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Politik im Karton

 

KinderZEIT© Steffen Roth

Vier Jahre lang haben die Mitglieder einer Bundesregierung Zeit, etwas für das Land zu tun. Wenn die Wähler dann eine andere Regierung bestimmen, heißt es: Ausziehen!

Von Peter Dausend

Michael Müller zieht um. Er muss. Ihm bleiben zwar noch ein paar Tage Zeit, weil der Nachmieter noch nicht gleich einzieht, doch die Umzugskartons stehen bereits in seinem Büro im Berliner Bundesumweltministerium, zusammengefaltet lehnen sie an der Wand. Herr Müller steht aus seinem Stuhl auf, geht um den Schreibtisch herum, schnappt sich einen Karton, faltet vier Streifen Wellpappe zum Boden zusammen, richtet die Seitenwände auf, stellt die entstandene Pappkiste auf seinen Besuchertisch und fängt an, Bücher einzupacken. Das ist ein ziemlich trauriger Anblick. Es sieht ein wenig so aus, als packe Herr Müller sein ganzes Leben zusammen. Dabei, sagt er, »wusste ich schon länger, dass es so kommen würde«.
KinderZEIT© Steffen Roth

Herr Müller muss aus seinem Büro ausziehen, weil seine Partei, die SPD, die Bundestagswahl am 27. September verloren hat. Bis dahin hat die SPD zusammen mit der CDU und der CSU, die man gemeinsam »Union« nennt, das Land regiert. Vom 28. Oktober an, wenn Angela Merkel im Bundestag erneut zur Bundeskanzlerin gewählt wird, bildet die Union zusammen mit der FDP die neue Regierung. Die SPD wird dann in der Opposition sein – und Herr Müller verliert seinen Job. »Ein bisschen wehmütig bin ich schon«, sagt Herr Müller, »aber ein Regierungswechsel gehört nun mal mit zum Spiel.«
Michael Müller ist 61 Jahre alt und war einer von insgesamt drei Staatssekretären im Umweltministerium. Staatssekretäre sind die engsten Mitarbeiter eines Ministers. Vier Jahre lang, vom Herbst 2005 bis jetzt, hat Herr Müller in seinem Büro am Berliner Alexanderplatz gearbeitet. Sein Thema, die Umweltpolitik, begleitet ihn aber schon sein ganzes Politikerleben, seit mehr als 30 Jahren. Herr Müller, ein recht kleiner Mann mit Nickelbrille und nicht mehr ganz so vielen Haaren auf dem Kopf, spricht aber nicht so gern von »Umwelt«, lieber sagt er »Mitwelt«. Und wenn ihm ein letzter Wunsch an seinem Arbeitsplatz erfüllt würde, dann würde er das »Umweltministerium« in »Lebensministerium« umtaufen. Mitwelt und Lebensministerium – Herr Müller glaubt, dass diese Begriffe besser beschreiben, wie wichtig die Arbeit ist, die Politiker wie er leisten müssen. Er hält sie für überlebenswichtig.

KinderZEIT© Steffen Roth
Christian Lindner zieht auch um. Er darf. Er weiß nur noch nicht so genau, wohin. Herr Lindner ist 30 Jahre alt und neu in den Bundestag gewählt worden. Zuvor war er neuneinhalb Jahre lang Landtagsabgeordneter für die FDP in Nordrhein-Westfalen. Nebenher hat er Politik, Öffentliches Recht und Philosophie studiert. Seine Koffer stehen noch in Düsseldorf. Wenn er nach Berlin kommt, schläft er bei Freunden, ein eigenes Büro hat er noch nicht. Eine Wohnung sucht er sich jetzt selbst, sein Büro bekommt er zugewiesen von der Bundestagsverwaltung. Die hat ihm auch einen vorläufigen Abgeordnetenausweis ausgehändigt und ihm die Telefonnummern von der Reisestelle und der Fahrbereitschaft des Bundestags gegeben. Jetzt muss Herr Lindner nur noch anrufen – und schon wartet ein Wagen vor der Tür. Das gehört zu den angenehmeren Seiten des Abgeordnetenlebens.
622 Abgeordnete werden dem neu gewählten Deutschen Bundestag angehören. Viele von ihnen sind zum ersten Mal dabei, viele alte scheiden aus. Das große Umziehen, das nun allerorten zu erleben ist, haben die Wähler veranlasst. Mit ihren Stimmen haben sie bei der Bundestagswahl entschieden, welche Partei wie viele Abgeordnete in den Bundestag entsenden darf – und wer mit wem ein Regierungsbündnis, eine Koalition, eingehen kann. In dieser Koalition arbeiten dann für vier Jahre Kanzlerin, Vizekanzler und die Minister zusammen – und auf der Ebene direkt darunter die Staatssekretäre.
Als Herr Lindner, ein schlanker Mann mit blonden Haaren, den man stets – ganz im Gegensatz übrigens zu Herrn Müller – in Anzug, farblich abgestimmter Krawatte und mit modischen Manschettenknöpfen antrifft, am 28. September zum ersten Treffen der FDP-Abgeordneten nach Berlin kam, fand er Unterschlupf im Büro seines Kollegen Werner Hoyer. Dort arbeitet er im Moment immer noch. Ein Laptop, ein Drucker, ein Stuhl – damit muss er sich vorerst begnügen. Im November wird er sein eigenes Büro beziehen. Mancher andere Neuling, so erzählt Lindner, müsse wohl sogar bis Dezember warten. Dann sollen auch die letzten Büros jener Abgeordneten, die nun aus dem Bundestag ausscheiden, renoviert sein. Auch diese Neulinge haben ihre »Notschreibtische« bei Kollegen aufgestellt. Wenn man bedenkt, dass jeder neue Abgeordnete in den nächsten Tagen zwei oder drei Mitarbeiter einstellt, dürfte es in diesen Büros bald sehr eng werden. »Wie soll man da vernünftig arbeiten?«, stöhnt Lindner. Das, der leicht chaotische Einstieg, gehört zu den eher unbequemen Seiten des Parlamentarierlebens.
Der guten Laune von Herrn Lindner schadet das aber überhaupt nicht. Seine Partei, die FDP, hat bei der Wahl ein sehr gutes Ergebnis erzielt, sie darf nun mitregieren. Sein erster Eindruck? »Hier im Berlin herrscht ein viel höheres Tempo als in Düsseldorf«, sagt Herr Lindner. Dann fügt er rasch noch »Ich finde das toll« zu und lächelt dann fröhlich.
Der etwas weniger fröhliche Herr Müller hat seine Umzugskarton nun vollgepackt. Das reicht für heute. Sein Lieblingsgegenstand im Büro, ein persönlicher Brief des berühmten Bundeskanzlers Willy Brandt, des wohl bedeutendsten Sozialdemokraten des letzten Jahrhunderts, darf noch ein wenig an der Wand hängen bleiben. »Den pack ich als Letztes ein«, sagt Herr Müller.
950 Mitarbeiter sind im Umweltministerium beschäftigt. Ausziehen müssen nur die vier an der Spitze, die politische Leitung, der Minister und die drei Staatssekretäre, alle von der SPD. Auszüge, das weiß Herr Müller, gehören zum politischen Alltag, im Bundestag wie in den Ministerien. Ein ewiges Bleiberecht im Amt gibt es für niemanden. Keinem gehört der Laden. Nicht Herrn Müller – und auch nicht seinem Nachfolger. Jeder, der einzieht, zieht auch irgendwann aus. Das ist Demokratie.