Wenn wir dieser Tage über Migration reden, suchen wir mit dem inneren Auge unwillkürlich die Horizontlinie des Mittelmeeres ab. Welche Vorstellung machen wir uns von denen, die kommen? Welchen Blick werfen wir auf sie? Wie wird dieser Blick geformt?
Im Jahr 1973 veröffentlichte der französische Autor Jean Raspail Das Heerlager der Heiligen. Zwei Millionen Exemplare dieses Buches gingen im Laufe der Jahre in verschiedenen europäischen Ländern über den Ladentisch. In Raspails Vision, wie das Buch im Untertitel genannt wird, kapern Hunderttausende hungernde Inder im Hafen von Kalkutta Schiffe und machen sich auf nach Europa. Sie landen an der idyllischen südfranzösischen Küste. Ein alter Professor namens Calguès beobachtet von der Terrasse seines Hauses aus die Landung der fremden Massen mit dem Teleskop:
„Wie viele Menschen mögen wohl dort unten an Bord des gestrandeten Wracks sein? Wenn man die fast unglaubliche Anzahl für wahr hält, die in den knappen Nachrichten im Radio seit dem frühen Morgen genannt wird, so sollen riesige Menschenhaufen in den Schiffsladeräumen und auf den Brücken zusammengepfercht liegen und diese Massen sich bis zu den Kommandobrücken und Schornsteinen ausdehnen. Und im Inneren sollen Lebende auf Leichenbergen stehen, ähnlich wie man es bei Ameisen in Marschbewegung beobachten kann, deren sichtbarer Teil ein lebendiges Gewimmel bildet, darunter aber ein Ameisenweg mit Millionen Kadavern liegt (…) Der alte Professor richtete das Rohr seines Teleskops auf ein von der Sonne besonders gut angestrahltes Schiff und regelte die Einstellung auf klarste Sicht, wie ein Forscher, der in einer Bakterienkultur die von ihm beschriebene Mikrobenkolonie entdeckt.“
Bald danach tritt ein junger Mann auf die Terrasse des Hauses. Er ist der Bote des Untergangs. Er sagt Professor Calguès, was diese Hunderttausende Menschen tun werden:
„Für sie hat Ihre Welt keine Bedeutung. Sie werden gar nicht versuchen, dies zu begreifen. Sie werden müde sein, Hunger haben und mit ihrer schönen Eichentür Feuer machen. Sie werden auf ihre Terrasse kacken und sich mit den Büchern ihrer Bibliothek die Hände reinigen. Jeder Gegenstand wird den Sinn verlieren, den Sie dafür haben!“
Raspails Buch ist ein übles Machwerk. Es bedient sich der Ängste der Europäer auf grobschlächtige Weise, um eine brachiale Untergangsvision zu rechtfertigen:
„Von den Philippen, von Jakarta, Karachi, Conakry und auch von Kalkutta, aus allen diesen erstickenden Häfen der Dritten Welt, erschienen weitere große Flotten in Australien, Neuseeland und Europa. Die große Völkerwanderung entrollte ihren Teppich. Und wenn man in die Vergangenheit der Menschheit blickt, so war dies sicher nicht die erste. Andere, sorgsam registrierte Kulturen, die man in unseren Museen studieren kann, haben schon das gleiche Schicksal erlitten.“
Die Helden in Raspails Buch sind diejenigen, die sich mit aller Gewalt gegen den Untergang stemmen und versuchen, die „Menschenflut“ zurückzudrängen, um das vermeintlich bedrohte Abendland zu retten.
Mitte der Siebziger dann (1975) warf der italienische Dichter Pier Paolo Pasolini einen ganz anderen Blick über das Meer. Pasolini war ein scharfer Kritiker des Kapitalismus. In ihm sah er eine fürchterliche, zerstörerische Kraft am Wirken, die jede Tradition, alles Ursprüngliche zermalmte. Angesichts dieser von Pasolini als Katastrophe empfundenen Entwicklung schaute er von der italienischen Küste auf die andere Seite des Mittelmeers, nicht mit Sorge, sondern mit freudiger Erwartung der „Brüder, die nicht mehr sind“. Er sah die Menschen von jenseits des Meeres kommen und er hieß sie mit dem Gedicht „Alí mit den blauen Augen“ willkommen:
„Alì mit den blauen Augen,
einer der vielen Söhne der Söhne,
wird von Algier kommen, auf Schiffen
mit Segeln und mit Rudern. Es werden
mit ihm tausende Männer sein
mit den schmächtigen Körpern und den Augen
der armen Hunde der Väter.
Auf den Booten, die in den Reichen des Hungers vom Stapel gingen,
werden sie Kinder mit sich bringen, und das Brot und den Käse,
in den gelben Papieren des Ostermontags.
Sie werden die Frauen und die Esel bringen, auf den Schiffen, die sie in den Kolonialhäfen gestohlen haben.
Sie werden in Crotone an Land gehen und in Palmi,
zu Millionen, in asiatischen Lumpen gekleidet, und in amerikanischen Hemden.
Sofort werden die Kalabresen sagen,
wie die Straßenräuber zu den Straßenräubern:
‚Hier sind die alten Brüder,
mit den Kindern und dem Brot und dem Käse!‘
(…)
um die Freude am Leben zu lehren (…), um zu lehren, wie man frei ist.“
Pasolini also wünschte sich, dass von der anderen Seite des Meeres jemand kommen möge, der die Europäer befreit von den selbst angelegten Fesseln des Konsums; jemand, der durch seine unverfälschte Existenz zeigt, was wir verloren und aufgegeben hatten.
Das war freilich eine Projektion, die der Sehnsucht Pasolinis nach Befreiung entsprang, so wie Jean Raspails Untergangsvision ihren Ursprung nicht in der Realität, sondern in den tief sitzenden Ängsten Raspails hat.
Beide Blicke übers Meer – jener Raspails und jener Pasolinis – sind archetypisch für die europäische Vision vom Anderen. Der eine erwartet den Untergang, der andere die Befreiung. Und beide haben mit den Menschen die kommen, wenig zu tun – dafür viel mehr mit unseren Fantasien.