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Der Virus der Erregung

 

Polioimpfung im nordwestlichen Stammesgebiet Pakistans, Juli 2012. © Daniel Berehulak/Getty Images

Die folgende Geschichte handelt von der Ausbreitung eines sehr gefährlichen Virus‘. Aber sie ist keine Medizingeschichte. Es ist ein Bericht über die Folgen und die Natur des Krieges gegen den Terror, der seit mehr als elf Jahren im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet geführt wird. Beginnen wir mit Mohammed Ishak, der in Pakistan Schluckimpfung gegen Polio verteilt hat, eine infektiöse Krankheit, besser bekannt unter dem Namen Kinderlähmung. Zuletzt tat Ishak dies vergangenen Sommer irgendwo in einem Armenviertel namens Gadap in der pakistanischen Millionenstadt Karatschi.

Es war eine besondere Zeit für Männer wie Ishak. Die Weltgesundheitsorganisation WHO stand nach eigener Einschätzung kurz davor, die Polioerkrankungen in Pakistan endgültig auszurotten. Noch ein Prozent der Kinder fehlte, dann wäre die gesamte bedrohte Bevölkerungsgruppe geimpft gewesen. Es wäre ein historisches Ereignis gewesen, denn Pakistan gehört zu den letzten drei Ländern, in denen das Poliovirus noch häufig auftritt, Afghanistan und Nigeria sind die beiden anderen. Polio galt nach Pocken als die zweite Infektionskrankheit, welche die Menschheit ausrotten konnte. Mohammed Ishak durfte sich als Vorkämpfer in einer wahrlich großen Schlacht fühlen.

Doch es kam anders. Mohammed Ishak wurde in Gadap von einem Attentäter angeschossen. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Nach ihm fielen weitere Kollegen Morden zum Opfer. Insgesamt kamen in den vergangenen sechs Monaten neun Impfhelfer ums Leben. Allein an zwei Tagen im Dezember starben sechs Impfhelfer, davon fünf Frauen, zwei weitere wurden verletzt. Anfang Januar starben sieben Impfhelfer an einem Tag im Kugelhagel der Attentäter – sechs davon Frauen.

Die WHO hat inzwischen die Polioimpfkampagne in Karatschi und in den Grenzgebieten zu Afghanistan eingestellt, weil sie die Sicherheit für die Mitglieder der Impfteams nicht mehr garantieren kann. Das Poliovirus wird es also auf absehbare Zeit weiter in Pakistan geben. Das ist nicht nur für Pakistan äußerst problematisch. „Solange es Polio in einem einzigen Land gibt, ist das eine Gefahr für alle Länder in der Welt“, sagt der Brite David Hayman, der lange für das Programm der WHO zur Ausrottung von Polio gearbeitet hat. Tatsächlich sind in China erstmals seit 1999 wieder Kinderlähmungen aufgetreten. Genetische Untersuchungen haben ergeben, dass die Viren aus dem benachbarten Pakistan eingeschleppt wurden. In Afghanistan hat sich die Zahl der Neuinfektionen im Jahr 2011 verdreifacht. Der Infektionsherd: die Grenzgebiete zu Pakistan. Das Land der Taliban erscheint meist als Heimstatt wilder Krieger. Vergessen wird leicht, dass die Menschen dort vor allem in bitterster Armut und Rückständigkeit leben. Polio ist ein Zeichen dafür. Krieg ist also nur eine von mehreren Geißeln, unter denen die Bewohner Waziristans zu leiden haben.

Wer aber könnte ein Interesse daran haben, Impfhelfer zu töten? Wer ermordet Menschen, die Kinder vor einer schlimmen Krankheit bewahren wollen? Bis heute hat niemand für die Attentate auf die Impfhelfer die Verantwortung übernommen, doch die Vermutung liegt nahe, dass es die Taliban waren. In den vergangenen Jahren haben sie mehrmals die Impfaktionen denunziert – mit abstrusen Behauptungen, zum Beispiel der, dass die Impfhelfer in Wahrheit den HI-Virus verbreiteten oder dass die Impfung das Ziel habe, muslimische Frauen unfruchtbar zu machen.

Das ließ sich in der westlichen Öffentlichkeit leicht als Obskurantismus abtun. Doch man vergisst dabei leicht: Die Taliban befinden sich in einem Krieg, der mit allen Mitteln ausgefochten wird, und zwar von allen Seiten. Anschläge, Folter, Selbstmordattentate, Drohnenangriffe, Spionage, Betrug. 2011 verhafteten die pakistanischen Geheimdienste einen Arzt namens Shakil Afridi. Er hatte scheinbar auf eigene Faust eine Impfaktion in der Stadt Abbottabad begonnen – nicht gegen Polio, sondern gegen Hepatitis B. Doch die Impfungen waren nur ein Vorwand. In Wahrheit sammelte Afridi genetisches Material, das auf die Spur des damals meistgesuchten Mannes der Welt führen sollte: Osama bin Laden. Die amerikanischen Ermittler vermuteten, dass Bin Laden in einem Haus in Abbottabad lebte. Afridi versuchte, dort wohnende Kinder zu impfen und über diesen Weg genetisches Material zu sammeln. Wenn sie mit Osama verwandt waren, hätte man das nachweisen können; dann wäre das zumindest ein Hinweis darauf gewesen, dass der Gesuchte auch im Haus leben könnte.

Am 2. Mai 2011 drang eine US-Spezialeinheit in das betreffende Haus in Abbottabad ein und tötete Bin Laden. Wie wichtig war dabei die Rolle des Arztes Afridi? Washington schwieg lange dazu, aber als die britische Zeitung The Guardian Shakil Afridis Geschichte öffentlich machte, sah man sich zu einer Stellungnahme gezwungen: „Sein Beitrag war nicht entscheidend, aber sehr wichtig.“ Die pakistanischen Behörden verhafteten Afridi und stellten ihn vor Gericht. Er wurde zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Ironie daran: Afridi wurde nicht nach dem pakistanischen Staatsgesetzen verurteilt, sondern nach den in den Stammesgebieten geltenden Sondergesetzen – sie sind drakonisch und stammen aus der Zeit, als der indische Subkontinent noch britische Kolonie war.

Aus Washington gab es heftigen Protest gegen das Urteil. Verteidigungsminister Leon Panetta setzte sich für Afridi ein: „Dieser Arzt hat nicht gegen Pakistan gearbeitet. Er hat gegen Al-Kaida gearbeitet, und ich hoffe, dass Pakistan das versteht.“ Doch es half nichts. Afridi sitzt immer noch in Haft. Der Fall Afridi belastet nicht nur die Beziehungen zu den USA, er hat unter den Hilfsorganisationen Alarm ausgelöst. Sie fürchten um ihren Ruf. Im Februar des Jahres 2012 schrieb InterAction, der größte Dachverband amerikanischer Nichtregierungsorganisationen, einen Offenen Brief an den damaligen Chef der CIA, David Petraeus: „Die Tatsache, dass die CIA humanitäre Arbeit als Tarnung benutzt, untergräbt die Glaubwürdigkeit und die Integrität aller humanitären Organisationen in Pakistan.“ Diese harsche Beschwerde ist nachvollziehbar. Das ist keine kleine Sache. Denn nur wenn den Helfern geglaubt wird, dass sie unabhängig sind, können sie ihrer Arbeit wirkungsvoll nachgehen.

Die Toten der vergangenen Wochen belegen die geäußerten Befürchtungen: Die Impfhelfer sind zu Zielscheiben geworden. Kaum war Afridi aufgeflogen, ließen die Taliban aus der Region Waziristan verlauten, dass sie in dem von ihnen kontrollierten Gebiet keine Impfaktionen mehr zulassen würden. Das hatte zur Folge, dass allein in Waziristan 280.000 Kinder ohne Impfung blieben. Der Infektionsherd bleibt bestehen, mit gefährlichen Folgen für alle. Zu der Zeit, als Afridi enttarnt wurde, hatte US-Präsident Barack Obama den Drohnenkrieg im Grenzgebiet bereits intensiviert. Fast täglich feuerten die unbemannten Angriffsflieger Raketen in der Gegend ab. Viele wichtige Kommandeure der Taliban und von Al-Kaida kamen ums Leben, mit ihnen aber auch Hunderte unbeteiligte Zivilisten.

So technisch überlegen Drohnen auch sein mögen, ihr Erfolg hängt von der Qualität der Informationen ab, die sie über mutmaßliche Terroristen sammeln. Je mehr Drohnen im Einsatz waren, je mehr Islamisten sie töteten, desto misstrauischer wurden die Taliban gegen jeden Auswärtigen, der sich in ihrem Gebiet aufhielt: Dazu gehören auch die Mitglieder der Impfteams. Die Taliban verdächtigen sie, die Informationen zu liefern, welche die Raketen der Drohnen letztendlich zu ihrem Ziel führen. Das kann man für paranoid halten, doch zeigt es nur, wie der Krieg gegen den Terror sich in diesen Jahren buchstäblich entgrenzt hat.

Jeder ist zum potenziellen Feind geworden. Selbst die Gesundheit von Kindern fällt dem gewaltsamen Kampf des Westens gegen Islamismus zum Opfer. Eine Forderung der Taliban aus Waziristan macht das deutlich: Sie verlangen die Einstellung der Drohnenangriffe – nur dann würden sie die Impfteams wieder arbeiten lassen. Militärexperten würden diese Drohung der Taliban als ein klassisches Beispiel für asymmetrische Kriegführung bezeichnen. Ihre waffentechnische Unterlegenheit kompensieren die Taliban mit absoluter Rücksichtlosigkeit. Der waffentechnisch Überlegene steht ihnen freilich in nichts nach. Die CIA trug den Krieg selbst in die Schlafzimmer der Afghanen. Die Washington Post berichtete im Jahr 2008, dass die CIA Viagra-Tabletten an afghanische Warlords verteilte, damit sie sie mit Informationen über die Taliban versorgten. Die Kriegsherren sollen sehr zufrieden gewesen sein, die CIA auch – die Meinung der Frauen dieser Kriegsherren ist nicht überliefert; viele von ihnen sind minderjährig.