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Renzi auf antieuropäischen Abwegen

 

Die Erde Italiens bebt wieder, Kirchen, Häuser stürzen ein, ganze Dörfer verschwinden. Die Italiener leiden, sie suchen Trost und Hoffnung.

Beides versucht Premierminister Matteo Renzi ihnen zu geben. Als bei dem verheerenden Erdbeben im August rund 300 Menschen starben, fand er die richtigen Worte zur rechten Zeit. Eine neue Ernsthaftigkeit war bei dem Mann zu spüren, der für seine vorlauten Töne bekannt ist.  Er, der gerne den jungenhaften Rabauken mimt, gab sich verantwortungsvoll.

Der Staatsmann Renzi gefällt vielen Italienern, und er will ihnen gefallen, denn am 4. Dezember sollen sie über seine Verfassungsreform abstimmen, die er selbst als „die Mutter aller Reformen“ bezeichnet hat.

Renzis zur Schau gestellte Betroffenheit und Trauer ist auch diesmal nicht gespielt. Es wäre frivol, das zu behaupten. Er meint es ernst, wenn er den Betroffenen verspricht, dass die Regierung ihnen beistehen werde.

Doch Renzi ist auch ein Politiker, der sich in einem für seine Karriere entscheidenden Wahlkampf befindet.

Er weiß, dass jedes Wort zählt, jede Geste, jedes Symbol. Wer Zustimmung bekommen will, haut auf einen Gegner ein, um dessen Sympathiewerte es ohnehin nicht gut bestellt ist, und der sich noch dazu nicht recht wehren kann.

In diesem Fall ist es Brüssel, die Europäische Union.

Kurz nach dem Beben vom Sonntag trat Renzi vor die Presse. Im Hintergrund standen in geschlossener Reihe italienische Fahnen. Die Europafahne, die traditionell neben der italienischen aufgepflanzt wird, suchte man vergeblich.

Renzi sagte: „Wir werden alles wieder aufbauen. Wir werden nicht nachgeben. Wir werden uns nehmen, was wir brauchen. Wir haben keinerlei Respekt vor technokratischen Regeln. Sie würden die Identität des Landes und des Territoriums verleugnen.“

Das war deutlich: Die EU-Kommission und ihre Haushaltsdisziplin, so waren seine Worte zu verstehen, kann dem italienischen Premier gestohlen bleiben. Hier brachte einer die Nation gegen Brüssel in Stellung.

Es ist nicht das erste Mal, dass Renzi gegen die EU wettert. Sei Wochen verschärft er seine antieuropäische Rhetorik. Beim EU-Gipfel in Bratislava im September rauschte er wutentbrannt von der Bühne und beim letzten Gipfel in Brüssel sagt er sinngemäß, was die „Brüsseler Technokraten“ wollten, sei ihm herzlich egal. Wenige Tage später bebte die Erde, und Renzi trat noch einmal kräftig nach.

In der Sache geht es um den Haushaltsplan für 2017. Der sieht ein Defizit von 2,3 Prozent der Wirtschaftsleistung vor, doch mit der Kommission war ursprünglich ein Defizit von 1,8 Prozent vereinbart. Nach einigem Hin und Her einigte man sich auf 2,2 Prozent.

Es geht also um 0,1 Prozent.

In absoluten Zahlen sind das 1,7 Milliarden Euro.

Die Kommission kam Renzi entgegen, weil er zum einen Argumente hatte. Italien, sagte Renzi, habe durch die Flüchtlinge erhebliche Belastungen zu gewärtigen, außerdem sei das Erbeben vom August zu bewältigen.

Das Einlenken der Kommission war kulant. Denn die italienische Regierung hatte sich im Frühjahr schriftlich darauf verpflichtet, die 1,8 Prozent einzuhalten.

Dieses Hickhack klingt wie eine Groteske, doch dahinter steckt viel mehr. Die Kommission zweifelt an dem Willen Renzis zur nachhaltigen Haushaltskonsolidierung und dieser Zweifel ist begründet.

Viele der Einnahmen, welche die Regierung erzielen will, werden durch einmalige Maßnahmen erzielt, etwa eine Steueramnestie. Planvoller Abbau des riesigen Schuldenberges sieht anders aus. Wenn Italien seine Schulden nicht in den Griff kriegt, dann ist der Euro in seiner Existenz bedroht.

Doch Renzi ist das offenbar egal. Er befindet sich im Wahlkampf.

Und er ist der Premier eines Landes, das durch verheerende Erdbeben heimgesucht wird, unter einer anhaltenden Wirtschaftskrise leidet, einer massiven Migration gegenübersteht, und sich bei alle dem von Europa allein gelassen fühlt. Italien hadert mir seinem Schicksal, leidet an sich selbst und an Europa.

Das ist der Hintergrund, vor dem Renzis antieuropäischer Populismus zu sehen ist – und er gewinnt damit Zustimmung.

Beppe Grillo, Chef der äußerst euroskeptischen Bewegung M5S, hat Renzi kurz nach dem Beben offenbar Unterstützung im Kampf gegen Brüssel zugesagt. Das ist neu.

Bisher hat Grillo Renzi erbittert bekämpft.

Aber wenn es gegen Europa geht, finden die beiden offenbar zueinander. Im Populismus sind sie vereint.