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Die Boxerinnen von Kabul

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Die meisten ausländischen Journalisten in Afghanistan – mich eingenommen – sind sprachbehindert und können auf Dari oder Pashto gerade mal „danke“ und „Auf Wiedersehen“ sagen. Wie Blinde auf ihren Blindenhund sind wir auf unsere Übersetzer angewiesen – meist Studenten, die gut Englisch sprechen, einen Handyspeicher voller wichtiger Telefonnummern haben und irgendwo schnell ein Auto auftreiben können.

Mein Übersetzer heißt Maiwand, ist 26 Jahre alt, studiert Ingenieurswissenschaften an der Universität Kabul und spart für seine Hochzeit mit einer Jurastudentin. Maiwand hat die Manieren eines Gentleman und einen Fahrstil, der selbst Ungläubige zum Beten zwingt. Wann immer sich hundert Meter freie Strecke vor ihm auftun, nähert sich die Tacho-Nadel der 80Kmh-Marke. „Maiwand, ich würde gern am Leben bleiben“, sage ich dann, worauf er mit einem reumütigen „So sorry “ den Fuß vom Gaspedal nimmt.

Mit dieser Variante des Stop-and-Go landen wir vor dem Kabuler Sportstadion, einem ockerfarbenen Klotz mit einer horrenden Geschichte. Am Eingang lungern Kriegsveteranen herum, manche in Rollstühlen, andere auf Krücken. In einer kleinen Halle machen sich Judoka warm, auf dem grün-braunen Rasen trainieren Fußballer. Die Schaulustigen sind in Feierlaune: Afghanistan hat Pakistan in einem Freundschaftspiel geschlagen – und das, obwohl das afghanische Team in Islamabad bei 40 Grad im Schatten in langen Hosen spielen musste, während die Gegnerinnen in Shorts antreten durften.

Jawohl, richtig gelesen: es war ein Match der beiden Frauennationalmannschaften. Aber ein Sieg gegen das verhasste Pakistan schmeckt immer süß – auch dann, wenn ihn „nur die Mädchen“ errungen haben.

Maiwands Leidenschaft für Fußball ist seit der Zeit der Taliban deutlich abgekühlt. Pamir Kabul und Jami Herat waren in jenen Jahren die Top-Mannschaften. Wann immer sie aufeinandertrafen, stand Maiwand mit seinen Kumpels unter den Zuschauern – den Turban auf dem Kopf und so viel Barthaar wie möglich im Gesicht, um sich keine Hiebe einzufangen.

Als die Taliban eines Tages in der Halbzeitpause zwei Diebe aufs Spielfeld fuhren, um ihnen gemäß der Scharia die Hand abzuschlagen, sei er noch rechtzeitig durch den Ausgang entwischt, sagt Maiwand. Einige Wochen später, bei der Exekution einer Frau, hatten die Taliban die Stadiontore verschlossen. Da habe er sich nur wegdrehen und auf den Schuss warten können.

Maiwand spielt seither lieber Volleyball, soweit sein Rücken das zuläßt, in dem immer noch eine Gewehrkugel steckt. „Ein Quereschläger“, sagt er. Ein Souvenir des Bruderkrieges der neunziger Jahre, als diverse Fraktionen der Mudschahedin Kabul in Schutt und Asche legten, bis schließlich die Taliban die Warlords besiegten und ihre Version von Gesetz und Ordnung einführten.

So ist das in Kabul: In jedes Gespräch schleicht sich beiläufig der Alptraum der vergangenen Jahre ein – und wird im nächsten Moment wieder verdrängt. Aus einem der Kellerräume des Stadions dringen englische Kommandos. „Fight! Stop! Fight!“ In einem Trainingsraum tänzeln vierzehn Mädchen, die Hände in roten Boxhandschuhen, und schlagen entweder auf einen Sandsack oder auf einander ein. „AWBA“ steht auf ihren durchgeschwitzen Hemden. Das steht für „Afghan Women Boxing Association“. Der Coach an diesem Nachmittag ist ein dünnes Kerlchen mit Glatze und dünnem Schnauzbart. Mohammed Saber war vor 25 Jahren mal Landesmeister von Afghanistan und Silbermedaillen-Gewinner bei den pan-asiatischen Spielen in der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm. Heute trainiert er drei mal die Woche eine Truppe von Schülerinnen, die als Flüchtlingskinder im Iran und Pakistan Boxen gelernt haben. In einigen Monaten, glaubt Saber, sind sie reif für das erste Mini-Turnier, vielleicht gegen eine Mädchenmannschaft aus dem Iran.

Das wird wahrscheinlich mit bitterer Enttäuschung enden. Farzanah läßt zu oft die Deckung sinken, Shala ist zu stürmisch, Shukria heult zu schnell, wenn sie eine Gerade auf die Nase bekommt, und in Sachen Kondition ist auch noch einiges zu tun. Aber irgendwann müssen sie das erste Lehrgeld zahlen. Schließlich, sagt Saber, trainierten vor unseren Augen gerade die Pionierinnen einer zukünftigen Frauen-Nationalmannschaft.

Nicht alle Eltern waren von dieser Idee begeistern, aber Saber hat schließlich die Väter davon überzeugt, dass ihre Töchter nicht Schimpf und Schande, sondern irgendwann Ruhm und Ehre über die Familie bringen werden.

Fragt man die Pionierinnen nach ihrem Berufswunsch, dann antworten sie: „Profiboxerin“. Die eine oder andere streut als Alternative noch „Ärztin“ oder „Lehrerin“ ein. Fragt man sie nach ihrem Vorbild, antworten sie unisono: „Leila Ali“, die boxende Tochter des „Größten aller Zeiten“, Muhammad Ali. Fragt man sie nach den Taliban und der Geschichte dieses Sportstadions, dann zucken sie mit den Schultern. Sie waren Kinder, als auf dem Fußballfeld Menschen ermordet wurden. Sie sind jetzt fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Der Wahnsinn der vergangenen Jahre hat sie als Flüchtlingskinder gestreift, aber nie ganz erfasst. Der Krieg und die Taliban-Ära – das ist die Geschichte ihrer Eltern. Nicht die ihre.

 

Die Mullahs und der Hochzeitsrausch

Afghanen haben außer Selbstmordattentaten, Korruption, und der Opiummafia noch andere Sorgen: Heiraten.
Afghanische Hochzeitsfeiern sind (wie fast überall auf der Welt) eine Mischung aus Komödie, Familiendrama, Tanzmarathon und sozialem Schaulaufen. Aber nachdem ich gestern das erste Mal zu einer Hochzeit eingeladen war, meine ich trotz aller Unbedarftheit einige Besonderheiten festzustellen: Die Gäste lachen, tanzen, streiten, essen, trinken (nicht nur Tee) und zeigen stolz den neuesten Nachwuchs, indem sie die Kleinen mitten auf den Tisch setzen. Braut und Bräutigam dagegen machen den ganzen Abend ein Gesicht, als wohnten sie ihrem eigenen Begräbnis bei. Das wirkt bei ihr noch bedrückender als bei ihm, weil sie ein Viertelpfund Make-Up im Gesicht trägt.
Nun weiß ich von Besuchen in afghanischen Schönheitssalons, wo die Frauen stundenlang für ihre Hochzeit geschminkt und frisiert werden, welche Dramen mit einer arrangierten oder erzwungenen Ehe einhergehen. Aber das Paar von gestern abend kennt und mag sich schon seit einigen Jahren. Ich hatte es also mit einer vergleichsweise liberalen Großstadthochzeit zu tun. Trotzdem war das Mienenspiel der beiden zum Erbarmen. Das gehöre sich so, wurde mir erklärt, schließlich müsse sie den Abschied von der eigenen Familie betrauern. „Und der Bräutigam?“ „Der denkt an die Rechnung.“

Womit wir beim nächsten Problem sind. Afghanische Hochzeiten sind nicht nur der Aufbruch ins vermeintlich neue Leben, sondern auch der Sprung in die Schuldenfalle. Soviel wurde mir gestern klar: Wer außerhalb des Opiumhandels schnell und viel Geld verdienen möchte, muss eine Hochzeitshalle eröffnen. Die billige Variante besteht aus einem schlichten Saal in einem Hinterhof mit einem kleinen Podest für die Musiker, viel Platz für die Männer, einer Trennwand und dahinter etwas weniger Platz für die Frauen.
Die luxuriöse Variante besteht aus einem mehrstöckigen Hausklotz mit verspiegelter Glasfront und einem halben Dutzend Festsäle – ausgestattet mit Kronleuchtern made in China und einer Bühne mit zwei Thron ähnlichen Sesseln für den Foto-Marathon des Brautpaars mit Eltern, Geschwistern und Cousins und Cousinen.

Wir feierten gestern nach der teuren Variante. Zu bezahlen waren die Saalmiete (inklusive Plastikblumengestecke und Plastikrosenteppich für das Brautpaar). Außerdem ein mehrgängiges Menü, sowie acht spindeldürre Kellner, die im Laufschritt mit rasant schlechter werdender Laune über 400 Anwesende versorgten. Eine Party mit weniger als 300 Gästen, so wurde mir versichert, gelte als „lahm“.
Zu bezahlen waren außerdem der Goldschmuck für die Braut, zwei Hochzeitskleider und –anzüge (das Paar hat zwei Auftritte), eine giftgrün schimmernde Hochzeitstorte, der Hochzeitsfotograf, das Hochzeitskamerateam, sowie die Hochzeitsband, deren Verstärker einem Berliner Techno-Club alle Ehre gemacht hätte. Alles in allem dürfte der Bräutigam gestern außer seiner Braut eine Rechnung von mindestens 10.000 Dollar mit nach Hause genommen haben. Dabei darf man sicher sein, dass er die Schulden der ähnlich üppigen Verlobungsfeier vor wenigen Monaten noch nicht abbezahlt hat. Der Bräutigam ist von Beruf Ingenieur. In zehn Jahren wird er – mit Hilfe des Vaters – vielleicht Licht am Ende des Tunnels sehen. Für den Durchschnittsafghanen mit einem Monatseinkommen von knapp 100 Dollar ist schon der Gedanke an eine Hochzeit zu teuer.

In Mazar-e-Sharif, in der nördlichen Provinz Balkh, wo die Partypreise ähnlich hoch sind wie in der Hauptstadt Kabul, hat inzwischen die Ulema, der Rat der Religionsgelehrten, eingegriffen und eine Fatwa erlassen. Demnach ist nur noch eine üppige Verlobungsfeier erlaubt. Die Hochzeiten selbst sind in bescheidenerem Rahmen zu Hause abzuhalten. Sich in Schulden zu stürzen, sei „unislamisch“, erklärte der Rat. „Diese Feiern bringen Unruhe in die Gesellschaft. Zu viele Männer bleiben ledig, zu viele Mädchen sind ohne Ehemann.“
Wie den „Afghanistan Times“, einer englischsprachigen Zeitung, zu entnehmen ist, hängen in den Hotels und Hochzeitshallen der ganzen Provinz nun Kopien der Fatwa, die auch vom Provinzgourverneur abgesegnet ist. Der heißt Atta Mohammad Noor und verwahrt sich ausdrücklich gegen den Vorwurf, er wolle wie einst die Taliban das Feiern verbieten: „Die Leute geben Hochzeitsparties als sei es ein Wettkampf. Aber das ist völlig außer Kontrolle geraten, und wir wollen einfach ein bißchen Ordnung hineinbringen.“ Wohlhabendere Familien fluchen, und die die Besitzer der Hochzeitshallen wünschen ihm und der Ulema alles erdenkliche Unglück. Die Fatwa verleidet ihnen das Geschäft mitten in der Hochsaison. In knapp zwei Wochen beginnt der Fastenmonat Ramadan, und vorher wird im Land geheiratet bis zum Abwinken.
Empört sind auch die Musiker. Bei einer privaten Familienfeier gibt es längst nicht so viel zu verdienen, wie auf den rauschenden Festen in den Hochzeitshallen. Außerdem fühlte sich der Religionsrat bemüßigt, auf die strikte Einhaltung der Geschlechtertrennung zu pochen. Soll heißen: männliche Musiker dürfen nicht mehr auf der Frauenfeier auftreten. Womit eine weitere Einnahmequelle flöten geht.

Haben sich die Mullahs und der Gouverneur also in den Fuss geschossen mit ihrer Fatwa? Keineswegs. Die ärmeren Männer jubeln, weil der Preis eines Hochzeitsfests nun auf ein paar hundert Dollar gesunken ist. Glücklich ist auch die winzige Minderheit der afghanischen Musikerinnen. Die bekommen jetzt endlich Gelegenheit, aufzutreten. Für sie ist die Fatwa keine religiöse Bevormundung, sondern gelungene Frauenförderung.

 

„Entführt und in Geld aufgewogen“

Mit weltbewegenden Nachrichten ist das in Kabul so eine Sache: Wenn man zwischen Eselskarren, UN-Geländewagen, Taxis und sinnlos fuchtelnden Verkehrspolizisten im Stau steckt, oder in irgendeinem Amtszimmer verbiesterten Vorzimmerdamen Genehmigungen aller Art abzuringen versucht, dann können die Marsmenschen mitsamt den Taliban einmarschiert sein – und man merkt es nicht.

Kabul ist eine Stadt, deren Bewohner (Kurzzeitbesucher wie zum Beispiel Journalisten eingeschlossen) vollauf mit den banalen Mühen des Alltags beschäftigt sind. Folglich sickerte die Nachricht nur langsam durch, dass die Taliban die ersten zwölf der 19 koreanischen Geiseln freigelassen haben – und in die Erleichterung mischte sich schnell Stirnrunzeln. „Frei? Na Gott sei Dank“, sagt Manisha, die in der Hauptstadt ein Frauenhaus und ein Büro für Familienberatung leitet. „Aber wie kann man so blöd sein, mit einem Haufen Leute, die auf hundert Meter als Ausländer zu erkennen sind, in einem Reisebus nach Kandahar zu fahren?“

Das hört sich nach klassischem Selbstschutzreflex an: die anderen werden Opfer, weil sie Risiken eingehen, die man selbst nie eingehen würde – eine rein subjektive Sichtweise, die aber die Nerven beruhigt.

Andererseits ist der Leichtsinn der Missionare aus Seoul kaum zu überbieten. Am 19. Juli waren sie mit dem infantilen Frohsinn einer Touristengruppe den Taliban in die Arme gerollt. Über diesen Wahnwitz fluchen auch die afghanischen Behörden. Die haben sich zwar offenbar geweigert, die Koreaner gegen acht prominente Taliban-Gefangenen auszutauschen. Aber sie konnten den „bilateralen Deal“ der Taliban mit der südkoreanischen Regierung nicht verhindern. Letztere hat den Geiselnehmern zugesichert, sämtliche koreanische Soldaten und Missionare nach Hause zu holen. Der Abzug der 200 Militärs bis zum Jahresende ist zwar in Seoul längst beschlossene Sache. Aber dieses Detail ändert nichts an der öffentlichen Wahrnehmung in Afghanistan, dass die Taliban ausländische Regierungen in die Kniee zwingen und dabei auch ordentlich melken können. Von Lösegeld ist in der Vereinbarung zwischen Südkoreas Regierung und den Radikalislamisten zwar keine Rede. Aber niemand in Kabul bezweifelt, dass Seoul an die Taliban gezahlt hat – und diese nun mit ein paar Geldkoffern für ihren Dschihad einkaufen gehen.

Das ist der zweite große Kidnapping-Coup der Taliban. Im Frühjahr hatten sie mit der Geiselnahme des italienischen Journalisten Daniele Mastrogiacomo die Freilassung fünf prominenter Kampfgenossen aus afghanischer Haft erpresst. Präsident Hamid Karsai hatte sich erst vehement gegen diesen Erpressungsversuch gewehrt, dann aber dem Druck der italienischen Regierung nachgegeben. Die soll sogar mit dem Abzug ihrer 2000 Soldaten gedroht haben, falls Mastrogiacomo nicht freigelassen würde. Für dessen afghanischen Fahrer sowie für den Übersetzer und Journalistenkollegen Ajmal Naqshbandi gab es keine mächtige Lobby. Sie wurden beide von den Taliban ermordet. „Ihr werdet entführt und in Geld aufgewogen“, sagt dazu lakonisch der Leiter einer afghanischen Hilfsorganisation in Kabul. „Wir werden meistens gleich umgebracht.“

Was nicht immer stimmt. Zwei der südkoreanischen Missionare wurden erschossen, ebenso einer der beiden im Juli entführten deutschen Ingenieure, dessen Kollege immer noch in Gewalt der Taliban ist.

All das hindert am Abend in einem der wohl bewachten Kabuler Restaurants zwei sturzbetrunkene afghanische Geschäftsleute nicht daran, die kollektive Sympathie ihres Landes mit den Deutschen hochleben zu lassen. „Wir Afghanen lieben alle Deutschen“, ruft der eine in den Kabuler Nachthimmel. „Malt Euch den Satz ‚Ich bin ein Deutscher’ auf’s Hemd und lauft durch die Straßen. Jeder wird Euch mit offenen Armen empfangen.“ Wir lehnen den Vorschlag dankend ab.