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Bei Familie Feuerstein

 

Brennende Fettklumpen als Beleuchtung, Wände zum Bemalen und Knochen zum Spielen/ Illustrationen: Helen Gruber für DIE ZEIT/www.helengruber.de

In einer Höhle in Frankreich haben vor 14000 Jahren Kinder gespielt. Noch heute findet man ihre Spuren

Von Urs Willmann

Robert Bégouën ist ein echter französischer Graf mit einem Schloss, von dessen Terrasse aus man direkt auf die Schneeberge der Pyrenäen blicken kann. Und dieser Graf besitzt mit seiner Familie drei Höhlen, die in der Steinzeit von Menschen bewohnt waren. Man findet dort uralte Kunst an den Felsen. Außerdem Schädel von Höhlenbären und Klingen aus Feuerstein.

Das Besondere an den Höhlen des Grafen Bégouën sind aber nicht nur Wandbilder, die belegen, dass die Steinzeitler großartige Künstler waren. Vielmehr sind es Spuren, die Einzelheiten über den Alltag von damals verraten. Und vor allem – das ist etwas ganz Besonderes – erzählen uns diese Spuren etwas über das Leben der Steinzeitkinder.

Archäologen entdeckten bisher auf der Welt nur wenig Überreste, die uns heute eine Vorstellung davon geben, was Kinder vor so langer Zeit Tag für Tag getrieben haben. Vermutlich mussten sie früh hart arbeiten. Anhand von Knochen aus Gräbern stellten Wissenschaftler fest, dass die Kleinen den Erwachsenen schon mit sechs Jahren viel helfen mussten.

Nirgendwo erfahren wir so viel über den Alltag vor fast 14000 Jahren wie in der Höhle Tuc d’Audoubert – so heißt die Höhle des Grafen. Netterweise zeigt er sie uns. In einem wackeligen Boot paddeln wir den Volp hinauf. Dieser kleine Fluss verschwindet in einem Loch im Felsen, und wir schippern direkt hinein in die Unterwelt!

Die Höhle verschluckt alles Tageslicht, unsere Taschenlampen beleuchten das gespenstische Gewölbe über unseren Köpfen nur schwach. Nach 50 Metern legen wir an. Unter den Stiefeln knirscht der Kies. Ein kurzer Fußmarsch, dann klettern wir eine rostige Leiter hoch bis zu einem Eisengitter. Der Graf kramt nach den Schlüsseln. Es knackt im Schloss. »Hereinspaziert«, sagt er, »willkommen in der Vergangenheit!«

Tausende von weißen Stalaktiten hängen von der Decke. Das sind Kalkablagerungen, die das Wasser beim Herabtropfen hinterlassen hat. Wir leuchten mit unseren modernen Lampen herum. Die Steinzeitkinder hatten damals nur brennende Fettklumpen, die sie auf Sandsteintäfelchen herumschwenkten. Trotzdem fanden sie sich in dem Labyrinth offenbar ganz gut zurecht.

Als Erstes stellen wir fest, dass niemand aufgeräumt hat. Die Utensilien der frühen Bewohner liegen genauso herum wie zu Familie Feuersteins Zeiten. In der Wand klemmt der Kratzer aus Stein, mit dem der Vater die Fleischfetzen von den Knochen der erbeuteten Rentiere schabte. Man sieht auch heute noch genau, wo Mama Feuerstein ihre Liebsten bekochte. Jetzt ist niemand von ihnen mehr da. Die Jäger haben ihre Anzüge mitgenommen, ihre Garderobe ist leer: Es stecken nur noch die vier Knochensplitter in der Wand, an denen sie damals ihre Felle aufgehängt haben.

Schauen wir also im Obergeschoss nach. Dazu müssen wir eine schmale Röhre hinaufkraxeln und uns dann, auf dem Rücken kriechend, mit eingezogenen Schultern durch einen schmalen Gang zwängen. Das ist ziemlich unheimlich. Lehmverschmiert betreten wir das »Spielzimmer«. Der Graf richtet die Taschenlampe auf einen riesigen Knochen weit hinten im Raum. Es sieht aus, als hätten hier bis vor wenigen Augenblicken Kinder gespielt und den Oberschenkelknochen eines Höhlenbären nur mal eben an die Wand gelehnt. Oder dort einen Schädel auf einen Stein gelegt. Knochen zum Spielen fanden die Kleinen genug. Schließlich hatten Bären die Höhlen früher zum Schlafen genutzt; aber das war Jahrtausende, bevor die ersten Menschen kamen.

Von den Steinzeitkindern könnten auch die Gravuren stammen: mit einer Art dreizackigem Stecken hat jemand parallele Linien in den Fels gezogen. Aber waren das wirklich Kinder?, möchten wir vom Grafen wissen. Er schaut geheimnisvoll, lächelt und leuchtet dann auf eine kleine Delle im Boden. Tatsächlich, der Fersenabdruck eines halbwüchsigen Kindes. Hier ist es gehüpft, links, rechts, links. Und dort: Hat dasselbe Kind das Skelett einer Schlange ohne Kopf in die Ecke geworfen? Die blanken Reptilienknochen liegen noch da, das Kind ist verschwunden.

Ein kurzes Stück weiter stoßen wir erneut auf die Spuren der spielenden Steinzeit-Minis. Hier muss man allerdings aufpassen, dass man die unterschiedlichen Zeiten nicht durcheinanderbringt: Rund um ihre Schlafkuhlen drückten einst Höhlenbären mit ihren Pranken breite Spuren in den Lehm. Deutlich erkennt man die Abdrücke ihrer langen Krallen. Am selben Ort lümmelten viele Jahrtausende später die Menschenkinder herum. Wenn wir heute auf den immer noch feuchten Lehm schauen, sieht es so aus, als ob Kind und Tier gemeinsam herumgetollt wären.

Die Spuren sind so gut erhalten geblieben, weil die Grotte jahrtausendelang verschlossen war und hier unter dem Boden das Klima und die Temperatur immer gleich geblieben sind. Auch die Feuchtigkeit hat sich, wie von einer Klimaanlage gesteuert, nicht verändert. Kein Staub hat sich auf den Boden und die knöchernen Spielsachen gelegt. Am wichtigsten aber war, dass der Graf und seine Verwandten die Wohnung von Familie Feuerstein nach jedem Besuch fest verschlossen haben. Ganz selten, nur in Ausnahmefällen, lassen sie jemanden einen Blick in ihre Höhle werfen, einen Blick in die Vergangenheit.

Bevor die Batterien unserer Taschenlampen leer sind und wir ans Tageslicht zurückkehren müssen, zeigt uns der Graf einen Vorsprung am Rand der Höhle. Ein etwa vierjähriges Kind ist dort ausgerutscht. Dann hat es wieder festen Tritt gefasst, die Zehen in den Lehm gedrückt und ist heruntergesprungen. Und ein anderes Kind (oder war es dasselbe?) hat beim Spielen in den Dreck gegriffen: Nicht einmal die Spuren der feinen Rillen seines Fingerabdrucks sind verschwunden.

An dieser Stelle muss sogar Robert Bégouën immer wieder staunen. Er hat den Ort hundertmal besucht – trotzdem schaut er auch heute noch ungläubig und fasziniert auf den menschlichen Fingerabdruck, der 14 Jahrtausende überdauert hat.