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KinderZEIT Lesesommer 2010: Ich, Gorilla und der Affenstern – Teil 11

 

Die Flucht: Jonna fühlt sich im Stich gelassen von Gorilla, ihrer Adoptivmutter. Bei der hatte sich Jonna so wohl gefühlt. Nun ist sie wieder im Kinderheim, und die Affendame ist abgehauen. Zumindest hat sie das in einem Brief geschrieben. Als Jonna aber ein altes Foto entdeckt, beginnt sie zu verstehen …

Von Frida Nilsson

In meinem Kopf drehte sich alles. Gorilla war ein ehemaliges Kinderheimkind. Warum nur hatte sie mir nichts davon gesagt? Gerd kam aus dem Büro. »Ach, hier bist du«, sagte sie. »Geht es dir jetzt besser?« – »Gorilla«, sagte ich. »Sie hat auch hier gewohnt.« Mit einem Mal sah Gerd bedrückt aus. »Natürlich hat sie das«, sagte sie mürrisch. »Aber das ist nicht der Rede wert und auch nichts, was man herumtratschen müsste. « – »Niemand hat etwas gesagt«, protestierte ich. »Niemand hat mir irgendetwas davon gesagt. « Da schien Gerd schon gleich viel glücklicher. »Ach, nicht?«, zwitscherte sie. »Na, so was? Nein, vielleicht dachte sie, dass man sich darauf nichts einbilden kann? Es haben ja auch noch andere Kinder im Kinderheim gelebt. Möchtest du denn jetzt mal baden?« Mit geschürzter Oberlippe betrachtete sie meine verdreckten Kleider. »Es könnte schwierig werden, die Knoten aus den Haaren zu bekommen«, sagte sie. »Was hältst du davon, wenn wir dir die Haare kurz schneiden. Das sähe sicher frech aus, oder?« Ich ging nach draußen auf die Treppe. »Jonna! «, nörgelte Gerd hinter mir her. »Gibst du jetzt nicht einmal mehr Antworten, wenn du gefragt wirst? Herrjemine, wo soll das noch hinführen! «

Es war Abend geworden. Alle Kinder machten sich im großen Schlafsaal fertig für die Nacht. Ich lag schon zusammengerollt unter meiner Decke. Gerd hatte mich gebadet und mir die verfilzten Haare ausgekämmt. Es hatte mehrere Stunden gedauert, und meine Kopfhaut brannte, als hätte ich mir kochendes Wasser über den Kopf geschüttet. Es war schrecklich laut im Saal. Die Bettfedern quietschten, dass es einem in den Ohren wehtat. Ich musste daran denken, was Gorilla mir an meinem ersten Tag bei ihr erzählt hatte. Dass sie die Federn aus ihrem Bett ausgebaut hatte, weil sie das Quietschen einfach nicht ertrug. Deshalb, dachte ich. Deshalb, weil sie so viele Jahre lang all das Gequietsche in diesem Saal hatte aushalten müssen. Ich war wütend auf sie. Am liebsten wollte ich vergessen, dass es sie überhaupt gab und dass ich jemals bei ihr gewohnt hatte. Aber trotzdem. Trotzdem wünschte ich mir, sie würde in diesem Augenblick in den Schlafsaal stürmen. Mit der Axt in der Hand und dem Auto startbereit draußen auf dem Kies.

Aron kam in den Schlafsaal. Stöhnend ließ er sich auf sein Bett fallen und pustete auf seine Handflächen. »Alles wund«, jammerte er. »Meine Hände sind nur noch blutige Klumpen.« – »Was ist denn passiert?«, fragte ich. »Der Hobel«, sagte er. »Ich habe sieben Stunden lang gehobelt. Alles in allem habe ich dreiunddreißig Blasen. Willst du mal sehen?« Er hielt seine Hände hoch, die wirklich nicht schön aussahen. Rot und blau und wund. Ich rümpfte die Nase. »Was war das noch gleich, was ihr da tischlert?«, fragte ich. »Eine Tür«, jaulte Aron. »Eine beschissene Scheißtür für diesen beschissenen Erdkeller! Die alte ist nachts von den Dieben eingeschlagen worden, und nur weil ich letztes Jahr eine Hutablage getischlert habe, die Gerd gefallen hat, muss ich zusammen mit noch ein paar anderen jetzt eine neue Tür bauen. Beschissene Scheißhutablage!« – »Was haben sie denn geklaut?«, fragte ich und setzte mich auf. »Die Diebe?« Aron leckte an seinen Händen und stöhnte. »Das weiß ich nicht. Doch, Kartoffeln und ein paar Karotten. Einweckgläser und so was. Jedenfalls hat Gerd gesagt, dass wir dieses Jahr keine Salzgurken zu Weihnachten bekommen. Rote Bete ist auch alle.« Ich starrte ihn an. »Was?« – »Hörst du schlecht?«, fragte er. »Kartoffeln und Salzgurken.«

Ich spürte mein Herz gegen die Rippen hämmern. Kartoffeln und Salzgurken. Rote Bete. Jemand war im Erdkeller des Kinderheimes gewesen und hatte Essen gestohlen. Ich tauchte ans Fußende meines Bettes, wo meine Jeans hingen. Aus der Tasche zog ich den Zettel. Ich habe beschlossen, die Stadt zu verlassen. Keine Lust mehr auf den ganzen Mist. Es gibt schließlich immer einen anderen Ort, an den man gehen kann. Affenstern! AFFENSTERN!

Ich sprang aus dem Bett und rannte ans Fenster. Dort draußen rauschte der dunkle Wald. Auf der Wiese erhob sich der kleine Hügel des Erdkellers mit seiner nagelneuen Holztür. Ich schaute zum Himmel, an dem die Sterne leuchteten wie tausend kleine weiße Punkte. War da nicht einer, der heller als gewöhnlich funkelte? Ein großer flammender Punkt? War es nicht genau so ein Stern wie der, von dem Gorilla erzählt hatte? Ein Affenstern? Ich ging zurück ins Bett. »Wonach
hast du geschaut?«, fragte Aron. »Nichts«, sagte ich. »Lass uns schlafen.« Ich kroch zwischen die steifen Laken und drehte ihm den Rücken zu. Bald wurde das Licht im Saal gelöscht. Wie langsam die Zeit vergehen kann, wenn man sich wünscht, sie würde fliegen! Ich hatte das Gefühl, seit einer Ewigkeit wach zu liegen und zu warten, als ich mich endlich traute aufzustehen.

Es quietschte und schnaufte aus allen Betten. Leise tastete ich mich zu meinen Jeans und meinem Pullover vor. Als ich alles angezogen hatte, schlich ich zur Tür. »Jonna?« Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Arons sommersprossiges Gesicht tauchte im Dunklen vor mir auf. »Was hast du vor?«, flüsterte er. »Du verrätst mich nicht?«, flüsterte ich zurück »Bitte, sag nichts.« Er starrte mich an. »Haust du ab?« Ich nickte. »Ja. Vielleicht. Jedenfalls dann, wenn ich in einer Sache recht habe. Aber du verrätst mich doch nicht?« Er sah mich eine Weile an. »Nein. Ich verrate dich nicht.« Ich lächelte und tastete mich weiter zur Tür. »Jonna?« Ich drehte mich noch einmal um. »Es war langweilig, als du nicht hier warst«, sagte Aron. »Und ich hoffe, du hast unrecht, was immer es sein mag.« – »Okay«, flüsterte ich, dann öffnete ich die Tür und stahl mich hinaus.

Die Treppe knarrte. Dort unten in der Halle standen meine Stiefel, und an einem der Haken hing meine Jacke. Aus Gerds Schlafzimmer drang dröhnendes Schnarchen. Ich drückte die Klinke der Eingangstür hinunter und spürte, wie mir die kühle Nachtluft entgegenschlug, feucht und schön. In der Tasche hatte ich den Zettel mit Gorillas hässlicher Handschrift. Es ist eine Nachricht für mich, die niemand sonst verstehen kann, dachte ich. So muss es sein.

Ich lief um das große weiße Haus des Rainfarn herum. Dahinter lagen noch immer die Hobel auf dem Boden. Mein Herz schlug wie eine Trommel, als ich über die Wiese huschte und zwischen den Bäumen verschwand. Die Dunkelheit kam immer näher, und ich stolperte und rutschte auf meinem Weg immer tiefer in den Wald hinein. Die Fichten standen jetzt viel dichter. Ich erinnerte mich an die Stimmen, die ich gehört hatte, als Gorilla und ich bei unserem Zeltausflug Wasser geholt hatten. Kinderstimmen ganz in der Nähe. Es muss so sein, dachte ich. Bitte mach, dass es so ist. Unter meinen zerschlissenen Sohlen knackten die Äste. Zweige schlugen mir ins Gesicht, ein Nachtvogel gurrte in der Dunkelheit, mein Atem pfiff. »No panic on Titanic«, flüsterte ich vor mich hin. »No panic on Titanic, no panic on Titanic, no panic on Titanic, no panic on Titanic, no …«

Jetzt konnte ich es hören. Das Gurgeln und Plätschern des Wassers. Der Mond tauchte am Himmel auf, und ich konnte alles etwas deutlicher erkennen . Dort unten neben meinen Füßen war er. Der Bach. Ich erkannte ihn wieder, er
schlängelte sich den Berg hinunter und tauchte in einer dünnen Biegung unten im Garten hinter dem Holzschuppen auf. Ich rannte weiter den Bachlauf entlang, wich dann vom Ufer ab und sprintete los zu einer Stelle, wo der Wald sich lichtete. »Bitte, bitte, bitte …« Am Rande der kleinen Lichtung blieb ich stehen. Kein orangefarbenes Zelt weit und breit. Aber im Moos, den Rücken an den großen Felsen gelehnt, saß Gorilla. Sie schlief nicht. Als sie mich entdeckte, sprang sie sofort mit wackeligen Beinen auf. Ich rannte zu ihr und flog in ihre großen Arme. »Ich wusste es!«, rief ich. »Ich wusste, dass du nicht gefahren bist!« – »Natürlich hast du es gewusst! «, brummte Gorilla und wuschelte mir durch die Haare. »He-he! Glauben die tatsächlich, dass ich von hier verschwinde, ehe ich dich wieder bei mir habe? Nee-nee-nee! Und ich wusste doch, dass du am Ende herausfinden würdest, wo ich bin.«

Ihr Blick wanderte hoch zu dem großen Affenstern am Himmel, und sie zwinkerte ihm wie zum Dank zu. »Hast du den Zettel bekommen, den ich geschrieben hatte?« Ich nickte. »Ich habe ihn hier in der Tasche, Tord hat ihn mir gebracht. Aber warum hast du mir nichts gesagt?« Ich musste sie knuffen. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass diese Lichtung … dassdass- dass … dass sie hier ist?«

Gorilla setzte mich ab. Sie schien glücklich und bekümmert zugleich zu sein. »Nun, ich … ich war ein paarmal kurz davor. Ich hatte wohl im Gefühl, dass es so kommen würde, deshalb wollte ich dir diesen Ort ja auch zeigen. Aber …« Sie sah mich mit Augen an, die plötzlich so klein, so klein waren. »Du weißt, dass man mir niemals das Recht zusprechen wird, dich wieder zu mir zu holen. Das Einzige, was wir jetzt noch tun können, ist, von hier zu verschwinden.« – »Ja!«, sagte ich. Von mir aus konnten wir gar nicht schnell genug von hier wegkommen. »Los!« »Es ist nur so«, fuhr Gorilla mit besorgtem Ton fort. »Mit mir von hier abzuhauen wird kein normaler kleiner Zeltausflug in den Wald. Es kann schwer werden, vielleicht wird uns sogar die Polizei verfolgen. Und ich dachte mir, wenn ich dir erzähle, dass du mich hier finden kannst, fühlst du dich vielleicht verpflichtet, zu mir zu kommen. Aber wenn ich es dir überlasse, es allein herauszufinden, dann fällt es dir vielleicht leichter, zu entscheiden, ob du mitkommen oder doch lieber im Rainfarn bleiben willst.«

»Spinnst du?«, sagte ich und schlang meine Arme um ihr Bein. »Ich will nicht eine Sekunde im Rainfarn bleiben. Ich will bei dir sein!«– »Hehe. « Gorilla tätschelte mir den Kopf. »Aber eine Sache hättest du mir ruhig trotzdem erzählen
können«, sagte ich vorwurfsvoll. Sie hob die Augenbrauen. »Warum hast du mir nie gesagt, dass du auch im Rainfarn gewohnt hast? Ich habe dich auf den Fotos gesehen.« Plötzlich sah Gorilla verlegen aus. »Meine Jahre im Rainfarn sind nichts, worauf man stolz sein könnte. Gerd hat mich nie gemocht. Meist war ich ihr lästig. Um bei der Wahrheit zu bleiben, habe ich wahrscheinlich einfach versucht, die Zeit dort zu vergessen.« Wieder wuschelte sie mir durch die Haare. »Ja, ja«, sagte sie und warf den Kopf in den Nacken, als wäre das alles nicht der Rede wert. »Aber jetzt haben wir an anderes zu denken, wir beide.« Sie sah mich an. »Willst du wirklich fahren?«, fragte sie. »Sicher?« – »Ja! Komm schon!«, rief ich und zog sie mit aller Kraft am Arm. »Wir haben es eilig!« – »He-he«, lachte Gorilla. »Du hast recht. Wir müssen nach Hause und packen.«

Wir stapften durch den dunklen Wald. Unter unseren Füßen knackten die Äste. Wir schwiegen. Als wir ein Stück gelaufen waren, streckte Gorilla ihre Pranke aus, nahm meine Hand und drückte sie so fest, dass ich fast aufgeschrien hätte. Sie sagte nichts, sie drückte nur meine Hand. Am Weg stand der Volvo, ganz genau dort, wo er vorgestern gestanden hatte, als wir von unserem Ausflug nach Hause gefahren waren. Und genau wie vorgestern stieg ich ein und setzte mich auf den Vordersitz neben Gorilla. Genau wie vorgestern startete der Wagen mit einem Knurren. Vieles war genau wie vorgestern. Und doch war alles ganz anders.

Nächste Woche:
… lest Ihr die zwölfte und letzte Folge der Geschichte von Jonna und Gorilla. Die beiden fahren zurück zum Schrottplatz und packen für die Flucht. Doch leider brauchen sie sehr lange. Zu lange, um zu entkommen?

Den zehnten Teil der Geschichte findet ihr hier.

Frida Nilsson:
Ich, Gorilla und der Affenstern
Gerstenberg
Verlag, 12,95 €