Lesezeichen
‹ Alle Einträge

KrimiZeit für Kinder: Ein rätselhafter Engel

 

Illustration: Ulf K. für DIE ZEIT/ www.ulf-k.blogspot.com

E.L. Konigsburgs Kunstkrimi spielt im New Yorker Metropolitan Museum – und mit dem kindlichen Wunsch, auszureißen

Von Magdalena Hamm

Einmal wäre ich fast ausgerissen. Als ich etwa acht Jahre alt war, zog ich eines Nachmittags einen roten Lederkoffer unter meinem Bett hervor. Er war leider nicht besonders groß, weil er zum Arztspielen und nicht zum Verreisen gedacht war. Ein anderes Gepäckstück hatte ich nicht – vom Tornister einmal abgesehen. Aber wer haut schon mit seiner Schultasche von zu Hause ab? Meine Eltern saßen im Garten, es wäre ein Leichtes gewesen, unbemerkt durch die Haustür zu verschwinden. Als ich den Türknauf in der Hand hielt, zögerte ich dennoch. Es war nicht so, dass ich mich mit meinen Eltern zerstritten hatte, abgesehen von den üblichen Räum-dein-Zimmer-auf- oder Iss-den-Teller-leer-Schikanen waren sie schon in Ordnung. Ich suchte auch gar nicht nach einem Grund. Es ging ums Ausreißen selbst, um das Abenteuer, das damit verbunden war.

Bei Claudia, der elfjährigen Heldin des Romans Die heimlichen Museumsgäste, ist es ganz ähnlich. Zwar missfallen ihr die Ungerechtigkeiten, die sich daraus ergeben, dass sie das älteste Kind und einzige Mädchen in ihrer Familie ist (einmal musste sie tatsächlich an ein und demselben Abend die Spülmaschine ausräumen und den Tisch decken, während ihre Brüder nichts taten). Drängender jedoch ist der Wunsch, etwas Abwechslung in ihr gleichförmiges Leben zu bringen. Sie hat es einfach satt, immer nur Claudia Kincaid zu sein, die in der Schule lauter Einsen schreibt und wohlbehütet in einem öden Vorort von New York aufwächst.

Der Form nach ist das Buch ein langer Brief einer gewissen Mrs. Basil E. Frankweiler an ihren Rechtsanwalt Saxonberg. Lange erfährt man nichts über diese beiden Personen, was nicht weiter stört, weil Mrs. Frankweiler Claudias Geschichte ganz wunderbar erzählt. Der Briefform wird man sich nur dann wieder bewusst, wenn die Schreiberin einen ihrer Kommentare in Klammern setzt (etwa so: »Ich bewunderte Claudias Gründlichkeit von ganzem Herzen. Ihr Interesse für feinste Einzelheiten ist ebenso stark ausgeprägt wie meins«).

Claudia ist wirklich sehr gründlich. Als sie beschließt wegzulaufen, ist für sie klar, dass sie es nicht »auf die altmodische Tour« tun wird. Sie wird nicht einfach ein paar Dinge zusammenraffen und drauflosmarschieren. Nein, Claudia hat einen wohldurchdachten Plan: Mehrere Wochen verzichtet sie auf ihr geliebtes Eis mit heißer Schokosoße, um Taschengeld zu sparen; sie wählt ihren zweitjüngsten Bruder Jamie zu ihrem Begleiter, weil der reich ist (durch erfolgreiches Glücksspiel) und außerdem einigermaßen umgänglich. Und sie hat ein Ziel: das Metropolitan Museum of Art. Welch ein genialer Einfall! Der Museumsbesuch kostet keinen Eintritt, und das Haus ist riesig, sodass zwei Kinder sich dort leicht verstecken können.

Alles läuft wie geschmiert. Claudia und Jamie schlafen in einem Himmelbett aus dem 16. Jahrhundert, baden im Brunnen des Museumsrestaurants und schließen sich jeden Tag einer anderen Schulklasse an. Claudia legt nämlich großen Wert drauf, dass sie sich weiterhin bilden, jetzt, wo sie der Schule fernbleiben. Als im Museum eine neue Statue aufgestellt wird, von der man vermutet, dass sie das Werk des großen Michelangelo sein könnte, bekommt Claudia die Gelegenheit, ihrer Flucht einen tieferen Sinn zu verleihen. Sie ist wild entschlossen, erst wieder nach Hause zu gehen, wenn sie das Rätsel um den kleinen Marmorengel aufgeklärt hat. Aus der Zeitung erfahren sie und Jamie, dass der Engel einst einer Sammlerin gehört hat: einer gewissen Mrs. Basil E. Frankweiler! Diese hat bei der Versteigerung der Statue lediglich 255 Dollar erhalten. Sollte die Figur wirklich von Michelangelo stammen, wäre sie einige Millionen wert. Sehr seltsam.

Die Geschwister verbringen fortan lange Tage damit, »alles über Michelangelo zu lernen«. Sie durchstöbern den Museumsladen und die große Stadtbibliothek. Nachts betrachten sie die Statue von allen Seiten. »Es ist wirklich zu schade, dass wir ihn nicht anfassen dürfen«, seufzt Claudia. »Aber wir leben wenigstens mit ihm zusammen«, tröstet Jamie. »Wir sind die einzigen beiden Menschen auf der ganzen Welt, die mit ihm zusammenleben.« Nicht ganz, Claudia fällt es wie Schuppen von den Augen: »Mrs. Frankweiler hat auch mit ihm zusammengelebt. Sie konnte ihn anfassen…«

Des Rätsels Lösung ist nah und damit auch die Erfüllung von Claudias Wunsch, »anders« nach Hause zurückzukehren, »als Heldin zum Beispiel«. Oder noch viel besser: mit einem Geheimnis im Gepäck. Andernfalls, so ihre Befürchtung, wären all die Mühen und Entbehrungen des Weglaufens umsonst gewesen.

Mir selbst reichte als Achtjährige das Gedankenspiel. Nachdem ich den Türknauf einige Sekunden in der Hand gehalten hatte, machte ich auf dem Absatz kehrt und verstaute den Koffer wieder unter meinem Bett. Ich setzte mich zu meinen ahnungslosen Eltern und lächelte in mich hinein − wenn die wüssten! Ich hatte nun ein Geheimnis: Einmal wäre ich fast ausgerissen.

Der spannende Krimi „Die heimlichen Museumsgäste“ von E.L. Konigsburg ist der zehnte Band der 15-teiligen neuen Krimiedition für Kinder von der ZEIT. Hier erfährst Du mehr darüber.