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Giftgas ist keine Waffe unter vielen

100.000 Menschen sind im syrischen Bürgerkrieg ums Leben gekommen. Das hat zu keiner militärischen Intervention des Westens geführt. Jetzt sind rund 1.500 Menschen in Damaskus durch den Einsatz von Giftgas gestorben. Und plötzlich will Barack Obama eine Intervention. Sind denn 100.000 Tote nicht etwa entsetzlicher als die knapp 1.500 Opfer des Gases, wie David E. Sanger in der New York Times schreibt?

Diese Logik unterstellt, dass es egal ist, durch welche Waffe man ums Leben kommt. Das mag für die Toten gelten, aber nicht für die Lebenden. Das hat der amerikanische Präsident erfasst. Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob Menschen durch Giftgas getötet werden oder durch konventionelle Waffen. Giftgas ist ein Massenvernichtungsmittel. Sicher, auch Bomben und Geschosse töten massenweise Menschen. Das geschieht gerade in Syrien. Doch sie sind nicht als Massenvernichtungsmittel konzipiert worden. Giftgas allerdings schon. Dieses Kampfmittel ist dazu entwickelt worden, alles Menschliche auszulöschen, egal ob es Soldaten oder Zivilisten sind. Es ist ein Instrument des Terrors. Der Einsatz von Giftgas ist aus gutem Grunde durch eine Reihe von internationalen Abkommen verboten.

Chemische Kampfstoffe haben nicht nur eine verheerende Wirkung, sie sind auch relativ einfach herzustellen. Die japanische Sekte Ōmu-Shinrikyō etwa verübte 1995 in der Tokioter U-Bahn ein Attentat mit Senfgas. Dabei kamen 13 Menschen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Ōmu-Shinrikyō hatte das Gift vermutlich selbst zusammengebraut. Fast alle Staaten der Welt haben das Abkommen zum Verbot chemischer Kampfstoffe unterschrieben, weil sie auch die Sorge haben, die Verbreitung dieser Waffen nicht anders kontrollieren zu können.

Vor allem aber verletzt der Einsatz von Giftgas einen symbolischen Raum. Wer es in welchem Konflikt auch immer gebraucht, behandelt Menschen wie Ungeziefer. Wer es einsetzt, hat den Gipfel der Unmenschlichkeit erreicht.

Wie man darauf reagiert, darüber wird gerade diskutiert. Und es ist gut und richtig, dass sich Obama dafür Zeit genommen und den Kongress in die Entscheidung mit einbezogen hat. Doch man kann nicht so tun, als sei Giftgas eine Waffe unter vielen. Wer das behauptet, der muss die Sache zu Ende buchstabieren: Der muss sagen, dass wir künftig in einer Welt leben werden, in der man Chemiewaffen ungestraft einsetzen kann.

 

Die Lichtgestalt Petraeus überdeckte das Scheitern der Weltmacht USA

General David Petraeus ist während seiner aktiven Laufbahn so gelobt worden, wie kaum ein anderer Offizier der US-Armee. Ob Politiker oder Journalisten, man lag ihm zu Füßen. Er war der „beste Soldat seiner Generation“ — wie es in Washington auch jetzt noch heißt. Nun, da er über eine Affäre gestürzt ist, stellt sich die Frage: Wie wurde Petraeus zum Helden? Was brauchte er dafür?

Ehrgeiz, Intelligenz, Machtinstinkt — das alles hat Petraeus ohne Zweifel, sonst wäre er nicht so schnell so weit gekommen. Doch er brauchte auch etwas anderes, damit er glänzen konnte: eine Katastrophe. Genau dies war der Irakfeldzug der US-Armee im Jahre 2007. Damals übernahm Petraeus im Irak das Kommando. Er hatte sich dafür empfohlen, weil es ihm als Kommandeur der 101. Luftlandedivision gelungen war, die Lage in der äußerst gewalttätigen irakischen Millionenstadt Mosul zu beruhigen.

Petraeus wandte dort seine Strategie der counterinsurgency an – der Aufstandsbekämpfung. Er hatte darüber ein Buch geschrieben, das in Militärkreisen schnell zu einem der meistgelesenen Werke wurde. Es war die Bibel für eine ganze Generation von Offizieren. Als Petraeus 2007 von dem damaligen Präsidenten George W. Bush zum Oberkommandeur der amerikanischen Truppen im Irak ernannt wurde, war der Begriff counterinsurgency bald in aller Munde. Petraeus stieg vor dem blutigen Hintergrund eines grausamen Krieges zu einer Lichtfigur auf. „King David“, diesen Spitznamen bekam er im Irak verpasst.

„Köpfe und Herzen“ gewinnen

Seine Strategie fasste er in drei Wörtern zusammen: clear, hold, build – also: erobern, halten, aufbauen. Damit wollte Petraeus die „Köpfe und Herzen der Iraker“ gewinnen. Immer wieder strich er heraus, dass die US-Armee zu diesem Zwecke auch „kulturell sensibel“ sein sollte. Das heißt, die Soldaten sollten wissen, in welchem Umfeld sie agierten, sie sollten die lokalen Sitten und Gebräuche respektieren.

Im Grunde waren dies Selbstverständlichkeiten, nur konnte sie keiner so gut verkaufen wie Petraeus. Schon gar nicht zu diesem so günstigen Zeitpunkt: Die US-Armee war spätestens 2007 mit ihrer shock and awe-Strategie gescheitert, die auf Überwältigung durch schiere Überlegenheit fußte.

Petraeus erhielt aus Washington alles, was er wollte. Viele, viele Millionen Dollar und Zehntausende Soldaten. Petraeus war der Architekt des surge, der Aufstockung. 30.000 zusätzliche Soldaten bekam er im Irak, und 30.000 Soldaten zusätzlich schickte Präsident Barack Obama im Jahr 2009 auf Drängen von Petraeus auch nach Afghanistan.

Im Irak beruhigte sich ab 2007 die Lage. Bis dahin hatte der Bürgerkrieg horrende Ausmaße angenommen. Petraeus gilt seither als der Mann, der die Wende im Irak brachte. Allerdings ist nicht klar, worin diese Wende bestehen soll. Die USA sind aus dem Irak abgezogen, und nicht einmal die Befürworter dieses Krieges würden behaupten, dass er gewonnen wurde. Der Irak ist den USA verloren gegangen. Sie haben dort so gut wie keinen Einfluss mehr.

Ein ähnliches Schicksal droht den USA und ihren Verbündeten in Afghanistan. Auch dort konnte der von Petraeus durchgesetzte surge den Krieg nicht entscheiden. Nach dem geplanten Abzug 2014 droht Afghanistan wieder ein schrecklicher Bürgerkrieg.

Todesschwadronen und schwache Partner

Petraeus‘ Strategie hat nicht funktioniert. Man könnte nun behaupten, das sei nicht seine Schuld, er habe nur größeren Schaden abwenden können. Doch in Wahrheit gründet sein Ansatz clear, hold, build auf ein paar äußerst fragwürdigen Voraussetzungen.

Clear hieß, die US-Soldaten sollten so viele Gegner töten, bis sie das Feld räumten. Sie mussten weiter immer bereit sein, den Feind zu töten, damit er nicht auf das geräumte Feld zurückkehren konnte. Darum war Petraeus auch der König der verdeckten Operationen. Die Killteams – nichts anderes als Todesschwadronen – schwärmten nachts aus. Sie verbreiteten Angst und Schrecken. Wie sollte man eine Zivilbevölkerung bei Tag gewinnen, wenn man bei Nacht seine Killer losschickte?

Auf diese Frage konnte Petraeus keine Antwort geben. Auch als CIA-Chef hielt er bis zuletzt an dieser Strategie fest. Er sandte Drohnen nach Pakistan, nach Jemen und in andere Länder, um Feinde mit gezielten Schlägen zu eliminieren. Petraeus war bis zum Schluss ein Schattenkrieger par excellence.

Hold, das bedeutet, dass man Partner vor Ort hatte, auf die man sich verlassen konnte. Denn die US-Truppen konnten nicht auf Dauer bleiben. Lokale Kräfte aber durchaus. Petraeus setzte dabei schlicht und einfach auf Geld. „Money is ammuniton“ wiederholte er immer wieder. Er ließ im Irak und in Afghanistan Unsummen an bewaffnete Gruppen auszahlen. Er tat dies wohl in der Illusion, dass man sich Loyalität kaufen kann.

Geld für Waffen, die sich gegen US-Soldaten richteten

Doch die vielen Millionen Dollar, die Petraeus ohne größere Kontrolle verteilen ließ, förderten die Korruption. Dieses Geld untergrub alle Versuche, staatliche Autorität aufzubauen. Und Petraeus‘ Politik hatte noch eine weitere, für die USA besonders bittere Folge: In vielen Fällen kauften sich zum Schein gewendete Aufständische mit US-Dollar Waffen, mit denen sie später auf US-Soldaten schossen.

Build stützt sich auf die Idee, dass es in dem betreffenden Land Kräfte gibt, die in der Lage sind, einen Staat für alle Bürger aufzubauen. Aber das ist weder in Afghanistan noch im Irak geschehen. Im einen wie im anderen Land ist der Staat, soweit er überhaupt existiert, von ethnischen (Tadschiken in Afghanistan) oder religiösen (Schiiten im Irak) Gruppen besetzt. Er wird nur dazu benutzt, um die Angehörigen der eigenen Gruppe zu fördern. Staatliche Autorität blieb auch schwach, weil sie von der allgegenwärtigen Korruption ausgehöhlt wurde.

Wenn man all dies in Betracht zieht, muss man sich also fragen, worin eigentlich der Erfolg von Petraeus bestand? Was machte ihn zum besten Soldaten seiner Generation? Die Antwort: Petraeus war die mediale überhöhte Figur, die das Scheitern der Weltmacht auf dem Feld überdecken half.

 

Die Kurzsichtigkeit der Krieger

Der Iran unterstützt seinen syrischen Verbündeten Assad und nutzt dafür den irakischen Luftraum. Das ist nur möglich, weil die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad dies erlaubt. Ein ziemlich erstaunlicher Umstand, wenn man daran denkt, mit welcher Absicht die USA 2003 in den Irak einmarschiert sind. Sie wollten den Diktator Saddam Hussein stürzen, was auch gelang. Sein Sturz aber sollte nach den hoch fliegenden Plänen der Regierung von George W. Bush nur ein erster Schritt zur Demokratisierung des ganzen Nahen und Mittleren Ostens sein.

„Greater Middle East“ — so hieß das Projekt. Es ist gründlich schiefgelaufen. Das ist freilich schon lange bekannt. Doch wie weitreichend die Folgen des Krieges aus dem Jahr 2003 waren, das kann man jetzt wieder einmal erkennen. Denn Assad hält sich auch mit Hilfe Irans an der Macht — und mittelbar auch mithilfe des Irak.

Unbeabsichtigte Folgen eines Krieges, so ließe sich das nennen. Es gibt andere Beispiele dafür. Nehmen wir Libyen. Der Sicherheitsrat der UN verabschiedete im März 2011 eine Resolution, wonach man die libyschen Zivilisten mit „allen notwendigen Mitteln“ schützen sollte. Frankreich, Großbritannien und die USA nahmen diese Resolution zur Grundlage, um die Rebellen zum Sieg gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi zu bomben. Die Russen — die sich bei der Resolution enthalten hatten – protestierten lautstark. Sie fühlten sich übergangen. Man ignorierte sie.

Hätte damals jemand gedacht, dass sich den Russen bald eine Gelegenheit bieten würde, sich zu rächen? Sie kam mit Syrien. Bis heute blockieren die Russen und die Chinesen eine einheitliche Resolution des Sicherheitsrates, die Baschar al-Assad verurteilt. Ein Grund dafür – gewiss nicht der einzige – aber einer: Sie wollen nicht noch einmal vom Westen übergangen werden. Es fehlt ihnen das Vertrauen.

Heute herrscht auch Einigkeit darüber, dass die de facto Teilung des afrikanischen Staates Mali eine direkte Folge des Libyen-Krieges war. Die Tuareg, die in den Diensten Gaddafis standen, zogen sich nach dem Sturz des Diktators nach Mali zurück, in ihre Heimatregion. Sie kamen schwer bewaffnet, was sie in Versuchung brachte, einen alten Traum wiederzubeleben: Die Errichtung eines unabhängigen Staates der Tuareg. Es gelang ihnen die Abspaltung des nördlichen Teiles von Mali. Dabei halfen ihnen radikalislamische Kräfte. Diese aber wandten sich bald gegen die Tuareg und sind heute drauf und dran im Norden Malis eine islamistischen Gottesstaat zu errichten.

Hätte man das wissen können? Doch ja, man hätte. Doch irgendwie gehen solche Überlegungen meist unter. Im sprichwörtlichen Eifer des Gefechts, im Gefühl der sicheren Überlegenheit, im unbedingten Willen, Menschen in Not zu helfen.

 

Die Intervention in Syrien hat bereits begonnen

Stinger-Raketen
Afghanische Taliban mit Stinger-Raketen aus US-Produktion (1999) (c) Reuters

Den syrischen Rebellen gelingt es regelmäßig, T-72-Kampfpanzer der staatlichen Armee zu zerstören. Dafür brauchen sie schwere Waffen, zum Beispiel den Raketenwerfer Milan aus französischer Produktion oder das amerikanische TOW-System. Es ist nicht einfach, diese Raketenwerfer zu bedienen. Man braucht Anleitung. Man braucht Ausbilder.

Allein aus diesem Umstand kann man ablesen, dass es in Syrien eine ausländische Intervention militärischer Natur bereits gibt. Ohne sie könnten die Rebellen gegen die hoch gerüstete syrische Armee nichts ausrichten. Und so sehen wir eben immer wieder explodierende, brennende T-72-Kampfpanzer.

Gute Militärapparate sind fähig, sich von Konflikt zu Konflikt zu verbessern. Jeder Krieg ist eine Schule für den nächsten. Die westlichen Armeen haben aus Afghanistan und Irak Lehren gezogen. Das hat man in Libyen gesehen. Auch dort wollte man – wie in Afghanistan und Irak – einen Diktator stürzen, doch konnte man es nicht mehr mit dem Einmarsch eigener Soldaten bewerkstelligen. Es fehlte das Geld, vor allem aber die Zustimmung der kriegsmüden westlichen Öffentlichkeit. Für die Libyer wollten die Bürger nicht das Leben eigener Soldaten riskieren.

Das zwang die interventionswilligen Regierungen des Westens zu einer Anpassung ihrer Kriegsführung. Sie schickten ihre Kampfbomber unter der Fahne der Menschenrechte und dienten de facto als Luftwaffe der libyschen Rebellen. Gleichzeitig versorgten sie diese  mit schweren Waffen, um gegen die Armee  Muammar al-Gaddafis kämpfen zu können, gegen seine Panzer vor allem. Schließlich kamen auch Spezialeinheiten am Boden zum Einsatz, fern jeder öffentlichen Aufmerksamkeit. Diese Einheiten spielten eine entscheidende Rolle beim Fall von Tripolis und dem eigentlichen Sturz des Diktators.

Libyen ist für die Militärs erfolgreich gewesen. Es war billig, es dauerte nicht allzu lang und keiner im Westen hatte das Gefühl, dass eigenes Blut riskiert werden musste. Im Falle Syriens argumentieren die Interventionsbefürworter heute mit dem libyschen Modell.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die USA intervenierten in den achtziger Jahren in Afghanistan. Sie rüsteten die afghanischen Freiheitskämpfer gegen die sowjetischen Besatzer aus. Unter anderem lieferten sie ihnen Stinger-Raketen. Mit ihnen konnten die Mudschaheddin die gefürchteten sowjetischen Helikopter abschießen. Die Stinger-Raketen wurden kriegsentscheidend.

Als die USA aber 2001 in Afghanistan intervenierten, mussten sie die Stinger-Raketen von den ehemals so hofierten afghanischen Freiheitskämpfern, von denen viele zu Taliban mutiert waren, wieder zurückkaufen. Sie fürchteten ihre eigene Waffe, die sie wenige Jahre zuvor an die Freiheitskämpfer gespendet hatten. Der Westen mischt sich ein, ohne selbst zu schießen. Das scheint der neue, alte Weg zu sein – und Syrien sein Anwendungsfall. Aber auch solche Interventionen haben den Effekt eines Bumerangs: Irgendwann kommen sie zurück und richten Schaden an.

 

Mladić-Prozess ist eine Chance für dauerhaften Frieden

Der Prozess gegen den „Schlächter vom Balkan“ beginnt: Ratko Mladić muss sich ab Mittwoch vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verantworten. Mladić war zwischen 1992 und 1996 Oberbefehlshaber der bosnischen Serben. Diese hatten sich von Bosnien-Herzegowina, das sich 1992 für unabhängig erklärte, abgespalten und eine eigene Republik gegründet, die Republik Srpska. Mladić war ihr militärischer Kopf. Zeitweise kontrollierten die bosnischen Serben fast 90 Prozent von Bosnien-Herzegowina. Die muslimischen Bosniaken wurden aus den eroberten Gebieten zu Hunderttausenden vertrieben, zu Zehntausenden ermordet.

Für immer in Verbindung bleiben wird Mladićs Name vor allem mit dem Massaker von Srebrenica. Im Juli 1995 eroberten seine serbischen Milizen die bosnische Enklave Srebrenica. Dort richteten sie systematisch alle Männer hin, derer sie habhaft werden konnten. 8.000 Bosniaken waren es am Ende. Es war das größte Massaker in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Ratko Mladić persönlich soll es befohlen haben. Auf Videoaufnahmen, die um die Welt gehen, ist Mladić zu sehen wie er an Frauen und Kindern von Srebrenica vorbeigeht und ihnen versichert, dass ihnen und ihren Männern nichts Schlimmes geschehen wird. Es war der Gipfel des Zynismus.

Wenn der Prozess eröffnet wird, steht also jener Mann vor Gericht, der unter den Kriegsherren dieser Jahre wohl am meisten Blut an den Händen hat. Noch einmal wird das grausigste Kapitel dieses langen Krieges aufgeschlagen. Das ist notwendig. Denn nur wenn Recht gesprochen wird, hat Versöhnung eine Chance — und damit dauerhafter Friede.

In Den Haag soll die strafrechtliche Verantwortung Mladićs für Srebrenica geklärt werden. Doch wie ein dunkler Geist wird auch die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für Srebrenica die Verhandlung durchziehen. Die bosnische Enklave nämlich stand unter dem Schutz von UN-Soldaten. Ratko Mladić setzte sich darüber einfach hinweg. Niemand hinderte den Militärchef an seinem Tun, obwohl man ahnen konnte, was geschehen würde.

Im Prozess gegen Mladić wird zudem ein Europa sichtbar werden, das in diesen Jahren vollkommen handlungsunfähig war. Das jahrelang tatenlos zugesehen hat, wie Männer vom Schlage Mladićs ihrem blutigen Handwerk nachgingen.

Der Balkan gehört zu Europa, und es kann diesem Europa nicht egal sein, was dort geschieht. Das hatte man damals nicht begreifen wollen. Jugoslawien erschien als etwas Fernes, Exotisches, Wildes – fernab von Europa. „Der Balkan ist nicht der Knochen eines preußischen Grenadiers wert“ — dieser Spruch des deutschen Kanzlers Bismarck wurde regelmäßig zitiert, als 1992 in Jugoslawien die Schlächterei losging. Er diente als Schutzbehauptung für die eigene schuldhafte Tatenlosigkeit.

Man kann zur Verteidigung Europas anführen, dass es nicht auf diesen Krieg vorbereitet war und dass es mit sich selbst beschäftigt gewesen ist. 1989 fiel die Berliner Mauer, 1991 zerbrach die Sowjetunion, die USA führten im selben Jahr ihren ersten Krieg gegen Saddam Hussein. All das ließ Jugoslawien in den Augen Europas klein und unbedeutend erscheinen. Umso größer waren die Verbrechen, die im Schatten dieser „großen“ Geschichten begangen werden konnten.

Heute – nach mehr als 100.000 Kriegstoten – ist man in Europa klüger. Die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Slowenien ist inzwischen Mitglied der Europäischen Union, Kroatien steht kurz davor, Serbien möchte als nächstes beitreten. Eine der Voraussetzungen dafür war die Auslieferung Mladićs gewesen. Tatsächlich wurde dieser in Serbien verhaftet und an Den Haag weitergegeben. Sein Prozess ist daher auch als ein Schritt zur Integration des Balkan in Europa zu sehen.

 

Die Perversion einer guten Idee

War der Libyen-Krieg eine humanitäre Intervention? Darüber und über den Einsatz als solchen wird in unserer Redaktion und unter unserer Leserschaft heftig gestritten. Gestern schrieb Jochen Bittner: Mit der Libyen-Intervention der Nato wurde schlimmere Gewalt verhindert. Hier antwortet nun Ulrich Ladurner. Er hat aus allen Kriegen mit westlicher Beteiligung seit 1992 (Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, Irak, Libyen) als Reporter berichtet.

Die internationale Gemeinschaft ist dazu verpflichtet, Menschenrechte zu schützen – wo auch immer. Das ist eine schöne, noble Idee. Sie ist bereits in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten, wenn auch etwas schwammig. 2005 wurde diese Idee unter der Formel Responsibility to Protect weiter konkretisiert. Seitdem reden wir von „Schutzverantwortung“. Diese Idee war die Grundlage für die Intervention der Nato in Libyen. Die Resolution des Sicherheitsrates 1973 beruft sich auf diese Schutzverantwortung. Mit anderen Worten: Die Libyen-Intervention der Nato gilt unter ihren Befürwortern als lupenreine „humanitäre Intervention“.

Doch leider ist das Gegenteil der Fall: Diese Intervention ist in Wahrheit die Perversion einer guten Idee.

Es ist auffallend, wie Kriegsbefürworter sich darum bemühen, alle Schattenseiten dieses Krieges anzusprechen. Die Menschenrechtskrieger wollen offensichtlich auch im Krieg noch korrekt sein und listen alles penibel auf. Die Nato hat die Resolution 1973 eigenmächtig ausgelegt? Ja, gewiss, aber es war für einen guten Zweck! Die Nato hat sich von Beginn an zur Luftwaffe der Rebellen gemacht? Ja, aber der Zweck war wichtig! Die Rebellen haben sich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht? Ja, aber diese Barbarei wird überstrahlt vom hellen Licht unseres Zwecks! Gadhafi ist von einem Mob gelyncht worden unter kräftiger Mithilfe der Nato? Ja, aber der Zweck! Es war für einen guten Zweck! Und so geht es weiter.

Die Befürworter des Krieges kehren all den Schmutz nicht unter den Teppich, sie sammeln ihn. Das ist schlimmer. Sie stellen die Barbarei aus und erklären sie im Lichte des Fortschritts für unerheblich. Auf diese Weise werden die Menschenrechte herabgewürdigt.

Man kann dem Krieg in Libyen zustimmen, nur humanitär sollte man ihn nicht nennen – zum Wohle der Menschenrechte. Die Schutzverantwortung bleibt eine gute, noble Idee. Die Intervention in Libyen beweist aber, dass sie Gefahr läuft, zur Ideologie zu verkommen. Denn das Kennzeichen aller gefährlichen Ideologien ist eben dies: Der Zweck heiligt die Mittel.

Der Dichter Robert Gernhardt hat ein paar schöne Zeilen dafür gefunden:

Mein liebes Kind, wir wollen Dich befreien,
Das heißt: Wir müssen dich zuvor beschießen.
Wenn Du das so verstehst: Als das Begießen
des Pflänzchens Freiheit, wirst du uns verzeihen

 

Wo ist der Erfolg?

Marjah? Wer kann sich an Marjah erinnern? Ja genau, da war was. Eine Offensive der Nato im vergangenen Februar. 15.000 Nato-Soldaten sollen daran beteiligt gewesen sein und ebenso viele Soldaten der afghanischen Armee.  Zeitweise sah es so aus, als sei Marjah eine Art Stalingrad, eine Schlacht, die die Wende im Krieg bringen würde. Vormarsch, Einmarsch, Befreiung, Halten, gut verwalten. Das waren die Schritte der neuen Nato-Strategie, die in Marjah  zum ersten Mal umgesetzt werden sollten. General Stanley McChrystal hatte diese Strategie erfunden, dafür von seinem Präsidenten Barack Obama 30.000 zusätzliche Soldaten gefordert und auch bekommen. Der General hatte sich  selbst unter Erfolgsdruck gesetzt. Kein Wunder, dass er mit viel Pomp auf Marjah marschieren ließ. „We have governenment in the box, ready to roll in!“, sagte Stanley McChrystal.

Und heute? Was hören wir von Marjah? Nichts bis sehr wenig. Die Taliban sollen vertrieben worden sein. Ein afghanische Nationalflagge ist auf dem zentralen Platz von Marjah gehisst worden. McChrystal war auch zu Besuch und soll über den Bazaar Marjahs geschlendert sein. Und sonst? Funkstille.

Gut, man müsste hinfahren. Aber das – so heißt es – ist immer noch zu gefährlich.  Man könne nur als „eingebetteter Journalist“ mit den Soldaten nach Marjah fahren, was freilich etwas problematisch ist, wenn man sich eine unabhängiges Bild  verschaffen wollte. Überhaupt warum ist es unsicher, wenn es doch befreit ist?

Die Geschichte um Marjah ist gespenstisch. Sie könnte für ganz Afghanistan typisch werden. Irgendwann in einer fernen Zukunft, wenn die Nato das Land verlassen haben wird,  wird man sich fragen: Afghanistan? Da war doch was, oder? Ach ja, Wiederaufbau, Frieden, Demokratie für eine geschundenes Land. Aber kaum einer wird sich erinnern können. Afghanistan wird von der Bildfläche verschwunden sein. Der Westen wird sich anderen zuwenden.

Ein Zynischer Blick? Nein, Marjah docet. Und die jüngere afghanische Geschichte. Nachdem die Afghanen die sowjetischen Soldaten vertrieben hatten, verlor der Westen das Interesse an Afghanistan. Es versank im Dunkel des Bürgerkrieges. Im Bewusstsein des Westens tauchet es nurab un zu auf, wie eine blutiges, Schrecken erregendes Gespenst. Nur, um schnell wieder zu verschwinden.

 

Ein Sieg und viele Fragen

© PATRICK BAZ/AFP/Getty Images

Die Taliban greifen Hotels in Kabul an; die Nato erobert die  Taliban-Hochburg Marjah,  die afghanische Armee hisst zum Zeichen des Sieges die Nationalflagge über der Stadt; der Bundestag beschließt die Verlängerung des Afghanistan-Mandats und gleichzeitig die Aufstockung des Truppenkontingents. Das sind drei Nachrichten an einem Tag. Ihre Botschaft ist dieselbe: Der Krieg intensiviert sich in Afghanistan.

Das war zu erwarten, doch in welche Richtung schlägt das Pendel aus?

Ist Marjah wirklich ein Sieg? Und wenn ja, wird er von Dauer sein? Werden mehr deutsche Soldaten helfen, den Krieg zu entscheiden, oder sinkt Deutschland noch tiefer in den afghanischen Sumpf? Sind die Angriffe der Taliban auf Hotels in Kabul Verzweiflungstaten, oder sind sie ein Zeichen der Stärke?

Eindeutige Antworten können wir nicht geben. Sicher ist nur eines: Die Zeit spielt in die Hände der Taliban. Sie müssen nicht siegen, sie müssen nur weiterkämpfen, ein Jahr noch, zwei, vielleicht auch drei. Sie werden schon allein deshalb weiterkämpfen, weil sie  im Unterschied zu den Soldaten der Nato keine Heimat haben, in diese sie zurückkehren könnten. Ob es nun gelingt, Teile der Taliban auf dem Verhandlungswege zu gewinnen, ist mehr als fraglich. Doch auch hier ist der Faktor Zeit entscheidend. Warum sollen sie heute über etwas verhandeln, was sie in ein paar Jahren zu einem viel günstigeren Preis bekommen können? Warum sollen sie sich heute einlassen auf einen Kompromiss mit der Regierung in Kabul, wenn sie sie morgen schon stürzen könnten?

Die Taliban haben Zeit, die Nato hat keine. Denn ihr geht die Luft aus. Der beschlossene Rückzug der Holländer 2010 ist nur das dramatischtes Beispiel dafür. Schlecht ist das nicht. Man sollte die „Schwäche“ der Nato nämlich als den Anfang vom Ende der Nato als globale Interventionsmacht interpretieren.

Das transatlantische Verteidigungsbündnis, ursprünglich als antisowjetisches Bollwerk konzipiert, hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges zum weltweit aktiven militärischen Arm des Westens umdefiniert. Der Kosovo Krieg 1999 war der erste Testfall, Afghanistan ist der größte und wichtigste. Wenn also die Nato in Afghanistan zerbricht, dann ist es diese eine Nato als globale Interventionsmacht – nicht das Verteidigungsverbündnis.

P.S.: Das Foto soll die Eroberung Marjahs zeigen. Bei der Betrachtung fragt man sich: Was? Das ist Marjah? Ein Feld, eine Lehmmauer, ein paar Hütten? Wo ist eigentlich das Zentrum? Gibt es dieses Zentrum? Wo sind die Regierungsgebäude? Wo soll die Regierung residieren, die Nato-Befehlshaber in Afghanistan, Stanley McChrystal,  mit sich bringen will: „In the box, ready to roll in!“ – wie er sagte. Hat Marjah wirklich 80.000 Einwohner?  Hat die Nato 15.000 Soldaten in Marsch gesetzt, um eine Fahne über diesem Feld zu hissen?

 

Drogen

Afghanistan ist weltweit größter Opiumproduzent, inzwischen grassiert auch die Heroinsucht. Vom Mohnfeld in der Provinz bis zum Junkie in Kabu.  Eine Fotogeschichte von mir dazu finden Sie hier

Eine sehr lesenwerte und beunruhigende Geschiche zum Thema Drogenanbau hat einer der besten deutschen Afghanistankenner, Thomas Ruttig,  in der taz geschrieben

 

Propagandafeldzug der Nato

Die Nato hat in Afghanistan die größte Operation in dem seit acht Jahren dauernden Einsatz begonnen. Sie zielt auf Mardscha, eine Hochburg der Taliban in Süden des Landes.  Die Generäle haben sie „Muschtarak“ getauft, was soviel wie „gemeinsam“ heißt. Die Nato  geht nämlich gemeinsam  mit Einheiten der afghanischen Armee gegen die Taliban vor.

„Muschtarak“ ist die erste konkrete Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie der Nato. Sie zielt darauf ab, mit überwältigender Gewalt die Taliban in ihren Zentren zu treffen und  zu vertreiben.  Den einmarschierenden Soldaten folgen Beamte der afghanischen Regierung, die sofort daran gehen sollen, die eroberten Städte zu verwalten – gut zu verwalten, damit die Menschen auch erleben können, dass es ihnen unter der Regierung besser geht als unter den Taliban. Die Nato-Soldaten sollen im Unterschied zur vorangegangenen Operationen auf Dauer in den eroberten Zentren bleiben. So weit der Plan. „Muschtarak“ wird begleitet von einer sorgfältig vorbereiteten Medienkampagne.  Sie bringt das hervor, was von einer Propagandamaschine zu erwarten ist: Die Nato eilt von Erfolg zu Erfolg. Die Tatsache, dass manchmal etwas schief geht wie die Tötung von zwölf Zivilisten durch zwei Raketen,  die ihre Ziele verfehlt haben,  wird übertönt von den Jubelmeldungen aus den Presseabteilungen der Militärs.

Man muss daran erinnern, dass es KEINE unabhängige Berichterstattung aus dem Kampfgebiet gibt. Wir sind also fast ausschließlich auf die Informationen angewiesen, die uns die Kriegsparteien liefern – in dem Fall vor allem der Nato.  Das wird gerne vergessen.
Was tun? Die Propaganda mit Fragen löchern.  Warum zum Beispiel behauptet die Nato, dass die Taliban völlig überrascht worden seien, wenn doch sie gleichzeitig sagt, sie hätte die Zivilbevölkerung via Radio und Flugblätter vor dem Angriff gewarnt, um ihr die Chance zu geben, sich in Sicherheit zu begeben? Warum sagt die Nato, sie habe die Taliban überwältigt, wenn sie gleichzeitig sagt, es gebe kaum Kämpfe? Warum sollten die afghanischen Beamten, die der Nato auf den Fuß folgen, weniger korrupt sein als ihre Regierung in Kabul? Warum sollen die Bewohner Mardschas glauben, dass die Nato auf Dauer bleiben wird, wenn US–Präsident Barack Obama doch den Abzug beginnend 2011 festgelegt hat?

Je lauter das Propagandagetöse, desto mehr muss man solche Fragen stellen.