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Stille in Kabul

 

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Einen Abend vor der Wahl in Kabul ist etwas anders als sonst: draußen ist es still. Vollkommen still. Auf den Straßen, rund um unser Haus, die sonst andauernd verstopft sind, fahren keine Autos. Die Helikopter, die sonst über unser Haus kreisen, sind stumm. Nichtmal mein Handy piepst, der Anbieter hat den SMS-Service abgeschaltet, solange bis die Wahllokale wieder geöffnet haben. Ich mag Stille, aber ich bin sie nicht mehr gewohnt. Stundenlang liege ich wach in meinem Bett.

Entsprechend müde bin ich heute morgen. Ich stehe gerade noch rechtzeitig auf, um einen Freund zu empfangen, der nach „seiner“ Wahl vorbeischauen möchte. Von unterwegs schickt er mir ein Bild von sich und seinem Großvater. Dazu schreibt er: „Er ist 78 und fast blind. Aber er hat noch sein eigenes Geschäft, das er betreibt.“ Ich sage ihm, er soll den Großvater grüßen und auch zu uns einladen. Er möchte nicht.

Zuhause streckt mir der Freund als erstes seinen Mittelfinger entgegen: „Ich hab sie ausgetrickst“, sagt er. „Eigentlich muss man den Zeigefinger nehmen. Der Wahlhelfer hatte ihn schon saubergemacht, damit die Tinte hält. Als er ihn dann reintunken wollte, hab ich schnell den anderen Finger gezückt.“ Der Freund holt sein Smartphone aus der Tasche und zeigt ein Foto von sich und dem gestreckten Mittelfinger „Das ist meine Nachricht an die Taliban“ sagt er. „Was sagt dein Vater dazu?“, frage ich, weil ich weiß, dass er konservativer ist als sein Sohn und den Hardliner Sayyaf gewählt hat. „Der weiß nicht, was das bedeutet. Es kommt ja von euch, aus dem Westen.“

Wir quatschen ein bisschen, der Freund erzählt, dass ihn die Straßen draußen an die Zeit während der Taliban erinnern. „Da war es auch immer so leer. Mein Bruder und ich haben oft an der Straße gesessen und Autos gezählt. Das ging dann so: 1… 2 … 3… viel mehr kamen nicht. Stell dir das heute mal vor!“ „Erinnerst du dich noch an den Tag als die Taliban in Kabul die Macht verloren haben?“ „Klar“, sagt der Freund. „Ich weiß noch, dass ich nachts ein paar Schüsse gehört habe. Am Morgen hat mich dann mein Vater geweckt und gesagt: Die Mudschaheddin sind in Kabul, die Taliban sind weg. Nachmittags bin ich dann spazieren gegangen und hab zum ersten Mal die Mudschaheddin gehört, wie sie mit Lautsprechern bekannt gegeben haben, dass sie jetzt in der Stadt sind.“ „Bist du einfach so spazieren gegangen oder gab’s einen Grund?“ „Ich wollte tote Taliban sehen. Meine Nachbarn haben erzählt, dass im Park hier um die Ecke ein paar Leichen liegen. Das wollte ich mir anschauen.“

Irgendwann gehen wir eine Runde um den Block. Die Straßen sind leer, es regnet und es ist kalt. Immer wieder lese ich bei Twitter nach neuen Nachrichten. Es gab vor dem Wahltag so viele Anschlagswarnungen wie noch nie, seit ich in Kabul lebe und ich war mir eigentlich fast sicher, dass irgendetwas passieren würde. Stattdessen sehe ich immer neue Bilder von Menschenschlangen, die im Regen vor Wahllokalen ausharren. Nach ein paar Minuten kommt ein Auto, es hält direkt neben uns. Drinnen sitzen fünf Jungs. „Weißt du, wo das nächste Wahllokal ist?“, fragen sie den Freund. „Nein, tut mir leid.“ „Warst du nicht wählen?“, fragen sie. Er überlegt eine Sekunde, dann streckt er ihnen seinen in Tinte getunkten Mittelfinger entgegen. Die Jungs lachen, und fahren davon.

Am Abend lese ich auf Twitter: Die Wahlkommission schätzt, dass etwas sieben Millionen Menschen gewählt haben. In keiner der größeren Städte gab es einen Anschlag und auch sonst verlief die Wahl größtenteils friedlich. Die Straßen in Kabul sind heute leer. Aber sie sind auch voller Hoffnung.

Die Stille ist übrigens vorbei: Es gewittert, zum ersten Mal seit ich in Kabul lebe.