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Neu! Die ZEIT Edition „Kinderfilme aus aller Welt“ – Teil 1: Whale Rider

 

Die geborene Anführerin: Pai in traditioneller Maori- Kleidung/ © Pandora Film

Wo bleibt er nur? Pai steht vor ihrer Schule und wartet. Jeden Tag nach dem Unterricht kommt ihr Großvater und holt sie ab. Mit einem alten Herrenfahrrad fährt er vor, die Stange mit einem Stück Stoff umwickelt, damit die Enkeltochter bequemer darauf sitzen kann. Immer ist Pai auf die Stange geklettert, zwischen die Arme des Großvaters. Es waren diese Fahrten jeden Tag, auf denen sich die beiden nah waren. Der Wind griff in die Haare des Mädchens, sie lehnte sich leicht an den Großvater und schaute zu ihm auf, voller Bewunderung. Und immer, wenn sie zu Hause angekommen waren, drehte der alte Mann im Garten noch eine Extrarunde um ein Beet. Als wollte auch er diese Momente der Nähe noch etwas verlängern.

Wo also bleibt er heute nur, ihr Koro? Er werde nicht kommen, erklärt ein Mitschüler dem Mädchen. Koro sei in der neuen Schule, einer Schule nur für Jungen, in der diese die alten Traditionen und Bräuche lernen werden. Pai solle besser mit ihm und den anderen Kindern mit dem Bus fahren. Doch Pai bleibt. Es kann einfach nicht sein, dass ihr Großvater sie hier stehen lässt. Das er ihr nicht einmal gesagt hat, dass er nicht kommen werde.

Pai heißt eigentlich Paikea und stammt aus einer Familie von Häuptlingen. Die Ahnenreihe lässt sich zurückverfolgen bis hin zu dem berühmten Krieger Paikea, der vor langer Zeit auf dem Rücken eines Wals nach Neuseeland kam, wo der Maori-Stamm fortan lebte. Generationen später ist Pais Großvater Häuptling. Doch er ist alt, und kein Nachfolger ist in Sicht. Koro muss mit ansehen, wie sein Stamm den alten Glauben verliert, wie die Traditionen in Vergessenheit geraten und zu folkloristischen Schulaufführungen verkommen. Für den alten Mann ist dies kaum zu ertragen.

Ein neuer Häuptling muss her. Einer, der sein Werk fortsetzen kann, der den alten Glauben in die neue Zeit trägt. Doch Koros erstgeborener Sohn, Pais Vater, entzieht sich dieser Aufgabe. Er ist ins Ausland gegangen und arbeitet dort als Künstler. Auf seine Art trägt er mit seinen Werken die Maori-Tradition in die Welt. Koro aber sieht in der Kunst seines Sohnes nicht mehr als touristischen Kitsch. Viele Jahre hat er darauf gehofft, dass sein Erstgeborener zurückkehren, eine Frau aus dem Stamm finden und den ersehnten neuen Häuptling zeugen würde. Pais Vater aber eröffnet der Familie bei einem der wenigen Besuche, er habe eine deutsche Freundin und die sei schwanger.

Koro muss einsehen, dass sein Sohn ihm und dem Stamm nicht die Rettung bringen wird, auf die er so viele Jahre gewartet hatte.

Und es hatte ihn ja bereits gegeben, den Enkel, der neuer Häuptling hätte werden sollen: Pai hatte einen Zwillingsbruder. Doch der starb bei der Geburt und nahm auch die Mutter mit sich. Aus diesem Grund war Pais Vater fortgegangen. Mit dieser Familientragödie beginnt der Film Whale Rider – und als Zuschauer tut man gut daran, sich innerlich für die folgenden eineinhalb Stunden zu wappnen.

Pai wächst bei den Großeltern auf und lernt die alten Traditionen kennen und lieben. Doch sie ist eben ein Mädchen. Erstgeboren zwar, aber kein künftiger Häuptling. So jedenfalls sieht es der alte Koro. Und als sein Sohn sich endgültig entzieht, gibt es in den Augen des alten Mannes nur eine Schuldige: Pai. Mit ihrer Geburt kam das Unheil über sein Volk. Durch sie ist die Verbindung zu den Ahnen gekappt, und so kappt auch er die Bindung zu seiner Enkelin. Der erste Schritt dazu ist es, sie nicht von der Schule abzuholen.

Pai ist zerrissen. Der Glaube des Großvaters ist so sehr auch der ihre. Sie will die Stammestraditionen fortführen und mit neuem Leben füllen – auch wenn ihr das nicht erlaubt wird. Zugleich ist sie davon überzeugt, mit ihrer Geburt die Stammeslinie durchbrochen zu haben: eine große Schuld. »Was ist denn nur falsch mit mir?«, fragt sie. Und erteilt dem Großvater gleichzeitig Absolution: »Er kann nichts dafür, dass ich ein Mädchen bin.«

Doch in die Schuldgefühle mischt sich Trotz: Während Koro alle erstgeborenen Jungen des Dorfes in den alten Bräuchen und Kampftechniken unterweist, um einen neuen Anführer in einer anderen Familie zu finden, übt auch Pai heimlich die alten Gesänge und trainiert Rituale des Kampfes. Obwohl ihr das als Mädchen streng untersagt ist.

Egal, mit welcher Härte der alte Mann seiner Enkelin begegnet, immer bleibt Pai aufrecht und kämpft, folgt ihrer inneren Stimme. Wie stark und beharrlich sie festhält, was sie sich damit aber gleichzeitig antut – und schließlich sogar fast mit ihrem Leben bezahlt: Das nötigt dem Zuschauer tiefen Respekt ab und ebensolches Mitgefühl.

Regisseurin Niki Caro zeichnet nicht nur den inneren Kampf, sie gewährt auch einen Blick in eine andere, gänzlich fremde Welt. Die Welt eines alten Volksstammes, der an Magie glaubt, an eine tiefe Verbindung zwischen Mensch und Natur. Niki Caro gelingt es, den Zuschauer in diese Welt mitzunehmen. Nie entsteht der Eindruck, man begaffe die fremde Kultur, wie man exotische Tiere im Zoo anstarrt. Wenn die Kinder bei anrührend dilettantischen Schulaufführungen die alten Lieder und Tänze darbieten, ist der Zuschauer bei den Eltern und Großeltern im Publikum, die selbst befremdet bis amüsiert auf die Überreste ihrer Kultur blicken. So richtet Caro von innen einen Blick auf das Fremde.

Das Innen und das Außen; das Fremde, das vertraut wird, und das Vertraute, das plötzlich fremd ist: Das ist der Kampf, den auch Pai und Koro miteinander und zugleich jeder mit sich selbst austragen. Zum Schluss, so viel sei verraten, darf alles gut ausgehen. Alles andere hätte man Niki Caro aber nach diesen 97 Minuten, die den Zuschauer durch unzählige Gefühlsstürme wirbeln, auch nicht verziehen. Wir empfehlen dieses Film für Kinder ab 12 Jahren.

Die neue ZEIT Edition „Kinderfilme aus aller Welt“ umfasst zehn preisgekrönte Spielfilme, die zeigen, wie Kinder in verschiedenen Ländern leben, wovon sie träumen, wofür sie kämpfen. Für Mädchen und Jungen von 6 bis 12 Jahren. Alle Filmen zusammen kosten 89,95 Euro und können hier bestellt werden. Der Reinerlös geht an das Kinderhilfswerk terre des hommes.

1. Whale Rider
2. Tsatsiki – Tintenfisch und erste Küsse
3. Wintertochter
4. Ein Pferd für Winky
5. Die Stimme des Adlers
6. Billy Elliot – I will dance
7. Zaïna – Königin der Pferde
8. Soul Boy
9. Lippels Traum
10. Kinder des Himmels