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KinderZEIT Lesesommer 2010: Ich, Gorilla und der Affenstern – Teil 10

 

Die Entdeckung: Jonna muss zurück ins Kinderheim Rainfarn. Vorbei ist das schöne Leben auf dem Schrottplatz bei ihrer Adoptivmutter Gorilla. Die Affendame könne nicht richtig für das Mädchen sorgen, entschied eine Kommission um den fiesen Bürgermeister Tord. Jonna hofft, dass Gorilla sie rettet. Doch die ist offenbar schon weit fort …

Von Frida Nilsson

»Sie sollten darauf achten, Jonna in nächster Zeit irgendwo einzuschließen«, sagte Tord vom Fahrersitz aus. »Gorilla wird sicher versuchen, sie zu holen.« Gerd wimmerte. »Muss ich so etwas hinnehmen?«, jammerte sie. »Das könnte mich in Lebensgefahr bringen!« – »Ach was«, sagte Tord. »An Ihnen ist Gorilla ja nicht interessiert.« Gerd wand sich wie ein Aal. »Das mag ja sein. Aber wenn man jemandem gegenübersteht, der nichts mehr zu verlieren hat …«

»Wenn das Mädchen aus dem Rainfarn verschwindet, mache ich Sie dafür verantwortlich«, unterbrach Tord sie scharf und warf mir einen Blick im Rückspiegel zu. »Aber jetzt lassen wir erst einmal ein wenig Zeit verstreichen, dann wirst du Gorilla bald vergessen haben. Das geht im Handumdrehen, nicht wahr?« Ich gab ihm keine Antwort. Es gab keinen Grund mehr, den Mund zu öffnen. Es gab keinen Grund mehr, überhaupt irgendetwas zu tun. Ich presste die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe und weinte so sehr, dass die Scheibe beschlug. »Fahren Sie auf den Kies hoch«, sagte Gerd, als wir die Straße zum Rainfarn hinaufrollten. »Aber der ist so schön geharkt«, protestierte Tord. »Ja-ja-ja-ja«, sagte Gerd. »Kies ist ja wohl dafür da, dass man drauffährt.« Der Wagen bog knirschend in den Kiesweg ein, und Gerd stieg aus wie eine königliche Hoheit.

Vor dem Haus drängelten sich die Kinder und warteten. Ich war zurück im Rainfarn. Mit seinen weißen Wänden, den geputzten Fenstern und den wohlfrisierten Kindern, die mich mit großen Augen anstarrten. »Denken Sie daran, was ich gesagt habe«, mahnte Tord durch die heruntergelassene Seitenscheibe. »Einschließen!« Dann brummte sein glänzendes Auto davon. »Aron!«, rief Gerd. »Hol den Rechen und ordne den Kies. Und danach arbeitest du an der neuen Tür weiter!« Sie zog mich die Steintreppe hinauf. Ein paar Kinder liefen uns nach. Ich wusste, was sie dachten, als sie meine verfilzten Haare und meine dreckigen Jeans sahen. Sie dachten, dass ich ihnen leidtun musste. Dass ich gerettet worden war. Gereizt meckerte Gerd die Kinder an, die uns gefolgt waren. »Marsch nach draußen! Ihr seid noch längst nicht fertig mit dem Feuerholz!« Unschlüssig blieb sie mit mir in der Halle stehen. »Wo setzen wir dich denn jetzt nur hin?«, jammerte sie und sah sich suchend um. Widerwillig stellte sie fest, dass das einzige Zimmer im ganzen Haus, das sich abschließen ließ, ihr eigenes war. »Na dann!«, seufzte sie und schob mich in ihr kombiniertes Büro und Schlafzimmer. »Du bleibst bei mir. Aber gnade dir Gott, wenn du heute Nacht schnarchst. Und morgen nehmen wir deine Grundreinigung in Angriff.«

Sie hatte wohl ernsthafte Schwierigkeiten mit meiner neuen Hygiene. Den Rest des Tages war Gerd fahrig und nervös, kaute an den Fingernägeln und schaute mich an, als wäre ich das größte Unglück, das ihr je im Leben widerfahren war. Am Abend schlüpfte sie in ihr unförmiges Nachthemd. Für mich hatte sie eine Matratze aus dem Schlafsaal hochgeholt und auf den Boden gelegt. Ständig spähte sie aus dem Fenster. »Was glaubst du?«, fragte sie leise. »Wird sie hier auftauchen, deine … Gorilla, meine ich?« Ich dachte an sie, an meine Gorilla. Würde sie kommen, um mich zu holen? »Ja«, sagte ich und nickte ohne einen Zweifel. »Sie kommt. Ich weiß es.«

Mit dieser Antwort schien Gerd nicht zufrieden zu sein. Sie legte ihr Gesicht in Falten, dass es aussah wie ein rosa Spüllappen, und spähte wieder aus dem Fenster. Dann holte sie das Telefon vom Schreibtisch und nahm es mit ins Bett. »Aber dann bin ich die Erste, die den feinen Herrn Bürgermeister anruft«, sagte sie und löschte das Licht, obwohl ich noch gar nicht im Bett war und mich durch das dunkle Zimmer vortasten musste, um die Matratze zu finden. Dabei stieß ich einen Stuhl um. »Scht!«, zischte Gerd. »Schlaf jetzt!« Kurz darauf schnarchte sie wie ein ganzes Sägewerk. Ich vergrub mein Gesicht im Kissen. Es roch stark nach Waschmittel. Frisch gewaschene Bettwäsche war immer so steif und ungemütlich. Bis eben hatte ich noch nie darüber nachgedacht. Meine Decke mit den Pfefferkuchenherzen zu Hause auf dem Schrottplatz war so weich. Gorilla war auch weich. Weich und warm …

Ohne dass ich merkte, wie es kam, war mein Kissen bald ganz nass. Sie kommt und holt mich, dachte ich. Ich weiß, dass sie das macht. Sie holt sich die große Axt aus der Vorratskammer, dann fährt sie hierher und macht Kleinholz aus der Eingangstür. Dann bekommt Gerd solche Angst, dass sie sich kaum mehr rühren kann, sondern auf die Knie fällt und weint, und Gorilla hebt mich hoch und trägt mich nach draußen zum Volvo. Ich weiß es. Sie hat mich ein Mal hier rausgeholt, und sie wird es wieder tun. Stundenlang lag ich wach und wartete auf ein Geräusch von draußen. Darauf, dass Gorilla nach mir rufen würde, oder darauf, dass die Haustür mit einem lauten Krachen eingeschlagen würde. Aber nichts passierte. Erst als es schon dämmerte, schlief ich endlich ein.

Ich wurde von einem lauten Klopfen an der Haustür geweckt. Die Uhr an der Wand zeigte fast acht. Gerd sprang aus dem Bett und zog sich eilig an. »Was ist denn jetzt schon wieder los!«, meckerte sie. »Darf man jetzt morgens nicht mal mehr ausschlafen? «Dann zuckte sie zusammen. »Denkst du, sie ist es?« Ich flog von meiner Matratze hoch. »Ja!«, jubelte ich. »Ja! Jetzt kommt sie!« Ich rannte in die Halle und stürzte ans Fenster. »Gori…«, rief ich, aber dann verstummte ich. Enttäuscht schlich ich zu Gerd zurück, die mit schlotternden Knien auf mich wartete. »Es ist Tord«, seufzte ich und warf mich auf die Matratze. Gerd ging es gleich viel besser. Sie richtete ihre Haare, die vom Schlafen ganz platt gelegen waren, und flitzte nach draußen. Kurz darauf kamen beide zusammen zurück ins Büro. »Falls es um die Überbelegung des Rainfarn geht, so kann ich das nur bedauern und die Stadt um Nachsicht bitten«, sagte Gerd und lächelte unsicher. Tord schüttelte den Kopf. »Aber nein«, sagte er. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie das Kind nicht länger einschließen müssen.« – »Ach ja?« sagte Gerd. »Gorilla hat sich aus dem Staub gemacht«, fuhr Tord fort und warf mir einen Seitenblick zu. Ein kleines Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. Gerd strahlte, als hätte ihr jemand eine Tüte Bonbons geschenkt. »Nein, so was, wie schön!«, zwitscherte sie und schlug die Hände zusammen. Tord nickte. »Es war wohl zu quälend für sie, dass sie das Kind auf diese Weise abgeben musste. Das Auto ist weg, und alles ist verrammelt. Sie hat die Stadt verlassen. «Er drehte sich zu mir.»Jetzt kannst du in aller Ruhe die Zeit, die du mit ihr verbracht hast, vergessen. Und dankbar dafür sein, dass sich doch noch alles zum Guten gewendet hat.«

Ich starrte ihn an, meine Augen brannten und waren nach der Nacht noch ganz verschwollen. »Du lügst«, sagte ich. »Niemals würde sie ohne mich abhauen.« Tord lächelte mit einem Gesichtsausdruck, der so viel hieß wie: Ach, wie putzig, wenn Kinder so gar nichts begreifen. Er machte einen Schritt auf mich zu und zischte so leise, dass Gerd es nicht hören konnte: »Ich komme soeben vom Schrottplatz, wo ich eins unserer Schilder aufgestellt habe, wenn du verstehst, was ich meine.« Er steckte seine Hand in die Tasche, zog einen Zettel hervor und reichte ihn mir. »Das hier hing an der Tür.« »Für Jonna« stand darauf, in großen krakeligen Buchstaben. Dass das Gorillas Handschrift war, war nicht zu übersehen. Ich faltete den Zettel auf: »Hallo Spätzchen, ich habe beschlossen, die Stadt zu verlassen. Keine Lust mehr auf den ganzen Mist. Es gibt schließlich immer einen anderen Ort, an den man gehen kann. Affenstern!« Tord rümpfte die Nase. »Na, wenn das keine originelle Unterschrift ist, die sie sich da ausgedacht hat«, sagte er. »Ein Affenstern ist Gorilla nun wirklich nie gewesen. Affenhirn würde viel besser passen.«
Ich brachte keinen Ton heraus. Ich las die Zeilen noch einmal und noch einmal, aber es stand immer dasselbe da. Es war also wahr. Sie war abgehauen. Tord und Gerd sahen hinter dem Tränenschleier in meinen Augen ganz verschwommen aus. Gerd legte den Kopf schief. Sie sah wirklich mitleidig aus. »Aber Kleinchen«, flüsterte sie. »Ist es denn so schlimm?« Tord verdrehte die Augen. »Wenn ich nur verstehen könnte, warum sie so an diesem Gorilla hängt«, sagte er. »Sie sollte lieber froh sein!« – »Kinder sind eben Kinder«, sagte Gerd lächelnd. Tord nickte zustimmend. Ich konnte nichts mehr sagen. Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Ich legte mich auf die Matratze und versteckte mein Gesicht. Gorilla hatte mich verlassen. Niemals hätte ich das geglaubt.

Als Tord das Büro verlassen hatte, kam Gerd und tätschelte mir den Kopf. »Geh raus zu den anderen, na los«, sagte sie. »Das Bad kann noch warten. Jetzt sei nicht mehr traurig.« Ich wischte mir die Tränen ab und zog meine Jeans an. Den Zettel mit Gorillas Handschrift stopfte ich mir in die Tasche. Dann ging ich nach draußen in den Garten. Die Oktoberkälte hatte alle Blätter von den Bäumen gejagt, und im Wald hinter dem Kinderheim waren nun Fichten und Kiefern die einzigen Bäume, die nicht nackt herumstanden. Die Kinder waren alle mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Im Holzschuppen waren einige dabei, Späne für den Kamin zu spalten, ein paar andere hackten draußen auf dem Hügel Feuerholz. Unten am Flieder harkten die Kleineren Laub zusammen, während die Älteren tischlerten. Wütend stapfte ich mit meinen Stiefeln durch das rutschige Gras. Ich hatte die Hand in die Tasche gesteckt und hielt noch immer den Zettel umklammert. Er war schon ganz zerknickt und feucht, aber ich drückte nur noch fester zu. Meine ganze Traurigkeit mischte sich mit Wut. Ich fühlte mich betrogen. Ich sah vor mir, wie Gorilla hinter dem Steuer im Volvo saß, schon halb außer Landes, und einfach nur die Schultern zuckte, über all das, was geschehen war.
»Jonna!« Es war Aron. Er hielt einen Hobel in der Hand und bearbeitete damit ein paar Bretter, die vor ihm auf Böcken lagen. »Komm her!«, rief er. Die schwarzhaarigen Brüder waren auch wieder da und feixten auf ihre übliche gemeine Art, als ich näher kam. Aron war rot und verschwitzt. Die Sommersprossen überzogen sein Gesicht wie Nieselregen. Ich zog die Hand aus der Tasche und boxte ihn gegen die Schulter. »Au!«, fauchte er. »Warum machst du das?« – »Weil du so viel lügst«, sagte ich. »Ich bin nicht gefressen worden.« – »Schade«, sagte der eine Schwarzhaarige und fand sich selbst wahnsinnig witzig. Sein Bruder lachte mit. »Halt die Klappe«, sagte Aron da. »Verzieht euch!« Die Brüder starrten ihn verdattert an, aber sie gehorchten sofort. Sie legten ihre Hobel weg und schlurften bedröppelt zu ein paar anderen von den Kleineren, die dabei waren, Feuerholz zu stapeln. Aron sah mich an. »Ich habe mir ein bisschen Sorgen um dich gemacht«, sagte er. »Ein paar andere auch. War es schlimm? Bei dem Gorilla?« – »Ach was!«, sagte ich, denn ich hatte keine Lust, darüber zu reden. »Was machst du da?« – »Ich baue eine neue Tür für den Erdkeller. Als du weg warst, waren Diebe hier, die sind eingebrochen und haben uns Essen gestohlen. Gerd war verdammt sauer deswegen. «

Gerade da hörten wir unten auf der Straße ein Auto kommen. Die Post. Nur Sekunden später stürmte Gerd in Hausschuhen nach draußen: »Frisch gehaaaarkt! Stoooopp!« Aron lachte. »Warum stellt sie nicht einfach den Briefkasten woanders auf, statt jeden Tag rauszurennen und diesen armen Postboten anzuschreien?« Gerd nahm ein großes Kuvert entgegen, und der Briefträger verabschiedete sich wieder. Als sie den Brief aufgerissen hatte, machte sie einen Luftsprung vor Freude. »Ha!«, jubelte sie und wedelte mit einem Blatt.
»Das Foto! Das Foto ist gekommen!« Da brach ein Begeisterungssturm los. Alle Kinder ließen augenblicklich fallen, was sie eben noch in den Händen gehalten hatten, und rannten los. Schon hatten sie Gerd umringt, die das Foto hoch über ihren Kopf hielt. »Nein!«, quiekte sie. »Bloß keine Schmutzfinger! Ich rahme es jetzt ein und hänge es zu den anderen in die Halle.« Als sie die Treppe hochging, folgten die Kinder ihr auf dem Fuß. Auch Aron legte den Hobel weg und zuckte mit den Schultern. »Dann gehen wir es uns mal anschauen.« – »Ich hab keine Lust. Geh ruhig alleine«, sagte ich. Aber da zog Aron mich am Arm.
»Komm schon mit. Ich weiß, du siehst auf Bildern immer hässlich aus, aber ist doch egal. Du kannst ja stattdessen gucken, wie gut ich getroffen bin. Los!« Er nahm mich mit in die große Eingangshalle, in der es jetzt so voll war wie in einem Schafspferch. Alle glotzten und traten sich gegenseitig auf die Füße, als Gerd mit wichtiger Miene aus ihrem Büro kam. Sie trug das eingerahmte Foto vor sich her, als wäre es eine Goldmedaille, die sie jeden Moment einem Nobelpreisgewinner übergeben wollte. »Vorsicht!«, kommandierte sie. Sie schlug einen Nagel in die Wand und hängte das Bild auf. Alle drängten sich näher, um besser sehen zu können. »Oh, nein!«, rief Aron, als er das Bild sah. »Drecksfotograf! Warum hat er abgedrückt, als ich gerade die Augen zuhatte?« Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Aron hatte die Augen halb geschlossen, sodass nur ein wenig Weiß zu erkennen war. Das sah ziemlich bekloppt aus. Mich selbst fand ich diesmal schön. Meine Zöpfe waren schnurgerade. Die Fingernägel sauber und die Hosen auch. Ich sah froh aus. Es war ja auch immer lustig gewesen, wenn der Fotograf da war, und es fühlte sich irgendwie besonders an, auf ein Bild zu kommen. Feierlich.

»Ich gehe die Tür fertig machen«, sagte Aron. »Kommst du mit?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich gucke noch ein bisschen«, sagte ich. »Vielleicht komme ich später nach.« Kurz darauf stand ich allein vor der großen Wand, die mit Fotos vollgehängt war. Unvorstellbar, wie viele Kinder hier schon gewohnt hatten. Unmengen von kleinen blassen Gesichtern schauten mich aus der Vergangenheit an. Da blieb mein Blick an etwas hängen. In einer Reihe weiter oben entdeckte ich mehrere Bilder, auf denen etwas Merkwürdiges zu sehen war. Neben einer großen Gruppe von Kindern war da auch noch etwas anderes. Am Rand, ganz in der Ecke, war eine dunklere Gestalt zu erkennen. Ein haariges kleines Gesicht … Ich konnte es kaum glauben, aber es war so! Da war Gorillas Gesicht und schaute mich mit seinen kleinen Knopfaugen an. Auf mehreren Bildern – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht – war sie dabei. Erst als kleines schwarzes Bündel auf Gerds Arm, die damals noch ganz jung gewesen war. Zu dieser Zeit hatte sie noch nicht so streng und nervös ausgesehen, sondern eigentlich nett.

Und dann, von Jahr zu Jahr, wurde Gorilla größer und größer, haariger und scheußlicher. Und auf jedem weiteren Bild sah sie trauriger und zusammengesunkener aus. Auf dem letzten Bild schien es, als wäre sie am liebsten unsichtbar. Sie hatte den Rücken gekrümmt und duckte sich halb hinter die letzte Reihe. Gerds Gesichtszüge waren härter geworden.

Den neunten Teil der Geschichte findet ihr hier.


Frida Nilsson:
Ich, Gorilla und der Affenstern
Gerstenberg
Verlag, 12,95 €