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„Die Männer sind zu Frauen geworden“ – oder: warum so viele Kampagnen gegen sexuelle Kriegsgewalt zu kurz greifen

 

„Vergewaltigungen im Minutentakt“ titelte am Freitag die Süddeutsche Zeitung. „Kongo: jede Stunde 48 Vergewaltigungen“ meldete die BBC. Die dritte Rechnung machte der Onlinedienst mediacongo.net auf: „Täglich über 1.100 Frauen im Kongo vergewaltigt“.

„Kongo“ und „Vergewaltigung“ sind inzwischen fast zu einem Synonym geworden, und es müssen schon horrende Schlagzeilen her, um dem Thema neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Jede Stunde 48 Vergewaltigungen“. Die Überschrift hat noch keiner geliefert. Sie ist dramatisch, sie stimmt – und ist in dieser Verkürzung gleichzeitig falsch.

Was ist die Grundlage der Berichte? Eine Studie von amerikanischen Wissenschaftlern, so eben veröffentlicht im „American Journal of Public Health“. Demnach sind im Kongo allein in einem Jahr über 400.000 Frauen vergewaltigt worden. Bisherige Zahlen – meist basierend auf den Angaben betroffener Frauen aus den vom Krieg zerrütteten Kivu-Provinzen– schwankten bislang von 15.000 bis 17.ooo Vergewaltigungsopfer pro Jahr. Dabei war allerdings immer klar, dass die Dunkelziffer weitaus höher liegt. Ist Vergewaltigung also die ultimative,  tagtägliche Waffe von Soldaten und Rebellen, viel schlimmer als man je anzunehmen wagte?

Nein. Erstens geht es in der Studie nicht um aktuelle Zahlen. Die amerikanischen Wissenschaftler haben eine repräsentative Erhebung (unter anderem finanziert von der Weltbank) zu Demografie und Gesundheit im Kongo im Zeitraum 2006/2007 ausgewertet. Rund 3500 Haushalte (nicht nur im Osten, sondern im ganzen Land) wurden zu mehreren Themen, darunter auch sexueller Gewalt befragt. Auf dieser Basis kamen Ergebnisse zustande, die ebenso schockierend wie lehrreich sind. Denn sie stellen viele der gängigen Wahrheiten über sexuelle Gewalt in Frage.

Fast fünf Millionen Kongolesinnen sind demnach im Lauf ihres Lebens mindestens einmal vergewaltigt worden. Soldaten und Rebellen bilden die brutalste Gruppe der Täter. Die zahlenmäßig größte Gruppe aber sind Zivilisten. Über drei Millionen Frauen, so die Studie, sind Opfer einer Vergewaltigung durch ihre Ehemänner geworden. Das zeigt einerseits eine horrende Alltagsgewalt, die in anderen (Nach)Kriegsländern mit einer sehr frauenfeindlichen Vorkriegskultur wie Afghanistan ähnlich horrend sein dürfte. Andererseits zeigt es eine wachsende Bereitschaft, diese Verletzugn von Körper und Würde nicht länger hinzunehmen. Vor nicht allzu langer Zeit hätten die wenigsten Kongolesinnen sexuelle Gewalt in der Ehe als solche bezeichnet.

Vergewaltigung ist im Kongo immer noch Bestandteil des Krieges und des Terrors gegen die Zivilbevölkerung. Zum Beispiel dann, wenn bewaffnete Gruppen – allen voran die Hutu-Milizen der FDLR oder Einheiten der kongolesischen Armee – Massenvergewaltigungen als „Bestrafung“ gegen „illoyale“ Dörfer einsetzen.

Aber man unterschätzt die Dimension des Problems, wenn man es auf das Schlagwort „Kriegswaffe“ reduziert und entsprechende Gegenmaßnahmen auf der Annahme aufbaut, wonach Opfer ausschließlich Frauen und Täter ausschließlich bewaffnete Männer sind. Genau das ist bis heute bei den meisten internationalen Hilfsprogrammen der Fall. Sie konzentrieren sich fast ausschließlich auf die medizinische Hilfe für weibliche Opfer und auf rituelle Kritik an den UN-Blauhelmen, weil sie die Frauen nicht besser schützen. Natürlich ist Hilfe für die Opfer lebenswichtig. Und sie ist internationalen Spendern am leichtesten zu vermitteln. Aber sie ist rein reaktiv und berührt nicht die Ursachen des Problems.

Was also tun außer schockiert und ratlos zu sein? Zunächst zuhören und Stimmen sammeln, so schwer es bei diesem Thema auch sein mag. In den Kivu-Provinzen beschreiben die Leute die Täter mit einer Redewendung: „Männer, die sich nicht mehr um die Gemeinschaft scheren.“ Was Mitleid heischend klingt, beschreibt ein typisches Kriegs– und Nachkriegsphänomen: Die, die zerstören, sind meist selbst zerstört. Viele Vergewaltiger (unter den Tätern gibt es übrigens auch Frauen) haben  (sexuelle) Gewalt am eigenen Leib erfahren. Und sie agieren in einer Gesellschaft, die keineswegs Frieden gefunden hat.

In ihrem lesenwerten Report  „War Is Not Yet Over“ hat die britische NGO „International Alert“ BewohnerInnen von vier Gemeinden in Nord-und Südkivu ausführlich zum Problem sexueller Gewalt befragt. Fazit: Die meisten sehen Vergewaltigung nicht als Kriegsstrategie, sondern als Gradmesser dafür, wie weit ihre Gesellschaft noch von Frieden entfernt ist. Dass der Krieg nunmehr ein „low intensity conflict“ geworden ist, nehmen die Menschen natürlich wahr. Aber sehr viel schärfer als ausländische Helfer und Journalisten erfahren sie, dass  Konfliktursachen wie Landknappheit, das Verdrängen vergangener Gräueltaten, die Mafiotisierung von politischer Macht und ökonomischem Reichtum weiter existieren oder gar schlimmer werden. Dazu zählt auch die Zerstörung maskuliner Identitäten: „Die Männer sind zu Frauen geworden“, sagt einer der Befragten, und meint die Machtlosigkeit der Männer, in einer solchen Gesellschaft soziale oder wirtschaftliche Bedeutung zu finden. Vergewaltigung aber ermöglicht den Anschein von Macht und sozialer Kontrolle.

Die Schlussfolgerung?

Erstens: Ohne Männer geht gar nichts. Jedes Hilfsprojekt, das Frauen zu den ausschließlichen Opfern und damit Hilfsberechtigten erklärt, verringert seinen eigenen Spielraum und schafft im Zweifelsfall Ressentiments.

Zweitens: Je lauter sich internationale Hilfsorganisationen als Avantgarde im Kampf gegen sexuelle Gewalt präsentieren, desto größer die Gefahr, dass dieser Kampf als „ausländische Einmischung “ denunziert wird. Soll heißen: kongolesische Akteure fördern, wo es nur geht – und sich im Hintergrund halten.

Drittens: All das ist leichter gesagt und geschrieben als getan.