel ein Witz.

 

„Die Islam-Debatte ist primitiv“

Meint Daniel Pipes in einem Interview mit Ramon Schack (in der NZZ), das anläßlich unseres Berliner Disputs geführt wurde.

Zitat:

„Wie beurteilen Sie eigentlich die aktuelle Debatte in Europa und den USA um den Islam, die Integration von muslimischen Einwanderern usw.?

Die aktuelle Islam-Debatte im Westen ist primitiv. Unsere Probleme bestehen doch nicht aus Moscheebauten, Minaretten oder Kopftüchern. Es handelt sich um eine Phantomdebatte, an den eigentlichen Problemen wird vorbeidiskutiert. Wir müssen Massnahmen ergreifen, um die unbestrittenen, einmaligen Vorzüge der westlichen Zivilisation zu verteidigen, und dabei die Herzen der moderaten Muslime gewinnen, nicht aber Hysterie und Misstrauen streuen.

Sie selbst haben den niederländischen Politiker Geert Wilders öffentlich unterstützt. Begrüssen Sie den Aufstieg von islamfeindlichen, rechtspopulistischen Parteien in Europa?
Wilders‘ politische Agenda ist natürlich bizarr und nicht ernst zu nehmen, sein Parteiprogramm voller unhaltbarer Versprechungen und einfacher Lösungen. Allerdings hat er das Recht, seine Meinung zu äussern. Ich betrachte es als Skandal, dass er nicht ohne Leibwächter das Haus verlassen kann. Der Aufstieg dieser Parteien in Europa, die ja keinen einheitlichen Block bilden, ist das Resultat eines Versagens der politischen Klasse. Es wäre den etablierten Politikern und Parteien zu raten, sich dieses Themas anzunehmen, die Debatte zu führen und zu moderieren. Andernfalls wird die innenpolitische Lage in Europa weiter eskalieren, mit einer zunehmenden Radikalisierung auf allen Seiten.“

Mit diesen Äußerungen habe ich überhaupt kein Problem. Aber ich muss sagen, dass ich Pipes nicht verstehe, und das wird durch dieses Gespräch unterstützt. Er heizt doch selber eben jene haltlosen Debatten mit an, die er hier nun plötzlich als „primitiv“ oder „hysterisch“ bezeichnet. Er war es doch, der die geplante Moschee am Ground Zero als „Triumphalismus“ denunzierte. Er war es, der sogar noch die muslimische Miss America runtermachte zu einem Beleg für politische Korrektheit und affirmative action (lies: Dhimmitum auf seiten der Juroren). Er stilisiert das angebliche Verbot von Sparschweinen in England zum Beleg für für die Islamisierung Europas.

Und Wilders: Dass er ihn nun so runtermacht, wundert mich auch, denn er begrüßt ausdrücklich das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien überall in Europa. So geschehen in unserer Debatte vorletzten Mittwoch in Berlin.
Mir fehlen die Worte dafür, dass er die  Türkei langfristig als eine „größere Bedrohung“ denn Iran ansieht und sie als schechthin „verloren“ für den Westen abtut. In Berlin hatte er sogar gesagt, die Türkei sei „the enemy“. Zugleich wird aber Iran als so gefährlich hingestellt, dass Obama „endlich handeln“ müsse, vulgo: bombardieren.
Und so hat man immer einen Feind im Ärmel. Ist der Iran erst ausgeschaltet, muss man sich etwas für den langfristigen „Feind“ Türkei überlegen.

 

Was Brasilien und die Türkei treibt

Fareed Zakaria, langjähriger Chefredakteur und Leitartikler von Newsweek International, hat seine letzte Kolume geschrieben, bevor er sich nun ganz der Konkurrenz von Time Warner, inklusive CNN, verschreibt. Ein Verlust:

There has been much worry about the activities of countries like Brazil and Turkey, with many Americans arguing that the two countries have become troublemakers, cutting deals with Ahmadinejad and turning away from America. But we have to understand the dynamic that is altering the power status of these countries. Twenty years ago Brazil was struggling to cast off a long legacy of dictatorship, hyperinflation, and debt. Today it is a stable democracy with impressive fiscal management, a roaring economy, and a wildly popular president. Its foreign policy reflects this confidence and a desire to break free of its older constraints.

In a speech in Geneva on Sept. 11, Brazil’s intelligent and ambitious foreign minister, Celso Amorim, explained that even eight years ago, the United States absorbed 28 percent of Brazil’s exports, but now buys only 10 percent, surpassed by China. Africa, too, is now a major trading partner for Brazil. In explaining the country’s new interest in Middle Eastern affairs, Amorim pointed out that Brazil’s 12 million Arabs would constitute the fourth or fifth-largest Arab nation in the world. Recently, in another speech, Amorim urged Brazil to be bold and expansive in its conception of its interests. “It is unusual to hear that countries should act in accordance with their means,” he said. “But the greatest mistake one could make is to underestimate [Brazil’s potential].”

Then consider Turkey. Twenty years ago, it too was perceived as a basket-case economy, dependent on American largesse, protected by the American security umbrella, and quietly seeking approval from Europe. It needed the West. But now Turkey has a booming economy, has an increasingly confident democracy, and is a major regional power. It is growing faster than every European country, and its bonds are safer than those of many Southern European nations.

Its foreign policy is becoming not so much Islamic as Ottoman, reestablishing a sphere of influence it had for 400 years. Abdullah Gül, Turkey’s sophisticated president, explains that while Turkey remains resolutely a part of the West, it is increasingly influential in the Middle East, Central Asia, and beyond. “Turkey is becoming a source of inspiration for other countries in the region,” he said to me while in New York last week.

Zwar stimmt die Pointe für Brasilien nicht ganz: Wenn ich richtig zähle, wäre Brasilien mit 12 Mio Arabern nur das zehntgrößte arabische Land, wenn auch immerhin deutlich vor Tunesien. (Und außerdem sind diese „Araber“ über einen langen Zeitraum eingewanderte Menschen vor allem aus dem Libanon und Syrien, teilweise auch christlicher Religionszugehörigkeit.) Dass erhebliche Minderheiten auch die Außenpolitik verändern, dürfte stimmen. Mehr noch als der Einfluss der Minderheiten dürfte im Fall Brasiliens der Energiehunger einer aufstrebenden Nation eine Rolle spielen.

Was die Türkei angeht: Es ist sehr provinziell, dass die Europäer vor lauter Verklemmung wegen der unlösbaren Beitrittsproblematik (niemand will die Sache absagen, niemand will sie vorantreiben) überhaupt keine Türkeipolitik haben. Haben wir kein Interesse am (Wieder-) Aufstieg einer (mehrheitlich) sunnitischen Macht in der Region, die mit Sicherheit rationaler agiert als unsere „moderaten arabischen Freunde“ und zugleich demokratischer ist und die Menschenrechte mehr achtet?