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Obama, der Afghanistan-Realist

 

Wenn Afghanistans Präsident Hamid Karzai sich am Freitag in Washington mit Barack Obama trifft, wird er mit einem US-Präsidenten sprechen, der sich dem Realismus verschrieben hat. Für Afghanistan bedeutet das Treffen das Ende des militärischen Engagements durch den Westen. Barack Obama hatte den Afghanistan-Einsatz immer als einen „notwendigen“ Krieg bezeichnet, im Unterschied zum Irakkrieg, der ein „falscher“ Krieg sei. Notwendig erschien dem US-Präsidenten dieser Krieg, weil er eine Reaktion auf 9/11 war.

Al-Kaida hatte 2001 die USA angegriffen, Al-Kaida musste also zerstört werden — und ihre Basen lagen nun einmal in Afghanistan. Die dort herrschenden Taliban legten ihre schützende Hand über die Terroristen. Also mussten auch die Taliban gestürzt werden. Das war die nachvollziehbare Logik. Nach nicht einmal sechs Wochen Krieg flüchteten die Taliban aus der afghanischen Hauptstadt Kabul. Al-Kaida war zwar nicht vollkommen zerschlagen, aber Afghanistan war keine Basis mehr von der aus sie operieren konnten. Das Ziel des „notwendigen Krieges“ war erreicht.

Aber es gab keinen Rückzug – im Gegenteil. Nachdem die Taliban vertrieben worden waren, engagierten sich die USA und mit ihr die Nato immer stärker. Zuerst waren es ein paar tausend Soldaten, im Jahr 2010 jedoch waren es bereits 130.000, davon 90.000 aus den Vereinigten Staaten. Diese hatten jetzt nicht nur Terroristen zu bekämpfen, sie sollten auch ein zerstörtes Land wieder aufbauen. Doch das war keine klassische Aufgabe für Armeen. Das konnten die Soldaten nicht, sie waren überfordert.

Afghanistan ist daher ein klassischer Fall von „mission creep“ — von einer schleichenden Ausweitung des Einsatzes. Es gab eine klare Begründung für den Krieg, es gab aber keine mehr für das, was nach dem Fall von Kabul im Herbst 2001 folgte. Warum sind westliche Soldaten in Afghanistan? Darauf gab es im Lauf der Jahre viele langatmige Antworten. Sie überzeugten aber nicht, zu widersprüchlich waren sie, zu wolkig.

US-Präsident Barack Obama will jetzt offensichtlich für klare Verhältnisse sorgen. Er spielt mit dem Gedanken nach 2014 sämtliche Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Damit kehrte er konzeptionell in den Herbst 2001 zurück. Der afghanische Präsident Hamid Karzai will von einem Komplettabzug aber nichts wissen. Er hat gute Gründe dafür. Es waren US-Truppen, die ihm 2001 den Zugang zur Macht eröffnet hatten. Es ist sehr fraglich, ob er sich ohne US-Soldaten im Amt halten wird.

Kann der Westen es sich denn leisten, ganz aus Afghanistan abzuziehen?

Die Frage muss man anders stellen: Kann der Westen es sich leisten, dort mit vielen tausend Soldaten zu bleiben?

Die Antwort ist: Nein.

Der Afghanistan-Einsatz ist der Bevölkerung in den USA nicht mehr zu vermitteln, in Europa war es immer schon schwierig. Es ist oft davon die Rede, dass die westlichen Völker keine Geduld hätten, dass sie nicht bereit wären, für eine Sache zu kämpfen, dass sie allesamt „postheroische“ Gesellschaften seien (postheroisch ist das Wort, das Akademiker gerne für feige verwenden). Das ist ein unberechtigter Vorwurf. Immerhin haben diese angeblich so postheroischen Gesellschaften mehr als elf Jahre lang einen Krieg unterstützt — wenn auch murrend —, der viele Milliarden Euro verschlang, tausenden Soldaten das Leben gekostet hat und dessen Begründung ziemlich wackelig war. Feigheit sieht anders aus.

Der Abzug ist unvermeidlich, weil dieser Krieg keine Legitimation mehr hat. Trotzdem sollte man das Mögliche tun, damit Afghanistan nicht verloren geht — wobei verloren gehen vor allem eines hieße: Das Land versinkt wieder in Bürgerkrieg und Chaos.

Das wäre in erster Linie bitter für die Afghanen, aber es hätte möglicherweise auch Folgen für den Westen. Worin besteht das Mögliche, das man tun kann? Darin, Hilfe zu leisten. Das geht auch ohne Soldaten.