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Somalia: Der Krieg, den keiner sehen will

 

Die gute Nachricht wie immer zuerst: Am vergangenen Freitag hoben die Vereinten Nationen in drei Distrikten in Südsomalia die höchste Alarmstufe auf. Hilfslieferungen in Bay, Bakool und Lower Shabelle hätten die Lage in diesen Dürregebieten so weit verbessert, dass es sich nicht mehr um „Hungergebiete“ (famine zones), sondern „nur noch“ um „Notstandsgebiete“ (emergency zones) handele.

Die schlechte Nachricht gleich hinterher: Mindestens eine Viertel Million Menschen ist nach wie vor akut von Hunger bedroht. Und die Fortschritte in Bay, Bakool und Lower Shabelle sind durch die anhaltende Invasion des kenianischen Militärs akut gefährdet.

Wie berichtet, marschierte die kenianische Armee vergangenen Monat in Somalia ein, um der islamistischen Miliz al-Shabaab, Somalias Version der Taliban, den Garaus zu machen. Nicht, dass man Letzteren irgendetwas Gutes wünschen wollte. Aber abgesehen von Kenias mangelhaften Kapazitäten für ein solches Unternehmen, ist eine Militärinvasion mitten in der schlimmsten humanitären Katastrophe der blanke Wahnsinn. Hilfsorganisationen wie Oxfam warnen, dass der Krieg gegen al-Shabaab die Verteilung von Hilfsgütern massiv behindert und vor allem die Ausgabe von Saatgut verzögert. Das heißt: Obwohl es inzwischen wieder geregnet hat, ist auch die nächste Ernte in Gefahr.

Inzwischen werden erste zivile Opfer der kenianischen Militäraktion gemeldet: Bei Luftangriffen auf die Stadt Jilib sind nach Angaben von Médecins Sans Frontières (MSF) mehrere Menschen in einem Flüchtlingscamp getötet worden. Die internationale Reaktion? Gleich null. Einzig die EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, Kristalina Georgieva, forderte die Konfliktparteien auf, Zivilisten zu schonen. Diese zaghafte Mahnung verhallte ebenso ungehört wie ein Statement des UN-Kinderhilfswerk (UNICEF), wonach in den umkämpften Gebieten zunehmend Kinder im Kreuzfeuer ums Leben kommen.

Weil die kenianischen Truppen offenbar nicht vorankommen mit ihrer Offensive und sich seit einigen Wochen mühsam durch verschlammtes Gelände schleppen, sollen ihnen nun äthiopische Truppen zu Hilfe kommen und al-Shabaab von nördlicher Seite in die Zange nehmen. Zur Erinnerung: Äthiopien, Somalias historischer Erzfeind, ist schon einmal ins Nachbarland einmarschiert. Das war 2006 – in Mogadischu hatte die Union islamischer Gerichtshöfe mit Unterstützung vor allem von Händlern und lokalen Politikern die Macht übernommen und es mit ihrer Justiz, basierend auf einer strengen Anwendung der Scharia, geschafft, Clan-Fehden und Bürgerkrieg einzudämmen. Al-Shabaab gehörte damals zum radikal islamistischen Flügel dieser Union. Was viele Somalier als repressive Ordnungsmacht – aber eben als Ordnungsmacht – wahrnahmen, war in den Augen der USA und dem äthiopischen Nachbarn ein neues Rückzugsgebiet für al-Qaida. Äthiopische Truppen vertrieben die Gerichtshöfe, machten den Weg frei für die bis heute amtierende Übergangsregierung.

Doch nichts schweißt die notorisch zerstrittenen somalischen Clane und Glaubenskrieger schneller zusammen als die Anwesenheit ausländischer Soldaten. Nach kaum drei Jahren mussten die Äthiopier wieder abziehen. Zurück blieben eine radikalisierte und gestärkte al-Shabaab – und unzählige Gräber. Auf 113 Seiten hat Human Rights Watch die Kriegsverbrechen aller Konfliktparteien während der äthiopischen Okkupation dokumentiert: Massenerschießungen, permanente Bombardements dicht bevölkerter Wohnviertel, gezielte Angriffe auf Krankenhäuser.

Vom Nimbus des „nationalen Befreiers“, den al-Shabaab nach dem Rückzug Äthiopiens genossen hatte, ist inzwischen nichts mehr übrig geblieben. Ihr talibanesker Frauenhass, ihr Verbot der beiden großen somalischen Leidenschaften (Fußball spielen und Khat kauen), ihre demonstrative Verbrüderung mit al-Qaida und ihre gnadenlosen Zwangssteuern haben sie verhasst gemacht – selbst bei den radikalisierten Teenagern und Jungmännern in den Flüchtlingslagern, aus deren Reihen sie bislang ihren Nachwuchs rekrutierten.

Die Rückkehr des alten Erzfeindes könnte einen Déjà-vu-Effekt haben. Das befürchtet US-Presseberichten zufolge auch das amerikanische Außenministerium, während Pentagon und CIA den äthiopischen Einmarsch unterstützen. Vielen Somaliern ist es (noch) egal, wer al-Shabaab zum Teufel jagt. Hauptsache, sie werden zum Teufel gejagt. Die Islamisten hatten maßgeblich zur Hungerkatastrophe beigetragen, weil sie diese zuerst leugneten und viele Menschen mit Gewalt an der Flucht aus den Dürregebieten zu hindern versuchten.

Dass al-Shabaab keine Hilfsgüter in die von ihr kontrollierten Gebiete lasse, stimmt allerdings nicht. Somalische NGOs in Mogadischu kooperieren seit Längerem mit Shabaab-Kommandanten, die in den vergangenen Monaten zunehmend westliche Hilfe verteilt haben (zu den in Somalia üblichen Konditionen: 20 Prozent der Güter gehen an die Miliz). Sei erst einmal eine Abmachung getroffen, erklärte ein westlicher Koordinator von Hilfsprogrammen, dann halte al-Shabaab diese auch zuverlässig ein. „Nicht, dass ich die Mistkerle vermissen würde“, sagte er, „aber was danach kommt, ist schlimmer.“ Vermeintlich regierungstreue somalische Clan-Milizen, die vor allem auf eines aus seien: die Hilfsgüter und die Fahrzeuge, mit denen diese transportiert werden. Gut möglich also, dass für Bay, Bakool und Lower Shabelle bald wieder die höchste Alarmstufe ausgerufen werden muss.