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Der Überflieger

 

Wenn Tom springt, scheint das Skateboard an seinen Füßen zu kleben/ © Mike Blabac; Red Bull Content Pool
Wenn Tom springt, scheint das Skateboard an seinen Füßen zu kleben/ © Mike Blabac; Red Bull Content Pool

Tom Schaar ist 13 Jahre alt und Profi-Skater: Er hat als Erster einen „1080“, einen der schwierigsten Skateboard-Tricks überhaupt, geschafft

Von Alex Westhoff

Tom Schaar zieht seinen Helm unter dem Kinn fest und zupft noch mal sein T-Shirt zurecht. Dann lässt er sich die steile, fast senkrechte Rampe hinunterrollen. Es ist eine sogenannte Mega-Rampe, ein riesiger, 15 Meter hoher Bau aus Stahl und Holz. Am anderen Ende fliegt Tom meterhoch in die Luft – und stürzt. Sein Skateboard schlägt krachend auf dem Holz auf, und Tom rutscht auf seinen Knieschonern die Rampe hinunter. Nichts passiert. Er versucht es ein zweites Mal, und ein drittes und ein viertes Mal. Und dann, beim fünften Versuch, gelingt Tom, was bisher niemand geschafft hat: Er wird aus der Rampe hoch hinauskatapultiert, schraubt sich ein, zwei, drei Mal durch die Luft, und das Skateboard scheint dabei unter seinen Füßen zu kleben. Denn Tom landet nach den drei Drehungen in der Luft wieder auf seinem Brett – und im Guinness Buch der Rekorde.

Mit diesem Sprung hat Tom vor ziemlich genau einem Jahr die Skateboard-Welt und sein eigenes Leben verändert. »Es war ein ganz normaler Tag, an dem ich skaten gegangen bin«, erzählt er. Den Rekord hatte er nicht groß geplant: »Beim Aufwärmen habe ich beschlossen, es zu versuchen.« Es, das ist der »1080« (gesprochen: Ten-Eighty). Der Sprung heißt so, weil eine Drehung 360 Grad sind – und drei Drehungen 1080. Ein Sprung, den noch niemand zuvor auf der Welt geschafft hatte, mit drei Drehungen um die eigene Achse. »Das war ein unglaubliches Gefühl«, sagt Tom. Einen Trick zu schaffen, an dem die besten Skater der Welt seit Jahren scheitern. Das Video von Toms 1080 ist im Internet ein Renner.

Der amerikanische Junge ist zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, wiegt knapp 40 Kilogramm, trägt eine Zahnspange und hat dunkelblonde Wuschelhaare bis über die Ohren. Plötzlich ist er besser als seine Vorbilder, als berühmte Skater wie Tony Hawk oder Shaun White. Mit dem einen Sprung ist aus dem talentierten Skater Tom Schaar der Skateboard-Star Tom Schaar geworden.

»Mein Leben hat sich unglaublich verändert in einem Jahr«, sagt der Siebtklässler, der mittlerweile 13 Jahre alt ist. Er gibt viele Interviews und reist um die Welt zu den größten Skateboard-Wettbewerben. Manchmal wird es ihm alles ein bisschen viel, sagt Tom, »aber meistens macht es Riesenspaß«. Seine Mutter achtet darauf, dass Tom Schule, Training und Reisen zu Wettkämpfen unter einen Hut bekommt, dass er nicht zu viele Termine hat und genug schläft. Weil Tom in der Schule häufig fehlt, arbeitet er den Stoff immer auf seinen Reisen nach. Das kann auch schon mal an ungewöhnlichen Orten sein, auf dem Rücksitz im Auto oder im Flugzeug oder im Hotel.

Tom hat auch Sponsoren. Die bezahlen ihm die Reisen zu den Wettbewerben, aber auch alles, was er für seinen Sport benötigt. »Die Schuhe gehen echt schnell kaputt«, erzählt Tom. »Ich brauche fast jede Woche ein neues Paar.« Zu Hause in seinem Zimmer stapeln sich deshalb die Kartons.

Skateboarden ist ein technisch sehr anspruchsvoller Sport. Auch Profis benötigen viele Stunden Training, bis sie neue Tricks draufhaben. Zum Beispiel oben auf der Rampe einen Handstand zu machen oder das Board in der Luft in die Hände zu nehmen, es zu drehen und kurz vor der Landung wieder unter die Füße zu stellen. Auf dem Trampolin hüpfend übt Tom zum Beispiel Drehungen. Im Fitnessstudio trainiert er seine Ausdauer. Und bis zu vier Stunden am Tag steht er auf dem Skateboard – oder fällt herunter. Auch das gehört dazu: Man zieht sich beim Skaten so manchen blauen Fleck zu.

Tom stand mit vier Jahren zum ersten Mal auf einem Brett. Andere Kinder wünschen sich einen Basketballkorb vor der Tür oder ein eigenes Pferd. Tom hat sich eine Skateboard-Rampe im Garten gewünscht – und sie irgendwann auch bekommen. Vor einigen Monaten ist die Familie Tom zuliebe sogar in einen Vorort von San Diego umgezogen. Seine Eltern waren es leid, mit Tom immer von ihrem Wohnort in der Nähe von Los Angeles die 200 Kilometer nach San Diego fahren zu müssen, zu den großen Rampen. Jetzt hat Tom die besten Trainingsbedingungen direkt vor der Tür.

Und das hat sich schon gelohnt. In Shanghai in China erreichte er im vergangenen Herbst seinen zweiten Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde: Mit einem blitzsauberen 1080 wurde Tom jüngster Goldmedaillengewinner bei den X-Games. Die sind für Skateboarder, BMX- oder Motocross-Fahrer so wichtig wie die Olympischen Spiele für Läufer oder Schwimmer. Dort treten die Besten der Welt gegeneinander an. Im Juni dieses Jahres finden die X-Games in München statt.

Da wird auch Tom dabei sein. »Ich war noch nie in Europa, ich kann es kaum abwarten«, sagt er. Ob er auch in München den 1080 schafft, der ihn berühmt gemacht hat? »Ich werde es versuchen«, sagt Tom. Und ob er schon jemals an eine halbe Drehung mehr, den 1260 (Twelve-Sixty), gedacht hat? »Ja«, sagt Tom, »das wäre eine verrückte Sache.«