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Somalia – oder: wie man mit Khat-Händlern Impfkampagnen durchführen könnte

 

Was fällt Ihnen spontan bei dem Wort Somalia ein?
a: Kleinkinder mit Hungerbäuchen
b: Radikale Islamisten mit Schnellfeuergewehren
c: Khat kauende Piraten mit Schnellfeuergewehren
d: Staatszerfall XXL
e: a, b, c und d

Wer alle Punkte ankreuzt, liegt richtig – und läuft doch in die Irre. Somalia auf Kalaschnikows, Khat und ewigen Katastrophenzustand zu reduzieren, ist vielleicht einer der größten Denkfehler der internationalen Staatengemeinschaft. Der zweite besteht in dem unerschütterlichen Glauben, nur eine funktionierende Zentralregierung könne aus dem super failed state wieder ein halbwegs stabiles Staatswesen machen. Genau das will man auf der großen Somalia-Konferenz in London zum x-ten Mal versuchen.

Aber ist Somalia wirklich so kaputt und unregierbar, wie wir alle glauben? Mary Harper, Afrika-Expertin der BBC, argumentiert, dass ausländische Politiker und Journalisten seit Jahren durch die falsche Brille auf Somalia blicken: In dem Land funktioniert erstaunlich viel. Da ist zunächst Somaliland, jener Teil, der sich 1991 nach dem Sturz des Diktators Siad Barre für unabhängig erklärte und trotz fehlender internationaler Anerkennung und internationaler Geberhilfe ein erstaunlich gut funktionierendes Staatswesen aufweist.

Da ist die halb-autonome Region Puntland, die nicht nur Piraten hervorbringt, sondern derzeit zusammen mit Somaliland auch ein ganz legales Wirtschaftswunder in den Hafenstädten am Golf von Aden. Dort boomt der Export von Somalias wertvollsten Produkten – Schafen und Kamelen.

Überhaupt erweisen sich Somalias Viehhirten als gewiefte Krisenakteure, wenn es darum geht, Schafe und Kamele über hunderte von Kilometern durch die Gebiete von Milizen aller Art zu treiben – und dabei sowohl die Verluste an Vieh wie die Zahlung von Wegzöllen auf ein Minimum zu beschränken. Gleiches gilt für die somalische Diaspora, eine der weltweit aktivsten, deren Geldüberweisungen in den vergangenen Jahrzehnten wahrscheinlich ebenso vielen Menschen das Überleben gesichert haben wie internationale Hilfsgüter.

Harper verweist auf den somalischen Politik-und Wirtschaftsexperten Nuradin Dirie, der einige unkonventionelle Vorschläge anbietet: Wenn es der Geschäftssinn der Somalis möglich macht, fast überall eine gekühlte Coca-Cola zu kaufen, dann könnte man die Kühltruhen der Getränkeverkäufer auch für die Lagerung von Impfstoffen nutzen. Und wenn die Händler der nationalen Leichtdroge Khat es schaffen, „unabhängig von Krieg, Frieden, Dürre, Überflutung, Freitagsgebet oder Ramadan“ jede Ecke des Landes täglich mit frischem Nachschub zu versorgen, dann könnte man deren Transportnetz auch für die Versorgung mit Impfstoffen und Medikamenten nutzen.

Eine Impfkampagne mithilfe von Drogenhändlern?

So weit sind die UN noch nicht. Aber in dem Land erreichen internationale Organisationen nur etwas, wenn sie sich der Kreativität und der Dynamik lokaler Akteure und der Business Community bedienen.

Solche Ideen werden bei den internationalen Somalia-Konferenzen nicht diskutiert. Aber man darf der britischen Regierung zunächst dazu gratulieren, dass sie neben UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, US-Außenministerin Hillary Clinton, den Vertretern von 40 Nationen sowie der somalischen Übergangsregierung auch Regierungsvertreter aus Somaliland und Puntland mit an den Tisch gebracht hat.

Getreu dem Motto „Militär allein ist keine Lösung“ gehören in London auch Themen wie „Politischer Prozess“, „Humanitäre Hilfe“ und „Bessere internationale Koordination“ zur Tagesordnung. Aber im Vordergrund stehen der Kampf gegen die islamistische Miliz Al-Shabaab und gegen die Piraterie, die inzwischen die Kosten im internationalen Schiffsverkehr empfindlich in die Höhe getrieben hat. Was die Seeräuberei betrifft, so wurde im Vorfeld die Einrichtung spezieller Gerichtshöfe auf den Seychellen und Mauritius für Piratenprozesse erwogen. Im Fall eines Schuldspruchs sollen die Verurteilten ihre Strafe dann in Gefängnissen in Somaliland und Puntland absitzen.

Was Al-Shabaab betrifft, so wähnt sich die Internationale Gemeinschaft offenbar auf dem militärisch richtigen Weg. Durch Offensiven der Peacekeeper der Afrikanischen Union (AU), äthiopischer und kenianischer Einheiten sowie Splittermilizen, die der Übergangsregierung in Mogadischu mehr oder weniger loyal gegenüberstehen, ist Al-Shabaab zunehmend in die Defensive geraten.

Nicht, dass man den Islamisten irgendeine Atempause gönnen würde. Gerade erst hat Human Rights Watch deren zunehmend brutale Zwangsrekrutierung von Kindern und Jugendlichen dokumentiert. Aber im Zweifelsfall wird das Machtvakuum in befreiten Gebieten von oben erwähnten Milizen genutzt, welche die Bevölkerung und Hilfsorganisationen ähnlich terrorisieren können. Denn die international gestützte Übergangsregierung (Transitional Federal Government, kurz: TFG) in Mogadischu hat sich für den viel beschworenen Staatsaufbau als untauglich erwiesen und muss, weil ihr Mandat demnächst ohnehin ausläuft, schnellstens durch eine bessere Alternative ersetzt werden.

Alles gute Gründe, mit einem internationalen Kraftakt nachzusetzen, zumal die Hungersnot des vergangenen Jahres eingedämmt worden ist und der Sicherheitsrat gerade beschlossen hat, das Kontingent von Peacekeepern der Afrikanischen Union (AU) aufzustocken. Deren Mission AMISOM operiert in Somalia unter UN-Mandat. Ausgestattet mit westlichen Geldern und der stillen Hoffnung der internationalen Gemeinschaft, Al-Shabaab endgültig den Garaus zu machen.

Schön wär’s – aber welchen Preis zahlt dafür die Zivilbevölkerung?

Die kenianische Luftwaffe fliegt Bombenangriffe auf Shabaab-Stellungen und hat dabei bereits mehrere Zivilisten getötet. Weder die ugandische noch die burundische Armee haben den Ruf, besonders viel Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen – auch wenn sich ihr Vorgehen in der letzten Zeit etwas gebessert hat. Und dass Kenia mit seinem Einmarsch im Oktober 2011 mitten in die humanitäre Operation der Hilfsorganisationen in den Hungergebieten platzte, hat weder in der EU noch im UN-Sicherheitsrat irgendjemanden interessiert.

Die akute Hungersnot mag vorbei sein, aber im Süden ist die humanitäre Lage für Hunderttausende Somalis nach wie vor prekär. „Luftangriffe und die Schaffung von Pufferzonen durch das kenianische und äthiopische Militär verschlimmern die Lage“, warnt Samir Elhawary vom britischen Overseas Development Institute. „Sie behindern die Versorgung der Menschen mit Hilfsgütern.“ Und sie verwandeln eben diese Hilfe in ein strategisches Instrument.

International ist Somalia längst in das Raster des „Krieges gegen den Terror“ geraten. Dass die Londoner Konferenz daran grundlegend etwas ändert, darf man bezweifeln. Viel Platz für unkonventionelle Ideen bleibt dann wohl nicht.