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Die Komiker-Nation Deutschland debattiert Beschneidungen

«Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation.»
Das hat die Kanzlerin mal was richtig erkannt.

Die Muslime hätte sie allerdings gerne einbeziehen können. Tut sie aber bezeichnender Weise nicht. Denn Ausgangspunkt der Debatte war ja der Fall eines vierjährigen Muslims. Dass die Oberstaatsanwältin, die den Fall in Köln vor Gericht brachte, auch gegen einen weißbärtigen Mohel vorgegangen wäre, kann ich mir nicht vorstellen. Noch fällt es schwer, sich auszumalen, dass wir demnächst wegen Körperverletzung einen Rabbiner in der Synagoge verhaften.

Nein, wohl eher nicht. Aber einem syrischstämmigen Arzt kann man eben schon mal die Instrumente zeigen. Es fällt in Deutschland einfach leichter, Muslime über ihr „Barbarentum“ zu belehren als Juden.

Jedenfalls noch.

Nun hat man es aber mit der Rabbinerkonferenz und dem Zentralrat der Juden in schönster Einheit mit den islamischen Verbänden zu tun bekommen, und da hört dann der Spaß auf. Eine rechtliche Klärung muss nun her, um Juden das Verbleiben hier zu ermöglichen. Recht hat sie, die Kanzlerin.

Davon dürfen dann die Muslime, die den Anlass für das irre Theater gegeben haben, gerne mit profitieren, ohne dass die Kanzlerin sich nun freilich als deren Schutzpatronin erwischen lassen will.

Deutschland. Zum Auswandern schön.

Ich habe mich lange gegen die Auffassung gewehrt, Islamophobie und Antisemitismus hätten bedeutende Überschneidungsflächen (no pun intended). Ich gebe hiermit offiziell auf. Es ist ein und das Gleiche.

Heute morgen im Deutschlandfunk hören zu müssen, wie wohlmeinende deutsche Ärzte gleich zwei Weltreligionen freundliche Angebote machen, sich endlich bitte, bitte auf das zivilisatorische Niveau des Kölner Landgerichts hinaufhieven zu lassen, das war dann doch sehr erhellend. Jüdische Teilnehmer verwahrten sich gegen die Unterstellung, sie seien traumatisiert. Es half nichts. Der deutsche Therapeut wußte es besser.

Leserbriefschreibern und Kommentatoren quillt der gesunde Menschenverstand aus den Tasten, dass es keine, aber auch gar keine akzeptable Begründung für die „Verstümmelung“ von Knaben durch Vorhautentfernung gebe.

Religiöser Analphabetismus wird mit erstaunlichem Stolz als Common Sense spazieren geführt. Irre, was man so alles an Vergleichen hört: Abtreibung, Ohrfeige, kosmetische Ohrenkorrektur… Das großmütige Angebot, man könne Beschneidung verbieten, aber straffrei lassen, wie eben die Abtreibung. Und dem Vorschlagenden fällt gar nicht mehr auf, dass damit eine Ritualhandlung aufgrund eines religiösen Gebots, die der Aufnahme eines neuen Lebens in die Gemeinschaft dient (und der Feier des Bundes mit Gott), auf die gleiche Stufe mit der Beendigung menschlichen Lebens gestellt wird. Und wie das wohl bei den Betroffenen ankommt, dass ihre Handlung mit einer Tötung verglichen wird.

Ach was, es geht womöglich gar nicht um die Juden und die Muslime. Es ist wieder einmal eine – diesmal knisternd pornographisch aufgeladene –  Orgie der Selbstbestätigung ausgebrochen. Der faszinierte Blick auf den beschnittenen Schlong lässt uns in Gewissheit erstarren, dass wir aufgeklärten Mehrheitsmenschen den Längsten haben.

Mit heiligem Ernst beschäftigt sich ein Land wie Deutschland zwei Wochen lang mit anderer Leute Geschlechtsorganen. Man fasst es nicht. Andererseits: Deutsche wollen die Unversehrtheit jüdischer und muslimischer Penisse per Gesetz garantieren. Irgendwie ein Fortschritt, oder? Wäre da nicht die peinliche Pointe, dass zu diesem Zweck die Eltern und die Ärzte, die an „barbarischen Bräuchen“ festhalten, kriminalisiert werden.

Alle sollen so werden wie wir. Darum gehts es letztlich. Ja, warum auch nicht: Es gibt ja nun wirklich keinen Grund, anders zu sein oder anderes zu glauben, denn wir sind das zwar nicht das auserwählte, aber das aufgeklärte Volk. Indem wir ihre Religion kriminalisieren, geben wir den Juden und den Muslimen eine Chance, sich endlich nach Jahrtausenden von ihren archaischen Praktiken zu distanzieren.

Wir Deutschen sind die Guten: Eine Komiker-Nation im Einklang mit sich selbst.

Komisch nur, dass keiner lacht.

 

 

Deutschland, Israel, Staatsräson?

Mein Text aus der ZEIT-Titelgeschichte von heute, S.4: 

Fast genau vier Jahre steht er jetzt da, dieser Satz, den die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März 2008 vor der Knesset aussprach – der Satz von der »besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels«, die »Teil der Staatsräson meines Landes geworden« sei.
Dass ein SPD-Mann das Copyright besitzt, ist vergessen. Rudolf Dressler, in schlimmsten Terrorzeiten Botschafter in Israel, bilanzierte 2005 seine Amtszeit: »Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.« Merkel aber rückte die »deutsche Staatsräson« erstmals in den Zusammenhang mit Irans Drohung. Damit begann etwas Neues.
Merkels Bekenntnis stand gegen einen israelkritischen Mainstream in Lande, den alle Umfragen erweisen. Dennoch erlangte es überparteilichen Stellenwert als eine Art allgemein akzeptierte, aber beschwiegene Merkel-Doktrin. Die Frage, was daraus folgte, wurde gemieden. Das geht so nicht mehr, jetzt, wo ein Krieg droht.
Es gibt Sätze, die schauen um so fremder zurück, je näher man an sie herantritt. Dies ist so einer: Israels Sicherheit, hatte die Kanzlerin in Jerusalem gesagt, sei für sie »niemals verhandelbar«, darum dürften dies auch »in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben«. Was also folgt daraus?
Wer sich in Berlin umhört, trifft auf das verbreitete Gefühl, dass die »Stunde der Bewährung« näher rückt. Im Wochentakt kommen Politiker und Diplomaten aus Jerusalem nach Berlin, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Die Frage, ob »Deutschland sich von Israel in einen Krieg ziehen« lässt, geistert durch Blogposts und Kommentare. Günter Grass hat sie auf den Tisch gelegt, wie ein ungezogenes Kind, das ausspricht, was die Erwachsenen beim Abendbrot anzusprechen verbieten.

Unter Politikern und Diplomaten ist ein retrospektives Händeringen zu beobachten. Tenor: War es denn wirklich nötig, es so zu sagen wie Merkel in der Knesset? Zwar wurde Israel damals noch von dem netten Herrn Olmert und der freundlichen Frau Livni regiert – aber deren bärbeißige Nachfolger Netanjahu und Lieberman haben Israels Iranstrategie nicht grundlegend verändert, und der unerbittliche Ehud Barak war auch damals schon Verteidigungsminister. Selbst wenn Merkel nicht so weit gegangen wäre: Die Frage, was Deutschland für Israels Sicherheit tun kann und will, würde sich stellen, Staatsräson hin oder her.
Was also tun, um die »gesicherte Existenz Israels« zu gewährleisten? Die Bundesregierung hat drei Handlungsmöglichkeiten. Sie kann härtesten Druck auf Iran ausüben, um eine diplomatische Lösung des Atomkonflikts zu befördern. Das geschieht bereits – und demnächst noch kraftvoller, wenn ab Juli Ölsanktionen gegen Iran greifen. Sie kann Israel – mehr oder weniger offen – von einer Militäraktion abraten und zugleich sein Abschreckungspotenzial aufbauen helfen. Auch dies geschieht bereits. Sie kann drittens drängen, dass Israels Sicherheit ohne Zweistaatenlösung im Nahostkonflikt von niemandem garantiert werden kann, auch nicht von der deutschen Staatsräson. Das geschieht leider kaum noch, aus Feigheit vor dem Freund.

Diplomatischer Druck sowohl gegen Iran als auch für eine Zweistaatenlösung gehören zusammen: Es gilt, den Iranern das Palästina-Thema zu entwinden, und die Palästinenser nicht zu Geiseln eines Irankonflikts zu machen. Angela Merkel hätte hier mehr Spielraum, wenn sie wollte.

Das Kennzeichen ihrer Israel-Politik ist mehr Nähe und mehr Freiheit zugleich. Leicht ist es nicht in Zeiten, in denen Planspiele für einen israelischen Angriff auf die Atomanlagen des Irans die Zeitungen füllen. Aber der Verteidigungsminister hat vorgemacht, wie man unter Druck Flagge zeigt. Nach seinem Gespräch mit dem israelischen Kollegen Ehud Barak vorletzte Woche in Berlin sagte Thomas de Maizière, er empfehle »dringend rhetorisch und auch in der Sache Zurückhaltung«. Eine militärische Eskalation brächte »nicht kalkulierbare Risiken für Israel, für die Region und auch für andere«. Mehr geht kaum ohne Affront.
Steht die Warnung nicht im Widerspruch zum eigentlichen Grund für Baraks Berlinbesuch, der Ratifizierung eines lange verschobenen U-Boot-Abkommens? Günter Grass hatte sich davon zu seinem Gedicht animieren lassen. Dass der jüdische Staat mit Hilfe einer deutschen Waffe einen Völkermord an den Iranern plane und Deutsche daran mitschuldig werden, ist der Glutkern von Grass‹ Anklage.
Sechs Boote wird Israel von Deutschland insgesamt erhalten. Drei tun schon seit einem guten Jahrzehnt ihren Dienst, zwei weitere werden derzeit gefertigt, und eines ist in diesem Jahr lieferbereit. Die Deutschen drohten »Zulieferer eines Verbrechens« zu werden, mahnt der Dichter.
Das stellt den Sinn der U-Boot-Deals mit Israel auf den Kopf: Die ersten Verträge gehen auf Helmut Kohl zurück. Israel wurde 1991 von Saddam Hussein mit Scud-Raketen beschossen. Das irakische Chemiewaffenarsenal war mit deutscher Hilfe aufgebaut worden. Deutsche Firmen, hatte sich herausgestellt, hatten Israels Todfeinde mit aufgerüstet. Darum half man Israel mit Gasmasken – aber eben auch bei der Abschreckung durch U-Boote. Mit »Wiedergutmachung« für NS-Verbrechen, wie Grass ziemlich perfide insinuiert, hat das nichts zu tun. Es sei denn, man betrachtet es als Wiedergutmachung, dass Deutschland Israel hilft, sich gegen Vernichtungsdrohungen zu wappnen. Israel ist in der schnöden Klarheit der Militärsprache ein »one-bomb-country«: auslöschbar mit einer Bombe.

Deutsche U-Boote gewährleisten, was Strategen »Zweitschlagfähigkeit« nennen – die Möglichkeit, einen Gegner selbst nach einem vernichtendem Angriff noch zu treffen. Gerhard Schröder sagte 2002: »Israel bekommt das, was es zur Aufrechterhaltung seiner Sicherheit braucht, und es bekommt es dann, wenn es gebraucht wird.« Auch Angela Merkel handelt nach dieser Maxime. Israels Zweitschlagfähigkeit ist Teil seiner Abschreckung. Die deutschen Boote wären nicht geeignet, das iranische Atomprogramm (oder gar das gesamte Volk, wie Grass insinuiert) auszulöschen. Es handelt sich um strategische Waffen, die Israels Feinden den Preis einer Aggression deutlich machen und damit die Sicherheit in Tel Aviv und Jerusalem erhöhen. Sie machen es Israel leichter, aus einer Position der Stärke Verhandlungen abzuwarten.
Als Abschreckungswaffen folgen sie einer Rationalität, die einer künftigen Konfliktlösung nutzen kann: Wer mit Waffen wie diesen droht, unterstellt einen berechenbaren Gegner, dem an Machtentfaltung und Selbsterhaltung mehr liegt als an dem ideologischen Ziel, »Israel aus den Annalen der Geschichte zu tilgen« (Ahmadinedschad). Bei einem solchen Gegner könnte man, wenn Verhandlungen scheitern, auf Eindämmung setzen. Das Problem: Niemand will davon vor dem Beginn neuer Verhandlungen reden. Aber es steckt eine gute Nachricht in der U-Boot-Lieferung: Der Kern für ein Containment Irans, das offiziell noch für undenkbar gilt.
Einstweilen aber liegt das fern, und scheiternde Diplomatie könnte darum zur Eskalation führen. Ab diesem Freitag wird in Istanbul noch einmal verhandelt, um das iranische Atomwaffenprogramm zu stoppen. Stellt der Iran sich stur oder bietet nur allgemeine Debatten über die Weltlage an wie vor einem Jahr, würde es ernst, denn Sanktionsmöglichkeiten sind ausgereizt.

Für die Beteiligten heißt das im Umkehrschluss: Sie müssen scharf genug verhandeln, um beim Iran eine Verhaltensänderung zu mehr Transparenz zu bewirken.Wenn das Ganze aber auf eine öffentliche Demütigung Irans herausliefe, könnte eine Logik greifen, nach der Teheran sich zurückziehen muss: Denn auch dort sind im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen, und niemand kann es sich leisten, gegenüber den »Mächten der Arroganz« nachgiebig zu sein.
Wenn die Rede von der deutscher Verantwortung für Israels Sicherheit keine leere Phrase werden soll, muss Deutschland härter gegenüber Iran auftreten, Israel Alternativen zum Krieg aufzeigen und den sanften Tod der Zweistaatenlösung verhindern, der durch Siedlungsbau und Verschleppungstaktik im Friedensprozess droht. All das ist Teil der Staatsräson.
Kein Kanzler hatte je so viel Freiraum wie Angela Merkel im Umgang mit Israel. Sie hat ihn sich erarbeitet, nun muss sie ihn nutzen. Seit ihrer Knesset-Rede ist sie über jeden Zweifel erhaben. Zugleich ist sie stark wie noch nie in Europa. Für Israel hat sie auch dort viel getan. Sie hat mit der Faust in der Tasche gegen die Aufnahme der Palästinenser in die Uno gestimmt, obwohl sie Netanjahus Siedlungspolitk völkerrechtswidrig und selbstzerstörerisch findet. Sie hat die europäischen Freunde gebremst, die Israel härter zur Rechenschaft ziehen wollen. Man wolle den hohen Kredit bei Israel nicht verspielen, hieß es immer wieder: Wer weiß, wann man ihn noch braucht.

Es scheint, der Tag ist nah.

 

Deutschland braucht eine andere Nahostpolitik

Mein Stück aus der ZEIT von heute, S.4:

Eigentlich ist es ein überraschend trockener Satz für ein Herzstück der deutschen Nachkriegspolitik. Vielleicht muss das so sein, weil dieses Thema so schnell überwältigt. Der ganze Horror, die Millionen Toten, der Hass – alles transformiert und aufgehoben in einer ziemlich bürokratischen Formel: Die Sicherheit des jüdischen Staates sei »Teil der deutschen Staatsräson«. Der Satz war einmal ein Wall gegen den israelkritischen Mainstream hierzulande. Angela Merkel sagt ihn immer wieder, und die Opposition nickt dazu, mittlerweile bis hinein in die Partei Die Linke. Die Koppelung von Deutschlands Staatsräson und Israels Sicherheit als Konsequenz des Holocaust ist mittlerweile selbst Mainstream geworden – eine der wenigen unstrittigen Maximen der deutschen Außenpolitik.

Doch was so evident klingt, ist in Wahrheit so offensichtlich nicht. Was die Pflicht zur Solidarität mit Israel heute gebietet, ist fraglich geworden. Noch in dieser Woche kann es im Sicherheitsrat zur Abstimmung über die Frage kommen, ob Palästina in die Vereinten Nationen aufgenommen werden soll. Zugleich kocht der Atomkonflikt mit Iran hoch, und selbst der besonnene israelische Präsident Schimon Peres sagt, ein Krieg mit Teheran sei »wahrscheinlicher geworden« als eine diplomatische Lösung.
Zwei Prioritäten prägen die deutsche Politik gegenüber Israel. Der jüdische Staat muss gegen das antisemitische Regime in Iran geschützt werden, das nach dem neuesten IAEO-Bericht ein klandestines Atomwaffenprogramm verfolgt. Und die Zweistaatenlösung bleibt die einzige Hoffnung auf einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Folgt aus dem Ersten nun, dass man die Jerusalemer Gedankenspiele über einen Krieg gegen Iran unterstützen sollte? Und aus dem Zweiten, dass Deutschland gegen die Aufnahme Palästinas in die Vereinten Nationen votieren muss?

Die deutsche Politik gegenüber Iran und Palästina muss sich auf einen neuen Stand bringen. Es gibt eine verborgene Parallele zwischen beiden Konflikten: Sie eskalieren, weil je eine Seite das Vertrauen in die diplomatische Lösung verloren hat. Israel schlägt ja gerade darum Lärm, weil es angesichts der neuen Berichte nicht glaubt, dass Sanktionen und Verhandlungen Irans atomare Bewaffnung verhindern. Die Palästinenser wiederum glauben nicht mehr, dass die hergebrachte Nahostdiplomatie ihnen die Staatlichkeit bringt, die man ihnen schon so lange versprochen hat.
Die israelische Sorge, dass das Teheraner Regime sich mit der Bombe als Hegemonialmacht unangreifbar machen will, ist berechtigt. In dieser Sorge liegt aber auch das Zugeständnis einer gewissen Rationalität. Denn einem Regime, dem an Selbsterhaltung und Machtentfaltung liegt, kann man durch Eindämmung, Isolation und Abschreckung seine Grenzen aufzeigen.

Iran steht schon jetzt nicht gut da. Seine Wirtschaft ächzt unter den Sanktionen. Die Führung ist gespalten, die Jugend entfremdet. Das Land ist mit der Türkei über Kreuz, mit den Saudis sowieso. Demnächst könnte es Assads Syrien verlieren und damit auch einigen Einfluss auf die radikalislamischen Milizen Hamas und Hisbollah. Die Welle des Freiheitswillens in der Region hat den tyrannischen Charakter des Regimes abermals offengelegt.
Iran ist isoliert und verwundbar. Konsequentere Sanktionen wären für das angeschlagene Regime gefährlicher als ein Militärschlag, der alle – auch die Opposition – in die Solidarität mit den Herrschenden zwingt. Gerade Deutschland hat noch viel Spielraum bei weiteren Sanktionen. Im letzten Jahr aber stieg das Handelvolumen mit Iran sogar um 11,6 Prozent auf über 2,6 Milliarden Euro. Deutsche Firmen sind im Energiesektor aktiv, der Lebensader des Regimes. Die Bundesregierung kann das einschränken, es würde Iran schmerzen. Sind wir bereit, die Kosten zu schultern? Sie wären gewiss geringer als die eines regionalen Krieges.

Man kann die Zweifel der Israelis am Ernst der bisherigen Irandiplomatie verstehen. Sie werden von ihren Kriegsplänen nicht lassen, solange diese fortdauern. Säbelrasseln kann der Diplomatie sogar helfen. Die iranische Bedrohung darf aber kein Anlass sein, Verhandlungen mit den Palästinensern zu meiden. Im Gegenteil, sie ist ein Grund mehr, den Konflikt zu beenden, mit dem der iranische Präsident so gern zündelt.

Die israelische Regierung erwartet Solidarität von Deutschland. Doch in Berlin machen sich Zweifel breit – bis hinauf in die siebte Etage des Kanzleramts, wo Angela Merkel residiert –, ob Solidarität mit dieser Regierung nicht immer öfter in Widerspruch gerät zur Solidarität mit Israel. In der letzten Woche ist – überdeckt von der Euro-Krise – etwas Bemerkenswertes geschehen: Angela Merkel hat durch ihren Sprecher Steffen Seibert einen sofortigen Stopp der israelischen Siedlungsaktivitäten gefordert. Der Siedlungsbau in Jerusalem und dem Westjordanland sei »völkerrechtswidrig« und »durch nichts zu rechtfertigen«. Noch keine deutsche Regierung hat gegenüber Israel derart drastische Worte gewählt. Die Öffentlichkeit sieht nur einen Bruchteil der Verbitterung. Merkel kann gar nicht zeigen, wie enttäuscht sie wirklich von den israelischen Freunden ist. Das ganze Jahr hat sie gedrängt, den Arabischen Frühling als Chance für den Friedensprozess zu begreifen. Im April bereits hat sie sich gegen die palästinensische UN-Initiative festgelegt, um Israel den Rücken zu stärken für neue Verhandlungen. Heraus kam: nichts.

Seiberts Äußerungen zeigen, dass die Regierung in der Klemme steckt. Die Palästinenser hatten kurz zuvor die Abstimmung zur Aufnahme in die Unesco gewonnen, die Kulturinstitution der Vereinten Nationen. Eine überwältigende Mehrheit hatte dafür gestimmt, trotz der Drohung der Obama-Regierung, die Beitragszahlungen an die Unesco einzustellen. Sehenden Auges stimmten 107 Nationen trotzdem für Palästinas Aufnahme. Deutschland stand mit den USA, Kanada und zehn kleineren Nationen zu Israel. Die Briten enthielten sich, Frankreich stimmte mit der Mehrheit. Die deutsche Treue zur israelischen Regierung wurde durch Netanjahu düpiert, der umgehend Strafmaßnahmen verkündete: die Einbehaltung palästinensischer Steuereinnahmen und 2000 neue Wohneinheiten in Siedlungen. Damit war es amtlich: Der Siedlungsbau richtet sich gegen die palästinensische Selbstbestimmung, sein Ziel ist die Frustration des Wunsches nach einem unabhängigen Staat Palästina. Die deutsche Regierung aber steht da als Geisel einer Politik, die sie für falsch und selbstzerstörerisch hält. Nun hat sie dies erstmals in aller Deutlichkeit zu Protokoll gegeben.

Angela Merkel hat immer wieder gesagt, ihr vertrauensvolles Verhältnis zu Israel ermögliche das offene Wort im Stillen. Weil sie in Israel gehört werde, sei sie für beide Seiten eine Partnerin, auf die es ankommt. Jetzt steht die Glaubwürdigkeit dieser Politik der Zurückhaltung infrage. Und es sind die israelischen Partner, die sie untergraben.
Es ist möglich, dass die jüngste Iran-Krise bald schon all dies wieder überdecken wird. In ihr steckt für Deutschland wie für Israel neben aller Gefahr nämlich auch die Verlockung, die unangenehmen Differenzen hintanzustellen und angesichts der Iran-Krise die Palästina-Diplomatie auf Stand-by zu schalten. So hat man es schließlich schon öfter gemacht. Seit dem Oslo-Abkommen von 1993 sind immer wieder Terror, Krisen und Kriege dazwischengekommen, die allen Seiten gute Gründe lieferten, jetzt gerade wieder einmal nichts zu tun.
Die Welt, in der man sich das leisten konnte, ist allerdings untergegangen. In diesen Tagen stirbt die gefährliche Illusion, dass die drei Konflikte, die die Zukunft der Region bestimmen, gegeneinander ausgespielt werden können.

Das Ringen um die Zweistaatenlösung zwischen Palästinensern und Israelis, die Konfrontation Irans mit der Weltgemeinschaft und der Kampf der Araber gegen ihre Autokraten – nun kommt alles auf einmal auf den Tisch: Palästina drängt auf Anerkennung in den UN. Der arabische Freiheitskampf fokussiert sich auf Israels Nachbarn Syrien. Israel wiederum debattiert über einen Präventivschlag gegen Irans Atomprogramm.

Die simultane Zuspitzung der drei Konflikte ist kein Zufall. Es gibt zahlreiche Rückkopplungseffekte: Die Palästinenser sind beflügelt durch den demokratischen Aufbruch und frustriert durch die obstruktive Haltung Israels im Friedensprozess. Israel wiederum ist durch den Verlust an Stabilität in der Nachbarschaft wie gelähmt, fürchtet seine völlige Isolation und treibt sie dabei doch selbst voran. Das iranische Regime sieht mit Schrecken, dass die arabischen Revolutionen seine Einflusssphäre in Syrien bedrohen.
Es ist ein Fehler, in dieser Lage die Energie Hunderter westlicher Diplomaten auf die Verhinderung der UN-Aufnahme Palästinas zu verschwenden. Am Ende wird wenigstens in der Generalversammlung eine überwältigende Mehrheit für Abbas stimmen. Die Unesco-Abstimmung war die Generalprobe dafür. Statt sich dagegenzustemmen, sollte man den historischen Moment nutzen. Die Palästinenser haben sich unter Abbas vom Steinewerfen und von Selbstmordattentaten verabschiedet und setzen auf Diplomatie. Haben sie nicht recht damit, aus dem festgefahrenen Muster der Friedensverhandlungen ausbrechen zu wollen? Ihre »Autonomiebehörde« droht zum Vollstrecker einer endlosen Besatzung zu verkommen.

Die konventionelle Nahostpolitik mit ihren »Quartett-Erklärungen«, Annäherungstreffen und Friedensplänen ist gescheitert, auch wenn die Beteiligten sich weigern, das anzuerkennen. Mit dem Antrag bei den UN hat Abbas das Schema hinter sich gelassen, in dem ein paternalistisches »Quartett« aus USA, EU, UN und Russland zwischen einer Besatzungsmacht und einer Autonomiebehörde zu vermitteln suchte. Ab jetzt spricht ein Fast-schon-Staat mit einem Nachbarstaat. Die UN-Aufwertung soll Verhandlungen nicht ersetzen, sondern eine neue Balance ermöglichen.

Abbas hat begonnen, die Lebenslügen der eigenen Seite abzuräumen. Im israelischen Fernsehen hat er kürzlich gesagt, die Ablehnung des Teilungsplans von 1947 sei ein Riesenfehler gewesen und ebenso die Gewaltorgie der »Zweiten Intifada«. Es sei klar, dass Israel keine riesigen Mengen palästinensischer Flüchtlinge aufnehmen könne. Jedes Verhandlungsergebnis mit Israel bedeute »das Ende des Konflikts«. Abbas hat das Interview auch in den palästinensischen Gebieten ausgestrahlen lassen – »zu erzieherischen Zwecken«. Die Palästinenser verlassen die Opferrolle. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Geschichte.

Es ist falsch, Abbas durch Zurückweisung seiner UN-Initiative zu isolieren. Er muss im Gegenteil gestärkt werden gegen die Extremisten der Hamas, die in einem spektakulären Deal mit der Regierung Netanjahu 1027 Gefangene freipressen konnten. Mit Hamas reden, Abbas bestrafen? Hamas triumphiert im innerpalästinensischen Kampf. Seht ihr, Gewaltverzicht lohnt nicht, hält sie Abbas entgegen: Sie werden euch nie akzeptieren. Eure UN-Aktion wird ein Schuss in den Ofen und damit ein Beweis für unsere Philosophie der Gewalt. Hamas recht zu geben ist gewiss nicht gut für die Sicherheits Israels.

Was tun? Deutschland hat sich früh festgelegt. Nach Merkels Vorpreschen im April kann man jetzt nicht für die Aufnahme Palästinas stimmen. Ein solcher Politikwechsel wäre nicht zu erklären. Aber gilt das auch für eine Enthaltung?

Eine deutsche Enthaltung bei der UN-Abstimmung über Palästina, koordiniert mit den anderen Europäern, wäre kein Ausdruck der Unentschiedenheit, sondern könnte der erste Schritt zu einer glaubwürdigeren und gerechteren Nahostpolitik sein. Ohne ein Ende der Besatzung und einen unabhängigen Palästinenserstaat als Ergebnis neuer Verhandlungen beider Seiten kann niemand dauerhaft Israels Sicherheit garantieren – auch die deutsche Staatsräson nicht. Solidarität mit Israel bedeutet darum nicht, dieser Regierung zu folgen, was auch immer sie tut, sondern zu fördern, was einer Konfliktlösung hilft.

Eine neue Nahostpolitik muss härter gegen Iran vorgehen, um Israel zu schützen; sie muss kritischer gegenüber der israelischen Regierung sein; und sie muss die arabischen Freiheitsbewegungen entschiedener und mutiger unterstützen, die palästinensische Variante eingeschlossen.