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Warum gegenüber Ägypten eine klare Sprache gefordert ist

Diesen Text haben mein Kollege Michael Thumann und ich zusammen für die letzte Ausgabe der ZEIT verfasst, wo er am Donnerstag auf Seite 3 erschienen ist:

Als am letzten Donnerstag die Bulldozer, die Panzer und die Sniper in Kairo zuschlugen, waren die beiden Diplomaten schon abgezogen. Voll finsterer Vorahnungen hatten die Vertreter des Westens Ägypten verlassen. William Burns, der amerikanische Vizeaußenminister, und Bernardino Léon, der europäische Sondergesandte, hatten wochenlang hinter den Kulissen versucht, zwischen der Putsch-Regierung des Generals Abdel-Fattah al-Sissi und den Muslimbrüdern zu vermitteln, um ein drohendes Blutbad zu verhindern. Sie hatten die Islamisten für ihren Vermittlungsplan gewonnen – freiwillige Verkleinerung der Protestlager und Verurteilung von Gewalt gegen politische Beteiligung und Freilas-sung von Gefangenen. Auch die Regierung signa-lisierte Einverständnis. Doch dann erklärte sie über Nacht die Diplomatie für gescheitert und kündigte an, für alles Kommende trügen die Muslimbrüder die Verantwortung.

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Das Ende der Zwei-Staaten-Lösung

Aus der ZEIT vom 17.1.2013, S. 3:
In diesem einen Wort schnurrt die gesamte Nahostpolitik der letzten Jahrzehnte zusammen: Zwei-Staaten-Lösung. Auf Konferenzen von Madrid über Oslo bis nach Annapolis rangen Präsidenten, Premiers und Kanzler darum. Nahostquartette, Sonderbeauftragte, Roadmaps – alles richtete sich immer auf dieses Ziel. Hier bestand ein seltener Konsens der Weltgemeinschaft, geteilt von Amerikanern, Europäern, Russen, Chinesen: Wir wissen vielleicht nicht, wie wir dahin kommen, aber wir wissen, was beim »Friedensprozess« zwischen Israelis und Palästinensern herauskommen muss: zwei Staaten für zwei Völker.
Weil diese Idee so evident klingt und so allgemein anerkannt ist, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass die Zeit über sie hinweggehen könnte – ohne dass es eine überzeugende Alternative gibt. Doch genau das passiert gerade. Das Fundament der Nahostdiplomatie zerbröselt.
Diese Idee hat den überkomplexen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf einen schlichten menschlichen Kern zurückgeführt: Die anderen gehen nicht weg, sie bleiben da und haben das Recht, nach eigenem Gusto zu leben. Und das geht nun mal am besten in zwei Staaten.
Widerstand dagegen hat es immer gegeben. Kein Wunder: Die vermeintlich göttlich sanktionierten Ansprüche beider Seiten, Leid, Vertreibung, Terror, die Tragik von hundert Jahren Kampf – all das soll in der Idee von den zwei Staaten versachlicht und entgiftet werden. Von den Palästinensern verlangt dies, sich von der Illusion zu verabschieden, Israel sei ein Irrtum der Geschichte, der sich wieder korrigieren ließe. Für die Israelis heißt es, zu erkennen, dass ihr Staat nur dann jüdisch und demokratisch bleiben kann, wenn sie die Besatzung beenden und das Land teilen. Die Zwei-Staaten-Lösung war stets eine Zumutung für die Träumer des Absoluten, von denen es im Heiligen Land auf beiden Seiten allzu viele gibt.
Das Oslo-Abkommen vom September 1993 hat sie offiziell zum international akzeptierten Programm ausgerufen. Neuerdings aber klingen die Bekenntnisse verräterisch mau: Es gelte, »die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung offenzuhalten«, betonten die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands Ende letzten Jahres im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
Und dann geschah etwas, womit niemand rechnete: Die israelische Regierung handelte genau entgegengesetzt. Sie konterte die Sorgen ihrer Partner mit der Genehmigung weiterer Siedlungen in besonders sensiblen Gebieten.

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(Diese Karte zeigt die Zerklüftung des Westjordanlands in Autonomiezonen, die den Palästinensern teils allein (A, dunkelgrün) oder auch in geteilter Verantwortung mit den Israelis (B, hellgrün) unterstehen. Die Zonen C, in denen allein Israel die Verantwortung hat und die Siedlungen liegen, sind als Wasser dargestellt: Es gibt nur Inseln der Autonomie, das Westjordanland ist ein Archipel. Quelle: Strange Maps.)

Das war ein Schock für die israelfreundliche Bundesregierung, die eben noch Netanjahus Militärschläge gegen die Terroristen in Gaza verteidigt hatte: eine Demütigung auf offener Bühne. Wer sich umhört, trifft bei Berliner Diplomaten seither auf einen verbotenen Gedanken: Kann es sein, dass die Zwei-Staaten-Idee tot ist? Und wenn sich das herumspricht: Was dann?
Es gibt derzeit täglich neues Futter für solchen Defätismus. Am kommenden Dienstag wird in Israel gewählt. Der Wahlkampf gibt den Blick auf einen radikalen Wandel der politischen Kultur in Israel frei. Der Schriftsteller Amos Oz, Doyen der Friedensbewegung, mahnt, diese Wahl sei von »existenzieller Bedeutung«. Doch der »Friedensprozess«, für den Oz wirbt, ist ein Verliererthema geworden, das politische Karrieren vernichtet. Für keine Partei außer der Splittergruppe Meretz – Oz’ politische Heimat – steht die Lösung des Konflikts überhaupt noch auf der Tagesordnung. Es gibt in Israels Parteienlandschaft keine relevanten Kräfte mehr, die für ein Abkommen mit den Palästinensern eintreten.
Die Arbeitspartei hat sich ganz auf Wohnungs- und Käsepreise verlegt. Jedes Mal wenn die ehemalige Außenministerin Zipi Livni zaghafte Andeutungen macht, man solle verhandeln, sinken ihre Umfragewerte weiter. Die politische Mitte – von den Linksliberalen bis zu den moderaten Rechten – ist implodiert. An ihre Stelle drängt eine neue, kraftvolle Rechte, angetrieben vom Erfolg der nationalreligiösen Siedlerlobby. Ihre Positionen galten einmal als extrem. Nun sind sie Mainstream. Die Nationalreligiösen haben es geschafft, sich als das neue spirituelle Zentrum des Landes darzustellen. Ihr wichtigstes Projekt ist die Verhinderung der Zwei-Staaten-Lösung.
Dieses Projekt hat ein neues, frisches Gesicht. Der Star des Wahlkampfs ist der 40-jährige Ex-Unternehmer und Elitesoldat Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei »Jüdische Heimat«. Er spricht fließend Englisch, hat in Amerika als erfolgreicher Softwareunternehmer Millionen gemacht und war Offizier in einer prestige-reichen Antiterroreinheit der israelischen Armee. Er gibt einem extremen Programm ein modernes Flair, das ihn für junge Konservative anschlussfähig macht. Er hat einen eigenen Friedensplan, der ganz ohne Beteiligung der Palästinenser auskommt. Der Bennett-Plan sieht vor, dass Israel jene Gebiete im Westjordanland formell annektiert, die seit dem Oslo-Abkommen bereits unter israelischer Militärkontrolle stehen. 60 Prozent des Landes, auf dem ein palästinensischer Staat entstehen soll, würden damit offiziell Teil Israels. Im verbleibenden Rest dürfen sich die Palästinenser lediglich selbst verwalten: keine Souveränität, keine Staatlichkeit, kein Zugang nach Jerusalem. Bennett hat sein politisches Handwerk im Büro von Benjamin Netanjahu gelernt, dessen Stabschef er war. Seinen ehemaligen Chef treibt er jetzt vor sich her. 25 Prozent der Likud-Wähler hat er bereits für sich gewonnen.
Im Vergleich mit Bennett wirkt Netanjahu moderat, und das ist im heutigen Klima gefährlich. 2009 hatte Netanjahu auf amerikanischen Druck hin erklärt, einen Palästinenserstaat zu akzeptieren. Selbst dieses taktische Zugeständnis gilt nun schon als Ausweis mangelnder Härte. Der Likud-Chef rückt darum immer weiter nach rechts. Er macht Wahlkampf in illegalen Siedlungen und präsentiert sich als Verteidiger der Besatzung gegen internationalen Druck.
Der Rechtsruck in Israel hat seine Entsprechung auf der palästinensischen Seite. Die arabischen Revolten bringen überall in Israels Nachbarschaft den politischen Islam an die Macht – wie in Ägypten, so vielleicht schon bald in Syrien und Jordanien. Es ist möglich, dass Israel demnächst vollständig von islamistisch dominierten Staaten umgeben sein wird. Dass der Muslimbruder Mohammed Mursi, der neue starke Mann in Kairo, im letzten Gazakrieg mit Hamas vermittelte, hat man in Israel mit Erleichterung aufgenommen.
Unvergessen bleibt aber, dass Mursi noch 2010 von Israelis als »Kriegshetzern« und »Abkömmlingen von Affen und Schweinen« gesprochen hat. Und Hamas, als Ableger der Bruderschaft entstanden, scheint weit davon entfernt, ihre jahrzehntelange Israelfeindschaft zu revidieren. Den Aufstieg des Islamismus in der Region sieht sie als Zeichen, dass die Geschichte für sie arbeitet. Hamas-Politbürochef Khaled Meschal erging sich bei der Siegesparade nach dem Gazakrieg vor Zigtausenden Anhängern in Vernichtungsdrohungen: »Palästina gehört uns ganz, vom Norden bis zum Süden, vom Meer bis an den Jordan. Es wird keinen Zentimeter an Zugeständnissen geben. Wir werden Israel nie anerkennen.« Meschal hat Chancen, eines Tages in Ramallah als erster islamistischer Präsident aller Palästinenser zu regieren.

Dass das Siedlungsprojekt in der Mitte der israelischen Gesellschaft Unterstützung findet und dass bei den Palästinensern die Islamisten tonangebend werden – beide Prozesse stehen für eine Abkehr von der Zwei-Staaten-Idee. Es besteht die Gefahr, dass sie sich wechselseitig verstärken. Um diesen Mechanismus zu verstehen, muss man die widersprüchlichen Erzählungen betrachten, die in Israel und in Palästina über das Scheitern des »Friedensprozesses« entstanden sind. Sie laufen auf die gleiche Pointe hinaus: dass es mit denen da drüben keinen Frieden geben wird.
Die israelische Variante lautet: Wir haben verhandelt und Angebote gemacht, und wir haben den Palästinensern Autonomie gegeben. Doch sie haben mit Terror reagiert. Wir sind aus dem Libanon und aus Gaza abgezogen, und zum Dank hat es Raketen geregnet. Wer garantiert, dass das nicht auch passiert, wenn wir uns aus dem Westjordanland zurückziehen?
Die palästinensische Variante geht so: Die Israelis haben uns in Oslo Autonomie gegeben und einen eigenen Staat versprochen. Aber seither bauen sie immer neue Siedlungen, um diesen Staat zu verhindern. Heute gibt es doppelt so viele Siedler wie vor zwanzig Jahren. Wie können wir glauben, dass sie jemals abziehen werden?
Beide Versionen sind einseitig. Hier wird der Terror ausgeblendet, dort fehlen die Siedlungen. Aber beide Geschichten sind nicht ganz falsch. Und das macht Verhandlungen so fruchtlos.
Die jüngsten Schachzüge beider Seiten zeigen, dass die Zeit nach dem Friedensprozess schon begonnen hat. Die Ankündigung der israelischen Regierung, im Gebiet »E1« östlich von Jerusalem zu bauen, steht dafür. Die neue Siedlung würde das Westjordanland entzweischneiden und den Zugang zu Ostjerusalem, der designierten palästinensischen Hauptstadt, erschweren. Der Palästinenserstaat wäre von E1 wie durchgestrichen.
Der palästinensische Präsident Abbas droht im Gegenzug, den Israelis »die Schlüssel« für seine Behörde zurückzugeben und seine Regierung aufzulösen. Israel müsste dann offen über die Palästinenser herrschen, und Abbas wäre den Ruf los, ein »Kollaborateur« der Besatzer zu sein. Macht er seine Drohung mit dem politischen Selbstmord wahr, käme das Ergebnis Bennetts Plan erstaunlich nahe.
Unabhängig davon wachsen zugleich die Siedlungen und die palästinensische Bevölkerung unter der Besatzung. 42 Prozent des Landes werden heute schon von Sicherheitskorridoren der Armee beansprucht. Mehr als eine halbe Million Israelis leben auf Grund und Boden, den Palästinenser als ihren ansehen. 2016 werden die Bevölkerungszahlen der Araber in Israel und den palästinensischen Gebieten mit denen der Juden erstmals gleichziehen, 2020 wird es mehr Araber als Juden im Heiligen Land geben: Demografie gegen Demokratie.
45 Jahre dauert die Okkupation bereits. Die dritte Generation Besatzungssoldaten steht heute der dritten Generation Besetzter gegenüber. »Temporär« ist das nicht. Mit jedem Tag, an dem nicht verhandelt wird, verfestigt sich die Ein-Staat-Realität, und die Zwei-Staaten-Lösung wird Geschichte.
Was soll die Diplomatie ohne ihre Leitidee machen? Es gibt keinen Plan B, nur bange Erwartungen beim Gedanken an den Augenblick, in dem der Bluff auffliegt. Naftali Bennetts Eintritt in Netanjahus Regierungskoalition könnte dieser Moment sein. Die deutsche Regierung blickt mit trotziger Hoffnung auf Obama, der – bitte! – in seiner zweiten Amtszeit noch einmal kräftig auf den Tisch hauen möge. Nichts spricht dafür. Obama hat schon einmal versucht, Verhandlungen anzubahnen, und wurde von Netanjahu schmerzlich gedemütigt. Er glaubt seither, wie er an den Nahostexperten Peter Beinart durchstechen ließ, dass Netanjahu »nur die Fassade eines Friedensprozesses braucht, um sich von internationalem Druck abzuschirmen«. Dabei will die amerikanische Regierung nicht mehr mitspielen. Die deutsche sollte das auch nicht tun.
Der internationale Druck wird wachsen, auf beide Seiten. Deutschland wird sich nicht mehr bedingungslos vor Israel stellen. Das war die -eigentliche Botschaft hinter der deutschen Enthaltung bei den Vereinten Nationen, wo die Palästinenser im vorigen November um die symbolische Stärkung ihrer Staatlichkeit kämpften: Gegen diese Initiative zu stimmen wäre ein Votum gegen die eigene Politik gewesen, die an der Zwei-Staaten-Lösung festhält. Israel, glaubt die Bundesregierung, braucht einen Palästinenserstaat fast noch dringender als die Palästinenser. Eine »Ein-Staat-Lösung« liefe auf das Ende jüdischer Selbstbestimmung oder auf ein Apartheidregime hinaus.
Es kommt eine Zeit des Durchwurstelns. Was an ihrem Ende stehen kann, ist ungewiss – aber um überhaupt nach neuen Wegen zu suchen, braucht es erst einmal Ehrlichkeit: Die Zwei-Staaten-Lösung ist eine Hoffnung von gestern. Sie rhetorisch zu konservieren, während man ihr real keinen Inhalt mehr zu geben vermag, ist keine Erfolg versprechende Politik.
Ein Kollaps der Autonomiebehörde, ein Sieg der Islamisten sind wahrscheinlicher geworden. Kann sich Präsident Abbas behaupten und die Palästinenser auf den Weg des gewaltfreien Protests führen, wird die Welt ihn unterstützen. Ohne die Perspektive der zwei Staaten wird die Lage in jedem Fall gefährlicher, vor allem für Israel: Denn in der trügerischen Hoffnung auf eine Lösung, die nach der nächsten Verhandlungsrunde zu warten schien, ließ es sich mit vielem leben – Unterdrückung und Besatzung, Unsicherheit und Terror erschienen als Geburtswehen normaler Staatlichkeit.
Wenn dieses Ziel auf lange Sicht, wenn nicht gar für immer, unerreichbar scheint, ist damit nicht die Nahostpolitik zu Ende. In gewisser Weise fängt sie erst an: Deutschland muss zugleich druckvoller und flexibler agieren. Das kann zum Beispiel heißen, sich einerseits einem Boykott israelischer Güter entgegenzustellen, zu dem jetzt schon Briten und Dänen aufrufen. Eine Isolierung hilft ja wieder nur den Extremisten, die von Europa ohnehin das Schlimmste erwarten. Keine Handbreit denen, die Israels Existenzrecht bestreiten: Daran gibt es nichts zu rütteln, mögen die Muslimbrüder auch noch so erfolgreich sein. Andererseits muss Deutschland jeden friedlichen Kampf der Palästinenser für ihre Bürgerrechte viel kraftvoller unterstützen.
Schwindet die Hoffnung, dass diese Rechte in einem eigenen Staat realisiert werden können, wird der Druck auf Israel wachsen, sie hier und jetzt zu gewähren.

 

Wie Nasser einmal einen Witz über die Muslimbrüder machte

Dieses Video ist sehr erhellend über den Wandel in Ägypten. Gamal Abdul Nasser erzählt hier, dass er mit den Muslimbrüdern einmal habe zusammenarbeiten wollen, „um sie auf den rechten Weg zu bringen“. Die erste Forderung des Führers sei gewesen, das Kopftuch zwingend einzuführen. Daraufhin lacht SPONTAN das Publikum. Kann man sich etwas Absurderes vorstellen! Die Frauen unters Kopftuch zwingen! Einer ruft gar: Soll er es doch selber tragen!
Dann kommt Nassers trockene Pointe: Er habe dem Führer der MB geantwortet: Haben Sie nicht eine Tochter, die Medizin studiert? Die trägt aber nicht Kopftuch! (Gelächter, abermals) Und wenn es nicht möglich ist, eine Frau unters Kopftuch zu zwingen, wie soll ich dann 10 Millionen Ägypterinnen dazu zwingen? (Gelächter).
Gut gegeben. Aber gewonnen hat die MB. Heute gibt es in Ägypten so gut wie keine Frau mehr ohne Kopftuch. Es sei denn, sie ist eine sehr mutige Christin, oder sehr privilegierte Frau, die sich zu schützen weiß und die Straße meidet. Und alles selbstverständlich völlig freiwillig.
Wer sich trauen würde, in Ägypten öffentlich über die MB in dieser Weise zu scherzen wie es Nasser tut, müsste hingegen mit einem Blasphemieprozess rechnen.

 

Ein koptischer Bischof will Ägypten verändern

Die letzte Woche habe ich in Ägypten verbracht, in Begleitung des Koptisch-Orthodoxen Bischofs Anba Damian, der für die ägyptischen Christen in Deutschland zuständig ist. Bischof Damian war wegen der Papstwahl in seinem Heimatland, ich konnte die Synode am letzten Montag aus nächster Nähe erleben. Die Reise war Teil einer Langzeitrecherche über Christen im Nahen Osten. Ein Dossier zum Thema soll Ende November in der ZEIT erscheinen. Von meinen Eindrücken kann ich darum hier vieles leider nicht vorab teilen. 

Eine Begegnung aber, die durch Bischof Damian möglich wurde, hat mich sehr bewegt, und über sie will ich einiges mitteilen. Wir trafen Bischof Thomas, einen Freund von Anba Damian, in seinem Projekt namens „Anafora“ 120 Kilometer nördlich von Kairo. Dort hat er mir seine Geschichte erzählt und seinen Eindruck von der Lage der Kopten geschildert. Anders als viele eher vorsichtige und diplomatische Kirchenmänner ist Bischof Thomas ein Freund deutlicher Worte. 

Der Bischof sagt, Ägypten brauche „weniger Religion“. „Die Religion erstickt uns in diesem Land.“ Das ist nicht die einzige erstaunliche Aussage dieses freien Kopfes.

Bischof Thomas wurde 1957 in Kairo geboren, in einer der reichen koptischen Familien. Seine Großmutter war berühmt für ihre Mildtätigkeit. Im Haus der Familie richtete sie eine Suppenküche für die Armen ein. Jeden Tag wurden die Armen an einem besonderen Hintereingang gespeist. Als Thomas 9 Jahre alt war, kam er in Konflikt mit der Großmutter. Er wollte die Armen ins Haus lassen, um sie dort zu speisen. Als die Großmutter insistierte, dass sie nur in der Suppenküche essen durften, begann der Junge, demonstrativ und aus Protest mit den Armen zu essen. Dort traf er einen Mann, der über der traditionellen Jallabia ein teures, aber schmutziges Jackett trug. Er roch schlecht und war sehr schüchtern, er hatte einen weißen Bart. Der Junge kam mit dem Mann, der Gawardy hieß, ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass Gawardy ein sehr belesener Mann war. Er trug immer ein Buch unter seinem Jackett mit sich herum. „Du mußt mehr lernen“, sagt er dem Jungen. Der Junge drängte seine Familie, den weisen Mann zu treffen. Doch die Großmutter insistierte: „Wir geben ihm, was er braucht, aber er kommt mir nicht ins Haus.“ Gawardy führte den jungen Thomas zu den Antiquaren in der Nähe der Kairoer Oper und zeigte ihm die Welt der Bücher. Von seinem Taschengeld konnte er sich hier eine ganze Bibliothek zusammenkaufen. „Gawardy, dieser stinkende arme Schlucker, hat mir ein ganzes Universum erschlossen.“

Anba Thomas, Bischof der Koptischen Kirche in Oberägypten    Foto: J.Lau


Eines Tages kam Gawardy nicht mehr zur Armenspeisung. Eine Woche suchte der Junge nach ihm, zunehmend verzweifelt, bis er in einer Kirchengemeinde einen Priester fand, der sich einen Mann in Jellabia und Jackett erinnerte: „Er ist tot, wir haben ihn vor zwei Tagen beerdigt. Keiner hat nach ihm gefragt. Er hatte wohl niemanden.“
Bis heute, sagt Bischof Thomas, der damals 11 war, „suche ich nach Gawardy.“ Mit seiner Großmutter hat er sich eines Tages versöhnt, „nicht aber mit der ungerechten ägytpischen Gesellschaft“. Er ist Bischof geworden, um – bildlich gesprochen – die Gawardys ins Haus zu bringen.
Er hat als Bischof ein eigenes Haus geschaffen, um dies zu tun. Es heißt „Anafora“ und liegt 120 Kilometer nördlich von Kairo auf dem Weg nach Alexandria. Eigentlich ist es eine Farm, ein Konferenzzentrum, ein Hotel und ein Kloster zugleich.
Er wollte ursprünglich nicht in der Öffentlichkeit wirken. Das Mönchsleben  war seine Sehnsucht, als er in die Kirche eintrat. Der Papst aber schickte ihn als jungen Priester zur Mission nach Kenia. Immer wieder schickte er Bittbriefe an das Patriarchat, er wolle in sein Kloster zurückkehren. Dann, 1988, kam die Order, sofort nach Kairo zurückzukehren. Statt der erhofften Rückkehr ins Kloster eröffnete der Papst ihm seine Absicht, ihn zum Bischof zu weihen.

Für den erst 31jährigen Thomas war das ein Schock, denn der weg zurück ins Mönchsleben war damit verschlossen. Er wurde nach Oberägypten geschickt, wo die meisten Kopten als arme, ungebildete und unterdrückte Landbevölkerung leben: „Als Bischof wollte ich die stützende Hand sein, die die Menschen aufrichtet, nicht die hand, die von oben herab herrscht.“ In Oberägypten habe er schnell gelernt, dass die Menschen nicht nur Nahrung und Kleidung brauchen, sondern vor allem Bildung. Er begann mit der Gründung von Schulen und Kindergärten.

Nach einer Weile wurde ihm deutlich, dass man den Menschen eine Chance geben musste, aus ihrem Umfeld zu entkommen, damit sie sie sich nachhaltig verändern konnten. So kaufte er mit Spendengeldern das Land – ein Stück Wüste an der Autobahn nach Alexandria-, wo dann nach und nach „Anafora“ entstand. In Oliven- und Palmenhainen, Mango- und Kartoffelfeldern lernen die Schüler aus Oberägypten moderne landwirtschaftliche Methoden. In der Küche und im Gastbereich können sie Fähigkeiten für den Broterwerb jenseits der Landwirtschaft erlernen. Ebenso wichtig wie diese Fähigkeiten ist aber die Erfahrung einer würdigen Behandlung. Die „Gawardys“ treffen hier auf reiche Leute, die nach Anafora kommen um sich zu erholen.

Bischof Thomas in seinem Zentrum „Anafora“      Foto: J. Lau

 

Der Bischof lehrt sie, zu den Reichen nicht aufzuschauen, sondern sich als gleichwertige Menschen zu benehmen. „Wir lehren übrigens auch die Frauen hier, dass sie den Männern gleichgestellt sind.“ Wenn sie mit dieser Einstellung zurück auf die Dörfer gehen, wo sie weder ihren Vätern noch ihren Brüdern widersprechen dürfen, finden sie dort Mentoren vor, die ihnen helfen, sich nicht wieder einschüchtern zu lassen.

Die ägyptische Gesellschaft, sagt der Bischof, brauche drei Transformationen: von der Hierarchie zur Gemeinschaft, von der Geschlechterunterdrückung zur Gleichheit, von der religiösen Rigidität zur offenen Spiritualität. „Es ist vielleicht ungewöhnlich, wenn ich das als Bischof sage, aber ich wünsche mir weniger öffentliche Religion in unserem Land. Alles wird hier zur religiösen Angelegenheit, selbst die Luft die wir atmen und das Wasser das wir trinken. Auch das Geld ist zur religiösen Sache geworden. Die Religion legt sich über alles, so dass das Land darunter erstickt. Ich bin ein Bischof, aber ich lehne es ab, alles in religöse Schubalden einzusortieren.“
Bischof Thomas war anfangs begeistert von der Revolution. Er hat das Regime Mubaraks immer verachtet und auch offen kritisiert. Er hatte die Hoffnung, dass Ägypten sich mit der Revolte der jungen Leute wieder zur Welt öffnet, dass „Ägypten wieder kosmopolitisch wird, wie es Alexandria zu seinen besten Zeiten einmal war. Und das ist auch immer noch möglich.“ Die Menschen, sagt er, haben einen Moment der Freheit erlebt, ihre Stimme zählte plötzlich, die Verjagung Mubaraks war ein Augenblick der Würde. Die an der Revolte beteiligten Christen kamen den liberalen Muslimen sehr nah während dieser Zeit.

Um so größer war der Schock darüber, dass die konservativen islamistischen Gruppen wie die Muslimbrüder und die Salafisten die Macht übernehmen konnten. Nun macht die Angst die Runde, dass die immer schon vorhandene versteckte Diskriminierung zu einer offenen Unterdrückung wird. Angst ist schlecht für die Demokratie, meint der Bischof, weil „die Hälfte der Demokratie daraus besteht, aus freien Stücken nein sagen zu können.“

Zweifellos werde das Land nun weiter islamisiert werden, und die Kopten gerieten dadurch in eine generelle Atmosphäre des Drucks. Für die Opfer der Anschläge von Nag Hammadi, Alexandria und Maspero hat es bis heute keine Anerkennung und keine Gerehtigkeit gegeben. Das nährt vor allem bei gut ausgebildeten und vernetzten Eliten das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und den Wunsch nach Auswanderung. „Unsere Elite verläßt das Land, wie sehr ich auch dagegen rede und dage, sie sollen hier bleiben und kämpfen.“ Die Revoluion war ein Vorgeschmack der Freiheit, aber die Demokratie muss noch errungen werden. „Demokratie ist nicht einfach die Herrschaft der Mehrheit. Eine Mehrheit, die der Minderheit keinen Raum lässt, sich frei zu entfalten, ist nicht demokratisch. Demokratie funktioniert nur, wenn jeder Mensch die Verantwortung akzeptiert, den anderen diesen Raum offen zu halten, den sie brauchen.“
Die Zukunft der Kopten sieht der Bischof nicht in Minderheitenrechten: „Wir müssen für allgemeine Rechte kämpfen. Ich bin zuerst Mensch und dann Kopte. Eine Minderheit kann nicht ohne die Mehrheit überleben. Manchem liberalen Moslem fühle ich mich näher als einem verbohrten Christen. Wir müssen mit den liberalen Gruppen zusammenarbeiten, um für einen säkularen Staat zu kämpfen, der Religionsfreiheit für alle garantiert – und das heißt auch Freiheit von der Religion für diejenigen, die nichts damit zu tun haben wollen. Es ist mir ein Ärgernis, dass in meinem ägyptischen Pass steht, dass ich Christ bin. Das hat dort nichts zu suchen. Wir wollen keinen religiösen Staat, nicht einmal einen christlichen. Alle religiösen Staaten der Geschichte sind gescheitert. Wenn es in die andere Richtung geht, und die Scharia mehr Einfluss auf die Gesetze bekommt, wird das zu noch mehr Segregation und weniger Gemeinsamkeit in Ägypten führen. Die fortschreitende Islamisierung und Arabisierung unserer Gesellschaft ist gefährlich. Ägypten muss eine säkulare Gesellschaft werden, weil das allen Bürgern erlaubt, zu wachsen und sich zu entwickeln, wenn sie wollen, auch spirituell.“
Im Jahr 2009 hatte der Bischof diese Vorstellungen in einem Vortrag in den USA bereits geäußert. Danach erschienen Dutzende Artikel, in denen er zum Verräter erklärt wurde. Man drohte ihm seine Staatsangehörigkeit zu entziehen, und er erhielt auch Todesdrohungen. Er ist aber immer noch da und nimmt kein Wort zurück. Er glaubt, dass für Ägyptens Christen harte Zeiten kommen, weil die Islamisten nun am Drücker sind. Aber den Moment der Freiheit und das Erlebnis der Würde kann man den Leuten nicht mehr nehmen: „Ich warte auf die zweite Phase der Revolution, in der die Menschen wirklich Besitz von ihrem eigenen Land ergreifen.“

 

 

Ägyptens Revolution: It’s All Over Now, Baby

Die Fragen aus meinem Post der letzten Woche über die Lage in Ägypten scheinen vorerst beantwortet: „Wieviel Freiraum wird das Militär dieser Entwicklung gewähren? Wird sich Ägypten mehr in Richtung der Türkei oder mehr in Richtung Pakistan entwickeln?“
Erstens: Keinen Freiraum. Zweitens: Eine Kombination von beiden: Die Auflösung des Parlaments und die folgende Verkündigung über die beschränkten Kompetenzen des kommenden Präsidenten lassen erkennen, dass das ägyptische Militär die Technik des „Soft Coups“ türkischer Provenienz beherrscht, um wie das pakistanische Militär („Military Inc.“) seine massiven (auch wirtschaftlichen) Interessen abzusichern. Klar ist jedenfalls, dass die Generäle beabsichtigen, das Land nicht zu demokratisieren.

Militärs halten seit vielen Jahrhunderten die Macht in den Händen am Nil – mal unter fremder Oberherrschaft, mal als Autokraten – warum sollten sie jetzt freiwillig die Macht abgeben?

Die ägyptische Revolution scheint vorerst abgebrochen. Ob sie auch schon gescheitert ist, weiß man noch nicht. Aber etwas ist zuende gegangen.

Als ich hier zuerst vor 5 Jahren über den ägyptischen Blogger Sandmonkey schrieb, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass er heute, im Sommer 2012, auf eine Revolution zurückblicken würde, die zwar den Diktator Mubarak hinweggefegt hatte, am Regime aber nichts grundsätzlich hat ändern können. Unvorstellbar schien so etwas damals. 2009 besuchte ich mit einer kleinen Delegation des damaligen Innenministers Schäuble Ägypten. Das einzige interessante politische Thema damals war, ob Omar Suleiman Mubarak nachfolgen würde – oder doch Gamal Mubarak, und ob sich damit also auch in Ägypten eine  Diktatorendynastie bilden würde, wie man sie aus Syrien kannte (und wie man sie bald, so vermutete man, in Libyen erleben würde). Die Ägypter, mit denen wir sprachen, schauderten bei der Vorstellung: „Wir sind nicht Syrien!“ Das war für die stolzen Ägypter extrem wichtig: Nicht ein Land zu sein, in dem die Menschen sich vor angemaßter Legitimität einer Fake-Dynastie beugen. Es ist eine Sache – und schlimm genug –, von Generälen oder Ex-Generälen regiert zu werden, und eine andere: von deren Söhnen. Vielleicht ist es das, was von der Revolution bleibt?

Sandmonkey, dessen wahren Namen Mahmoud Salem wir seit der Revolution kennen (immerhin, es gibt weniger Angst in der Gegenöffentlichkeit!), hat nun in einem bewegenden Blogpost das erste Kapitel der Revolution für beendet erklärt.

We went into the revolution with the same thinking that people like me had back in 2005: we must remove Mubarak, stop his son from inheriting us, and get democratic elections. All of us had those goals and not a single vision on what to do afterwards, because the removal of Mubarak was such a pipedream. So, you successfully dethrone a tyrant, and you have neither plan nor vision on what to do afterwards, and no real understanding of the regime itself, then, quite naturally, you fall flat on your face, and we have been doing that for the past 18 months.

Sandmonkey schreibt in seinem Post auch, dass er einen ungültigen Wahlzettel abgegeben hat. Unter den Revolutionären, auch bis in säkular-liberale Zirkel hinein, hatte es vor der Wahl eine Debatte gegeben, ob man dem Muslimbruder Mursi nicht doch den Vorzug vor Achmed Schafik geben müsse, dem letzten Premierminister Mubaraks, und damit einem Kandidaten des Alten Regimes. Sandmonkey weigert sich, sich eine solche Alternative aufzwingen zu lassen.

I invalidated my vote, mainly because I refuse to succumb to fear-politics and thinking that they both suck as candidates. That being said, I have been under continuous attack from many of the revolutionaries for not supporting Morsy. Well, my dear friends, I am sorry that you are a bunch of cowards that let your fear control your political choices. I am not that kind of man. If I attacked Morsy, it’s because I don’t want him being dubbed the revolution’s candidate, because he simply isn’t, and will never be in my eyes. Our revolution called for a civil state: nonreligious, non-military, and this guy will try to form a religious military state. The people who supported Morsy, believing that the MB will change or be democratic, are really 3 groups: 1) People pissing in their pants out of fear, 2) People who made deals with the Brotherhood (…), and 3) people who are stupid enough to believe that the MB will change or not betray them the first chance they got.

Bemerkenswert ist nicht zum ersten Mal die Selbstkritik des Revolutionärs Mahmoud Salem. Er weist seine Freunde darauf hin, dass die „revolutionäre Legitimität“ aufgebraucht ist. Die Menschen wollen Ergebnisse sehen:

If you are a revolutionary, show us your capabilities. Start something. Join a party. Build an institution. Solve a real problem. Do something except running around from demonstration to march to sit-in.

Interessanter Weise ist Sandmonkey „weder deprimiert noch demotiviert“, und er zählt die Errungenschaften des letzten Jahres auf:

      • Hosny Mubarak, his son and his VP are not ruling us.
      • The NDP is broken into many different pieces
      • The next President is chosen through fair, competitive and democratic elections, not matter what the outcome.
      • Freedom of Expression, press and speech.
      • The weakening of the MB, the salafis, the end of using religious speech for political gains (Notice how Morsy didn’t say a single Sharia thing in the past 2 weeks)
      • Serious understanding to the nature of the state we live in and the roots of its problems, which we never really knew before.
      • Interlinking between individuals all over the governorates that would’ve never taken place otherwise.
      • Serious weakening of classism in a classist society
      • Incredible amount of art, music and culture that was unleashed all over the country
      • Entire generations in schools and universities that have become politicized, aware and active.
      • A serious evaluation of our intelligentsia and why they suck.
      • Discovering the difference between symbols and leaders, and our need for the latter than the former.

 

Sandmonkey hat sich seinen sarkastischen Humor bewahrt. In einem seiner Tweets von gestern schreibt er, diejenigen, die sich über die neiden Kandidaten beunruhigt haben – der Islamist gegen den Büttel der Militärs – könnten sich abregen, denn die Militärs hätten dafür gesorgt, dass jeder neue Präsident nicht mehr als ein Grüßonkel sein werde.

 

Warum die Salafisten in Ägypten triumphieren

Während Tunesien kaum ein Jahr nach dem Beginn der Revolte mit Moncef Marzouki  einen ehemaligen Dissidenten, einen säkularen Menschenrechtler als Präsidenten hat, macht Ägypten weiter Sorgen. Mir gefällt Marzoukis Wahlspruch auf seiner Website: „Il est idiot de vouloir changer le monde, mail il est criminel de ne pas l’essayer.“ Hoffen wir, dass er nicht der neue Bazargan wird. Aber bisher sieht es in Tunesien nicht so schlecht aus. Schwer vorstellbar, dass sich dort die ohnehin moderateren Islamisten der Ennahda von Rashid Ghannouchi zu selbstmörderischen Forderungen hinreißen lassen würden, man brauche nun getrennte Strände für Männer und Frauen, ein allgemeines Alkohol- und Bikiniverbot und dergleichen. Für den Tourismus, eine der Lebensadern Tunesiens, wäre das tödlich.

In Ägypten spielen einige der siegreichen Muslimbrüder und noch mehr die Salafisten öffentlich mit solchen Gedanken. Der Rückgang des Tourismus um 35 Prozent im letzten Jahr wird sich fortsetzen, wenn die Verhüllten und die Bärtigen ans Ruder kommen sollten.

Auf dem sehr lesenswerten Blog The Arabist ist ein Bericht von AP dokumentiert, der die Lust von Teilen der MB und der Salafisten an der Kulturrevolution belegt:

 

Islamists are dominating Egypt’s elections and some of them have a new message for tourists: welcome, but no booze, bikinis or mixed bathing at beaches, please.

That vision of turning Egypt into a sin-free vacation spot could spell doom for a key pillar of the economy that has already been badly battered by this year’s political unrest.

„Tourists don’t need to drink alcohol when they come to Egypt; they have plenty at home,“ a veiled Muslim Brotherhood candidate, Azza al-Jarf, told a cheering crowd of supporters on Sunday across the street from the Pyramids.

„They came to see the ancient civilization, not to drink alcohol,“ she said, her voice booming through a set of loudspeakers at a campaign event dubbed „Let’s encourage tourism.“ The crowd chanted, „Tourism will be at its best under Freedom and Justice,“ the Brotherhood’s party and the most influential political group to emerge from the fall of Hosni Mubarak

(…)

Also, clerics like Yasser Bourhami, influential among hard-line Salafis, are presenting ideas for restrictions on tourism. Bourhami calls it „halal tourism,“ using the term for food that is ritually fit under Islamic law.

„A five-star hotel with no alcohol, a beach for women — sisters — separated from men in a bay where the two sides can enjoy a vacation for a week without sins,“ he said in an interview with private television network Dream TV. „The tourist doesn’t have to swim with a bikini and harm our youth.“

A leading member of Al-Nour, Tarek Shalaan, stumbled through a recent TV interview when asked about his views on the display of nude pharaonic statues like those depicting fertility gods.

„The antiquities that we have will be put under a different light to focus on historical events,“ he said, without explaining further.

He also failed to explain whether hotel reception clerks will have to start demanding marriage certificates from couples checking in together.

„Honestly, I don’t know the Shariah position, so I don’t want to give an answer,“ he said.

Nach dem ersten Schock über die Gewinne der MB, vor allem aber der Salafisten, hat die Suche nach den Gründen begonnen. Mir erscheint bisher ein Bericht von David Kirkpatrick in der NYT am überzeugendsten. Kirkpatrick beschreibt die Salafisten als erfolgreiche populistische Partei, die gezielt den Hass auf die liberale und säkularistische Elite schürt, die das Volk vergessen hat oder auf es herabschaut:

But when a few hundred men gathered last week in a narrow, trash-strewn lot between the low cinderblock buildings of this village near Cairo, what they heard from the sheiks, known as Salafis, was a blistering populist attack on the condescension of the liberal Egyptian elite that resonated against other Islamists as well.

“They think that it is them, and only them, who represent and speak for us,” Sheik Shaaban Darwish said through scratchy speakers. “They didn’t come to our streets, didn’t live in our villages, didn’t walk in our hamlets, didn’t wear our clothes, didn’t eat our bread, didn’t drink our polluted water, didn’t live in the sewage we live in and didn’t experience the life of misery and hardship of the people.”

“Brothers,” he continued, “we, the Salafis, the founders of Al Nour Party, were part of the silent majority.”

Die Muslimbrüder sind sehr viel mehr schon eine Mittelstandspartei geworden. Sie repräsentieren Ärzte, Ingenieure, Studenten, Geschäftsleute – lauter Menschen, die etwas zu verlieren oder zu gewinnen haben. Die Salafisten kümmern sich um die Vergessenen.

Kirkpatrick schreibt:

A closer examination of the Salafi campaigns, however, suggests their appeal may have as much to do with anger at the Egyptian elite as with a specific religious agenda. The Salafis are a loose coalition of sheiks, not an organized party with a coherent platform, and Salafi candidates all campaign to apply Islamic law as the Prophet Muhammad did, but they also differ considerably over what that means. Some seek within a few years to carry out punishments like cutting off the hands of thieves, while others say that step should wait for the day when they have redistributed the nation’s wealth so that no Egyptian lacks food or housing.

But alone among the major parties here, the Salafi candidates have embraced the powerful strain of populism that helped rally the public against the crony capitalism of the Mubarak era and seems at times to echo — like the phrase “silent majority” — right-wing movements in the United States and Europe.

“We are talking about the politics of resentment, and it is something that right-wing parties do everywhere,” said Shadi Hamid, director of research at the Brookings Doha Center in Qatar. They have thrived, he said, off the gap between most Egyptians and the elite — including the leadership of the Muslim Brotherhood — both in lifestyle and outlook.

Natan Field schreibt auf The Arabist, er sei nicht sehr überrascht gewesen über den Erfolg der Salafisten. Die populärsten TV-Kanäle seien bereits seit Jahren in den Händen der Salafi-Scheichs gewesen. Auch hätten sie nie die Politik gemieden, wie es die Legende vom salafistischen Quietismus will. Ihr Programm sei immer eminent politisch gewesen, nur nicht im den Termini der Mubarak-Herrschaft und des Widerstands gegen sie. Das macht sie jetzt gerade in der Zeit des Umbruchs so glaubwürdig. Field hält es für einen Fehler der Liberalen zu glauben, die Salafis seien eine fünfte Kolonne Saudi-Arabiens. Gewiß gebe es viele Spenden von dort (Zakat), aber der ägyptische Salafismus sei eine genuin einheimische Grassroots-Bewegung.

Wohin das alles führt, ist schwer zu sagen. Eien regierungsfähige Koalition mit diesen Leuten ist schwer vorstellbar. Sie würde das Land mit Sicherheit in den Abgrund führen, der sich jetzt schon auftut in Form einer drohenden wirtschaftlichen Katastrophe.

Jedenfalls scheint es, als würden die entscheidenden politischen Debatten über die Zukunft der arabischen Revolution zwischen verschiedenen Lagern des Islamismus ausgetragen (und nicht zwischen Säkularen und Religiösen). Hier ein Beispiel dafür, dass dieser Prozess schon begonnen hat. Der einflußreiche islamistische Intellektuelle Fahmi Howeidy schreibt sehr zugespitzt über einen salafistischen Kandidaten, der in Alexandria eine Stichwahl gegen einen Muslimbruder verloren hat, nachdem er zuerst haushoch in Führung gelegen hatte (Übersetzung auf Arabist.net):

 

I do not know Eng. al-Shahat personally, but whenever I heard him or followed him speaking in the media, I felt like he was launching a personal insult at me in my capacity as a researcher concerned with Islamic issues. When I learned of the final tally in the second round of elections in the al-Nuzha electoral district in Alexandria, I said that voters’ aversion to him was a sort of punishment vote against him for the statements he keeps spewing, especially as of late.  This is a story that deserves to be told.

In the first round of the election, Eng. al-Shahat captured about 191,675 votes, while his opponent, the independent lawyer Hosny Duwiedar — who received support from the Muslim Brotherhood — won 144,296 votes. He was known as an extremist ever since his days as a university student. We discovered him when he started appearing on satellite channels, and some newspapers vied with each other to shed light on him due to his perverse views that were considered rich game for those who like to hunt and provoke.

This was most evident when the host of a populist TV show invited him on and barraged him with questions that all focused on his views on people’s private lives, states of dress and undress, the hijab and the niqab, bathing suits, cabarets, alcohol, gambling, entertainment, etc. Our friend responded to all these questions in the negative, to the extent that it seemed like he wanted to overturn everything in society without any gradualism, moderation or compassion. The show’s host did not ask him about anything that concerns the masses like unemployment, education, health or development, but rather confined him to the problems of the elite and the interests of the upper class — which are the interests that most of the media still focuses on at the present time. The man subsequently attacked democracy and declared it to be bid’a, and he went back to talking about growing out beards, closing down banks, and banning bathing suits. We didn’t hear a word from him about what he could accomplish to benefit God’s creation. It was as if he didn’t want to leave the realm of bans and prohibitions, and give people hope in permissible and recommended acts (those which are encouraged or desirable).

Man kann nur hoffen, dass diese Debatten sich fortsetzen. Am Ende wird es nicht die schockierte Reaktion der Weltöffentlichkeit sein, die Ägyptens Islamisten auf einen mittleren Weg führt, wenn denn so etwas denkbar ist. Nur Kritik und Entzauberung von innen her können das leisten.

 

 

Ein islamistisches Ägypten?

Vor 6 Wochen hatte ich hier die These vertreten, dass die arabische Demokratie notwendiger Weise islam(ist)isch wird. Jetzt sehe ich mich vorläufig bestätigt durch das sich abzeichnende Ergebnis der ägyptischen Wahlen.

Etwas mehr bestätigt, als es mir lieb ist, offen gesagt. Nicht nur die sich abzeichnenden 40 Prozent für die Muslimbrüder, vor allem das voraussichtlich gute Abschneiden der Salafisten spricht dafür, dass die Islamisten jetzt in den arabischen Ländern einfach mal dran sind. Sie werden schon allein deshalb gewählt, weil sie die glaubwürdigsten Anti-System-Parteien sind, (noch) unkorrupt (weil sie keinen Zugang zu den Ressourcen hatten), umstrahlt vom Glorienkranz des Märtyrertums in den Zeiten der Diktatur.

Die interessante Frage ist, was passiert, wenn sie nun reale Politik machen sollen. „Der Islam ist die Lösung“ zu rufen ist ja nicht gerade abendfüllend. Und auch das bewährte Gefuchtel mit identitätsstiftenden Leib- und Magenthemen von der Scharia bis zu Israel macht niemanden satt und schafft keinen Job. Was nicht heißt, dass man mit dergleichen keine Chancen auf Mehrheiten hat. Denkbar ist, dass nun gerade die Identitätsthemen in den Vordergrund drängen, dass es ein großes islamistisches Aufwallen gibt – nun, da man endlich am Drücker ist. Für Frauen, für religiöse Minderheiten, für säkular und liberal gesinnte Menschen könnten harte Zeiten anbrechen.

Ed Husain, dessen Buch über seine eigenen Erfahrungen in der islamistischen Szene (Hizb-ut Tahrir, MB) ein Klassiker ist (The Islamist), beobachtet Ägypten mit zunehmender Sorge. Er hat jetzt in einer sehr interessanten Kolumne für die Herald Tribune von seinen Gesprächen mit Muslimbrüdern in Ägypten berichtet:

In coming months, not only in Egypt but in other countries across the region, the war of ideas between liberal secularists and Islamists will rage about their visions for how to succeed the fallen, secular dictatorships. But what does an Islamic state look like? What does it mean in real terms for countries such as Egypt, Libya or Tunisia?

I went to Egypt after the revolution to put these questions to leaders of the Muslim Brotherhood. Many had served prison sentences for their cause. I spoke with old-school hard-liners within the Brotherhood, such as the 83-year-old former leader, Mehdi Akef. I also spoke with the renowned liberal Abdel Moneim Abou el-Fotouh (now an independent presidential candidate in Egypt). I met with younger members of the Brotherhood, and its parliamentarians, such as Mohammad El-Beltagy.

I asked each of them, “What is an Islamic state?” The answers differed widely. For Akef, it was about Shariah becoming state law; for Abou el-Fotouh it was vaguely about social justice; for Beltagy it was responding to the needs of the people. For younger members, it was a liberal state reflective of Islamic values. When pressed, however, none of them could articulate what this new society might look like.

In some ways, this is good news, because it means some Islamists are open to persuasion and influence. In other ways, I thought, it was this very intellectual inconsistency that had led me to leave the Islamic movement; this incoherent and muddled worldview for which they expected me and other members to give their lives. Like Marxists, they had all sorts of criticism of state and society, but when pressed to provide policies for alleviating poverty in Egypt, they had no answers. To my mind, they were clutching at straws, because Islam has no specific prescription for government.

Husain, der sich vom Islamismus losgesagt hat, bleibt bekennender Muslim. Er hat die Vorstellung, dass man Scharia auch anders verstehen kann denn als Umsetzung archaischer Familiengesetze und Strafvorschriften in der heutigen Zeit.

I raised with Abou el-Fotouh the 800-year-old debate within Islam about what are called the maqasid, or aims, of the Shariah, which are to preserve life, property, religious freedom, family and knowledge. The Shariah is not about stoning and killing, I argued, but about the preservation of these five things. (…)

What stops today’s Arab Islamists from taking this approach to an Islamic state instead of advocating outdated, cruel punishments and the denial of rights to women?

I know from my time inside the Muslim Brotherhood that it spent five decades trying to survive, to escape the crackdowns of military dictatorships in the Arab world. Its members have not had the time and leisure to develop in the real world. Where they have — for example in Turkey — they have tended to become centrists and realists.

Nun ist die Lage in Ägypten aber anders als in der Türkei. Die Türkei hat ein Militär, das sich als Hüter der Republik versteht (selbst bei seinen Putschen) und sich zugunsten der zivilen Herrschaft zurückzuziehen bereit war. Die Modernität der Türkei beruht auf der Modernisierung und Säkularisierung von oben durch das Militär sowie auf der ökonomischen Liberalisierung in Kombination mit behutsamer Re-Islamisierung, beginnend unter dem Ministerpräsidenten Turgut Özal. Die AKP Erdogans hat die Früchte dieser Reformpolitik geerntet und diese Politik fortgesetzt. Es gab schon ein türkisches Erfolgsmodell, als die islamisch geprägte AKP an die Macht kam. Sie hat, auch unter dem Sog der EU-Beitrittsperspektive, den Özalschen Modernisierungskurs beibehalten und forciert. Das Militär ließ sich, wenn auch der „tiefe Staat“ weiter dagegenhält, mehr und mehr zurückdrängen.

Ägypten hat kein bereits erfolgreiches Modernisierungsmodell, das die Islamisten variieren könnten. Das Militär ist Teil der Kleptokratie, mit enormen wirtschaftlichen Interessen. Die ägyptischen Islamisten sind in weiten Teilen wesentlich radikaler als die türkischen, bei denen auch diverse Sufi-Orden eine große Rolle spielen. Einen „islamischen Calvinismus“, wie er bei vielen Unternehmern in der Türkei gegeben ist, sucht man in Ägypten vergebens. Und nun sind die Muslimbrüder auch noch durch die erstaunlich starken Salafisten von rechts her getrieben. Das macht es in meinen Augen eher unwahrscheinlich, dass wir in absehbarer Zeit eine starke Wirkung des türkischen Modells auf die ägyptischen Islamisten erwarten können.

Dennoch sollte gerade diese Entwicklung ein Mahnruf sein – auch an die deutsche Politik -, zu erkennen, welch eine Chance darin liegt, dass die Türkei ein erfolgreiches Modell der Versöhnung von islamisch geprägter Politik und säkularer Demokratie ist. Bei allen beunruhigenden Entwicklungen in der Türkei (Verhaftungen von Journalisten, Kujonierung von unliebsamen Verlagen): Der Westen braucht eine offensive und aktive Türkeipolitik jenseits der leidigen Beitrittsfrage. Zum Glück beginnen das in der CDU langsam auch jene Außenpolitiker zu kapieren, die einem EU-Beitritt nach wie vor skeptisch gegenüberstehen. Die Türkei macht Druck auf Syrien, die Türkei wendet sich von Iran ab (s. Raketenabwehr), sie ist ein wichtiger Spieler in der arabischen Welt und ein Wachstumsmotor der Region. Gegenüber den Bärtigen, die jetzt in Arabien an die Macht drängen, ist sie ein Beispiel dafür, dass auch ein mittlerer Weg möglich ist.

Husain schreibt:

With time, the Islamists, too, can be steered toward a Turkey-style combination of Islam and secular democracy.

Die Frage ist nur, wieviel Zeit hat Ägypten?

 

 

 

CR-Gas gegen Demonstranten: Ärzte vom Tahrir-Platz erheben schwere Vorwürfe

Ein zweiter Augenzeugenbericht von Kristin Jankowski aus Kairo:

„Er spricht nicht“, sagt die junge Ärztin Hend Khattab. Vor ihr sitzt ein Mann, eingewickelt in eine Wolldecke. „Er hat einen Schock“, spricht die 26-Jährige weiter. Er verdreht die Augen, zittert. Hend Khattab zählt zu den Ärzten, die die verwundeten Demonstranten in dem Stadtzentrum in Kairo versorgen. Die Omar Makram Moschee, die sich hinter dem Tahrir-Platz befindet, wurde zu einem Lazarett umgebaut. An der Wand stehen acht Liegen. Am Ende des Raumes liegen Handschuhe, Spritzen, Flaschen. Medikamente. Sogar kleine Milchpakete und Schokolade. „Das sind alles Spenden“, erklärt die Ärztin Nermeen Refaat Ayad. Sie trägt eine Atemschutzmaske um den Hals. „Ich habe schon fünf Männer sterben gesehen. Jeden Tag kommen rund 500 Patienten zu uns.“

Plötzlich wird das Zittern des jungen Mannes, der vor den beiden Ärztinnen sitzt, immer stärker. Er schließt die Augen. Seine Beine schlagen gegeneinander. Ärzte kommen hastig angelaufen, greifen ihn und tragen ihn zu einer Liege. Sie drehen ihn zur Seite, hauen ihm auf den Rücken. Er bekommt eine Injektion. „Das kommt von dem Tränengas“, kommentiert Hend Khattab und schüttelt den Kopf. „Wir bezahlen gerade den Preis dafür, dass wir 30 Jahre lang leise waren. Und das Regime einfach akzeptiert haben.“

Nermeen Refaat Ayad zieht Hend Khattab am Ärmel: „Wir gehen jetzt.“
Gemeinsam mit zwei weiteren Ärzten verlassen die beiden Frauen das Lazarett. Sie tragen Atemschutzmasken, Schutzbrillen, Helme, weiße Handschuhe.

Hend Khattab und Kristin Jankowski gestern abend in Kairo  Foto: privat

 

Ahmed Khattab, der Cousin der Ärztin Hend Khattab, folgt ihnen. Er sammelt Spenden für das Lazarett. Nun begleitet er das Team zu den Ausschreitungen in den Seitenstraßen. Der Ingenieur ist müde. Er hatte die Nacht zuvor nicht geschlafen. „Und ich muss heute Nacht noch weitere Spenden abholen“, sagt Ahmed Khattab. Das Team geht durch die Massen auf dem Tahrir-Platz. Sie stoppen an einem weiteren Lazarett, das sich am Rande des Platzes befindet. Sie tauschen sich mit ihren Kollegen aus.

Nur einige Meter weiter reiben sich die Menschen die Augen. Sie husten, beugen sich nach vorne. Tränengasangriff. Einige der Demonstranten fallen einfach in sich zusammen. Hend Khattab und Nermeen Refaat Ayad atmen durch die Atemschutzmasken. Ihre Augen sind trotz Schutzbrille gerötet. Starkes Husten ist zu hören. „Das ist der Horror“, sagt Hend Khattab.

Das Team macht sich auf den Weg zu den Ausschreitungen am Falaky-Platz. Am Straßenrand befindet sich Müll, kleine Feuer sind gelegt. „Wir gehen direkt zu den Ausschreitungen“, fordert Nermeen Refaat Ayad das Team auf.
Sie gehen in die enge und dunkle Straße hinein. Nur einige Meter weiter stehen die ägyptischen Sicherheitskräfte. Auf der Straße werfen Demonstranten mit Steinen. Molotowcocktails.

Die Polizei verschießt Tränengas. Die jungen Ärzte stellen sich schützend an den Rand. Doch die Wirkungen sind zu intensiv. Sie müssen fliehen, drängen sich durch die Menge, halten sich die Atemschutzmasken dicht an den Mund. Sie rennen davon, da das Atmen kaum möglich ist. Herzrasen.

Nach rund 300 Metern können sie endlich stehen bleiben, nehmen sich die Masken vom Gesicht und atmen tief ein. „Das ist CR-Gas„, sagt Nermeen Refaat Ayad. „Das wird auch als chemische Waffe eingesetzt“, fügt ein junger Arzt aus Alexandria hinzu. „Das Gas ist ganz merkwürdig hier. Wir brauchen unbedingt internationale Beobachter, die das Zeug überprüfen“, fordert Hend Khattab.

Die Ärzte sind bereits wieder auf dem Weg zu den Ausschreitungen. Um die Straßenecke taumelt ihnen ein junger Mann entgegen, er hustet, spuckt auf den Boden. Er wird von Demonstranten gestützt, die Ärzte nehmen ihn entgegen. Er bricht zusammen. Nermeen Refaat dreht den Mann zur Seite, fühlt seinen Puls. Er würgt. „Huste, huste!“ fordert sie ihn auf. Er beginnt an zu zittern. Immer mehr. Dann verliert er das Bewusstsein.
„Motorrad, Motorrad“ ruft die 31-Jährige. Sie dreht sich um. Männer kommen angelaufen. Sie heben ihn auf den Sitz eines Motorrades, das den Bewusstlosen zu einem Lazarett fahren wird.

„Das ist ein Verbrechen!“ sagt Hend Khattab. Und sieht das Motorrad davon fahren.

 

Mut der Verzweiflung auf dem Tahrir-Platz

Diesen Augenzeugenbericht von den heutigen Ereignissen auf dem Tahrir-Platz schickt mir Kristin Jankowski, die in Kairo lebt und arbeitet:

Er beugt sich nach vorne, hustet kräftig. Er spuckt auf den Asphalt. Und hustet noch einmal. Er schaut nach vorne, reibt sich ein Taschentuch über die Augen.

Vor ihm schießen die ägyptischen Sicherheitskräfte mit Tränengas. Ein weiterer Demonstrant kommt hastig anglaufen, greift ihm an die Schulter und reibt ihm Essig ins Gesicht.

Es ist ein Junge, nicht älter als 12 Jahre, der mit den Wirkungen des Tränengases kämpft. Seine Hose ist dreckig, seine Augen stark gerötet. Er lacht kurz auf und rennt wieder davon. Mitten in die Menge hinein. Dort wo gekämpft wird. An die Front. Es ist lebensgefährlich.

Seit Samstag mittag riecht es nach Tränengas in den Straßen von Kairo Downtown. Auf dem Tahrir-Platz sammeln sich immer mehr Menschen. Muslime, Kopten, Atheisten, Liberale ,Linke, Frauen und Männer. Kinder. Mehr Arme als Reiche. Trotz der angeblichen Unterschiede haben sie meist nur eines im Sinn: Den Sturz des Feldmarschalls Hussein Tantway, der nach dem Sturz von Hosni Mubarak das Land am Nil regiert. Gemeinsam mit dem Militärrat.

„Wir haben es satt“, sagt ein junger Mann, der auf einer Wiese eine kurze Pause macht. Seine Augen sind gerötet. „Wir wollen endlich in Freiheit leben. Und wir bleiben so lange hier, bis wir frei sind.“Er sieht optimistisch aus. Trotz des Chaos, das sich nur einige Meter vor ihm abspielt. Ärzte haben ein Lazarett aufgebaut, Decken sind auf dem Boden ausgelegt. Sie tragen weiße Kittel, sie reagieren in Windeseile auf die zahlreichen Verletzten, die angetragen werden. Demonstranten haben sich schützend aufgestellt um den Weg für die Motorräder und Mofas frei zu machen, die die Verletzten von der Front zu den Ärzten bringen. Im Sekundentakt rasen sie hupend durch die Menge. Meist sitzen drei Personen auf dem Sitz. Der Verletzte befindet sich in der Mitte. Oft blutend im Gesicht oder am Kopf. Oder bewusstlos vom Tränengas.

Doch die Gefahr scheint viele Demonstranten nicht abzuhalten gegen die Sicherheitskräfte zu kaempfen. Mit Steinen und Molotov-Cocktails lassen sie ihrer Wut freien Lauf. „Mir ist es egal, ob ich sterbe“ behauptet eine junge Frau. „Die Regierung tritt uns seit Jahren in den Arsch. Nun ist es Zeit, dass wir alle zurücktreten“, sagt sie. Lächelnd.

Und das obwohl sie am Samstag morgen von Sicherheitskräften verprügelt wurde. „Ich hatte sie als Arschlöcher bezeichnet und dann haben sie mich mit ihren Stöcken verdroschen. Aber ich bin stark. Ich kämpfe weiter“.

Nicht nur die politischen Forderungen scheinen die Menschen auf dem Tahrir-Platz derzeit zu vereinen. Es ist ein unbeschreiblicher Mut, der die Demonstranten auf die Strassen treibt. Sie haben von den vergangen Protesten im Januar und Februar gelernt. Diesmal tragen viele von ihnen Taucherbrillen, oder sie haben sich Motorradhelme aufgesetzt um sich vor Tränengas und Gummigeschossen zu schuetzen. Auf dem Tahrir-Platz wird nicht nur Tee und heiße Kartoffeln verkauft, es gibt sogar Atemschutzmasken im Angebot. Die mit einem Schutzfilter gibt es für 10 Pfund. Und die mit zwei Filtern sind für zwanzig Pfund erhältlich.

Es scheint so, als ob sich die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und den Seitenstraßen auf einen langen Kampf eingestellt haben.

Kristin Jankowski Foto: privat

 

Ägyptens neue Parteien

Ob es Wahlen in Ägypten geben wird am Ende dieser Woche? Im Moment ist das, nach den Ausschreitungen mit zahlreichen Toten, schwer zu sagen.

Für alle, die sich einen Überblick über die erblühende politische Landschaft in Ägypten verschaffen wollen, hat das Blog „The Arabist“ einen tollen Dienst geleistet – eine Karte der Parteien, inklusive Lagerzuordnung.