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Erst bombardieren, dann wegschauen

Am 20. Oktober 2011 starb Muammar al-Gaddafi. Rebellen hatten den Diktator zu Tode gejagt. An dieser Jagd waren Kampfbomber der Nato beteiligt, bis zur letzten Minute halfen sie mit, Gaddafi zu erlegen.

Niemand weinte Gaddafi eine Träne nach. Libyen war vom Diktator befreit. Die Libyer wählten wenige Monate später ein Parlament. Das allein galt schon als Erfolgsnachweis. Der Westen war zufrieden – und wandte sich ab.

Und heute? Das Unglücksboot, bei dessen Untergang vor zwei Wochen vor der Insel Lampedusa mehr als 300 Menschen ertranken, kam aus Libyen — sehr wahrscheinlich aus der Hafenstadt Misrata. Das ist bemerkenswert. Denn diese Stadt war im Sommer 2011 mehrere Wochen von den Truppen Gaddafis belagert worden. In den westlichen Medien bekam sie wegen ihres Widerstandswillens eine Art Heldenstatuts. Gaddafi gelang die Eroberung Misratas nicht, weil die Nato mit ihren Kampfbomber es nicht zuließ.

Schließlich befreiten sich die Belagerten. Misrata wurde zu einem Symbol für den Aufstand gegen Gaddafi. Heute ist es eine Stadt, in der die Schlepper Millionen mit dem Menschenhandel verdienen können, ohne dass sie dabei gestört würden. Mit einem Schuss Zynismus kann man sagen: Die Nato hat den Gangstern den Weg freigeschossen, damit sie ihr Geschäft betreiben können. Und sie tat dies im Namen der Menschenrechte!

Auch Gaddafi betrieb Menschenhandel, allerdings auf staatlicher Ebene. Das machte ihn ein wenig berechenbarer. Im Jahr 2008 etwa schloss er ein Abkommen mit der damaligen italienischen Regierung, wonach Libyen alle Flüchtlinge, die von seinen Küsten nach Italien aufgebrochen waren, zurückzunehmen bereit war. Gaddafi ließ sich für diese Hilfspolizistendienst fürstlich entlohnen. Dieses Abkommen mit dem Diktator war schändlich und nutzlos.

Die libyschen Behörden setzten damals viele Flüchtlinge einfach in der Sahara aus und überließen sie ihrem Schicksal. Heute jedoch gäbe es niemanden, mit dem man irgendein Abkommen treffen könnte, denn Libyen hat keine zentrale Autorität mehr. Der Staat ist nahe dran, ein failed state zu werden – ein Somalia an der Mittelmeerküste.

Das ist ein Ergebnis des westlichen Zynismus, der im Gewand der Moral daherkommt. Die Nato intervenierte in Libyen unter dem Label der Schutzverantwortung – der Responsibility to Protect (R2P). Demnach darf die internationale Gemeinschaft nicht mehr tatenlos zuschauen, wenn in irgendeinem Land der Welt massiv Menschenrechte verletzt werden. Dann ist sie zum Handeln geradezu gezwungen. Als der Aufstand gegen Gaddafi im Februar 2011 losbrach und dieser hart zurückschlug, da bemühte man das R2P-Prinzip. Die Nato bombte.

Nur, danach tat sie nichts mehr. Der Westen schaute weg. Und was war mit den Menschenrechten? Die mussten jetzt woanders verteidigt werden, in Syrien zum Beispiel. Also zog der Westen weiter, um das nächste Land zu „retten“.

Libyen? War da noch was?

Ja, da war was. Aber wir haben es vergessen. Und jetzt holt es die Europäer ein, wie ein hartnäckiges Gespenst.

 

Die Perversion einer guten Idee

War der Libyen-Krieg eine humanitäre Intervention? Darüber und über den Einsatz als solchen wird in unserer Redaktion und unter unserer Leserschaft heftig gestritten. Gestern schrieb Jochen Bittner: Mit der Libyen-Intervention der Nato wurde schlimmere Gewalt verhindert. Hier antwortet nun Ulrich Ladurner. Er hat aus allen Kriegen mit westlicher Beteiligung seit 1992 (Bosnien, Kosovo, Mazedonien, Afghanistan, Irak, Libyen) als Reporter berichtet.

Die internationale Gemeinschaft ist dazu verpflichtet, Menschenrechte zu schützen – wo auch immer. Das ist eine schöne, noble Idee. Sie ist bereits in der Charta der Vereinten Nationen festgehalten, wenn auch etwas schwammig. 2005 wurde diese Idee unter der Formel Responsibility to Protect weiter konkretisiert. Seitdem reden wir von „Schutzverantwortung“. Diese Idee war die Grundlage für die Intervention der Nato in Libyen. Die Resolution des Sicherheitsrates 1973 beruft sich auf diese Schutzverantwortung. Mit anderen Worten: Die Libyen-Intervention der Nato gilt unter ihren Befürwortern als lupenreine „humanitäre Intervention“.

Doch leider ist das Gegenteil der Fall: Diese Intervention ist in Wahrheit die Perversion einer guten Idee.

Es ist auffallend, wie Kriegsbefürworter sich darum bemühen, alle Schattenseiten dieses Krieges anzusprechen. Die Menschenrechtskrieger wollen offensichtlich auch im Krieg noch korrekt sein und listen alles penibel auf. Die Nato hat die Resolution 1973 eigenmächtig ausgelegt? Ja, gewiss, aber es war für einen guten Zweck! Die Nato hat sich von Beginn an zur Luftwaffe der Rebellen gemacht? Ja, aber der Zweck war wichtig! Die Rebellen haben sich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht? Ja, aber diese Barbarei wird überstrahlt vom hellen Licht unseres Zwecks! Gadhafi ist von einem Mob gelyncht worden unter kräftiger Mithilfe der Nato? Ja, aber der Zweck! Es war für einen guten Zweck! Und so geht es weiter.

Die Befürworter des Krieges kehren all den Schmutz nicht unter den Teppich, sie sammeln ihn. Das ist schlimmer. Sie stellen die Barbarei aus und erklären sie im Lichte des Fortschritts für unerheblich. Auf diese Weise werden die Menschenrechte herabgewürdigt.

Man kann dem Krieg in Libyen zustimmen, nur humanitär sollte man ihn nicht nennen – zum Wohle der Menschenrechte. Die Schutzverantwortung bleibt eine gute, noble Idee. Die Intervention in Libyen beweist aber, dass sie Gefahr läuft, zur Ideologie zu verkommen. Denn das Kennzeichen aller gefährlichen Ideologien ist eben dies: Der Zweck heiligt die Mittel.

Der Dichter Robert Gernhardt hat ein paar schöne Zeilen dafür gefunden:

Mein liebes Kind, wir wollen Dich befreien,
Das heißt: Wir müssen dich zuvor beschießen.
Wenn Du das so verstehst: Als das Begießen
des Pflänzchens Freiheit, wirst du uns verzeihen

 

Propagandafeldzug der Nato

Die Nato hat in Afghanistan die größte Operation in dem seit acht Jahren dauernden Einsatz begonnen. Sie zielt auf Mardscha, eine Hochburg der Taliban in Süden des Landes.  Die Generäle haben sie „Muschtarak“ getauft, was soviel wie „gemeinsam“ heißt. Die Nato  geht nämlich gemeinsam  mit Einheiten der afghanischen Armee gegen die Taliban vor.

„Muschtarak“ ist die erste konkrete Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie der Nato. Sie zielt darauf ab, mit überwältigender Gewalt die Taliban in ihren Zentren zu treffen und  zu vertreiben.  Den einmarschierenden Soldaten folgen Beamte der afghanischen Regierung, die sofort daran gehen sollen, die eroberten Städte zu verwalten – gut zu verwalten, damit die Menschen auch erleben können, dass es ihnen unter der Regierung besser geht als unter den Taliban. Die Nato-Soldaten sollen im Unterschied zur vorangegangenen Operationen auf Dauer in den eroberten Zentren bleiben. So weit der Plan. „Muschtarak“ wird begleitet von einer sorgfältig vorbereiteten Medienkampagne.  Sie bringt das hervor, was von einer Propagandamaschine zu erwarten ist: Die Nato eilt von Erfolg zu Erfolg. Die Tatsache, dass manchmal etwas schief geht wie die Tötung von zwölf Zivilisten durch zwei Raketen,  die ihre Ziele verfehlt haben,  wird übertönt von den Jubelmeldungen aus den Presseabteilungen der Militärs.

Man muss daran erinnern, dass es KEINE unabhängige Berichterstattung aus dem Kampfgebiet gibt. Wir sind also fast ausschließlich auf die Informationen angewiesen, die uns die Kriegsparteien liefern – in dem Fall vor allem der Nato.  Das wird gerne vergessen.
Was tun? Die Propaganda mit Fragen löchern.  Warum zum Beispiel behauptet die Nato, dass die Taliban völlig überrascht worden seien, wenn doch sie gleichzeitig sagt, sie hätte die Zivilbevölkerung via Radio und Flugblätter vor dem Angriff gewarnt, um ihr die Chance zu geben, sich in Sicherheit zu begeben? Warum sagt die Nato, sie habe die Taliban überwältigt, wenn sie gleichzeitig sagt, es gebe kaum Kämpfe? Warum sollten die afghanischen Beamten, die der Nato auf den Fuß folgen, weniger korrupt sein als ihre Regierung in Kabul? Warum sollen die Bewohner Mardschas glauben, dass die Nato auf Dauer bleiben wird, wenn US–Präsident Barack Obama doch den Abzug beginnend 2011 festgelegt hat?

Je lauter das Propagandagetöse, desto mehr muss man solche Fragen stellen.

 

Die Dimension des Problems

Am 28. Januar wird in London eine große Afghanistan-Konferenz stattfinden. Dort wird wieder viel die Rede sein von allen möglichen Strategieen – und am Ende wird man sich vielleicht für eine entscheiden. Sicher ist das allerdings nicht, denn die Verwirrung und Uneinigkeit unter den Geberländern ist gr0ß. Nur über eines scheint Konsens zu herrschen: Dass es möglich sei, Afghanistan für den Westen zu „retten“, wenn man nur die richtigen Hebel in Gang setzte. Das ist eine Illusion, denn es gibt den zentralen Maschineraum nicht, den man nur richtig bedienen müsste, damit Afghanistan auf gutem Weg kommt.  Es gibt viele kleine Stellen, an denen es zu intervenieren lohnt, an denen man mit relativ wenig Aufwand viel bewirken kann. Viele Nichtregierungsorganisationen machen das seit Jahren vor.  Von ihrem Beispiel könnte man lernen.

Stattdessen aber scheint der Westen auf den großen Hammer zu setzten – auf das Militär. Wie groß dieser Hammer ist, kann man in Zahlen ausdrücken.  US-Präsident Barack Obama hat den Kongreß um 33 Milliarden zusätzliche Dollar gebeten, um den Krieg in Afghanistan zu finanzieren. Damit werden die Gesamtausgaben für den Krieg im Irak und in Afghanistan auf 159 Milliarden Dollar steigen. Um die Dimension klar zu machen: Das ist ziemlich genau die Hälfte der Summe, die alle Staaten der Welt zusammen, außer den USA, jährlich für ihre Verteidigung ausgeben.

Um die wirklichen Probleme Afghanistans zu begreifen, sollten diese astronomischen Ausgaben für den Krieg in Verbindung mit dem Alltagsleben der Afghanen gebracht werden. Auch diese lässt sich in Zahlen ausdrücken. Das selbst erwirtschaftete Budget der Regierung beläuft sich auf rund 600 Millionen Dollar, davon werden 22 Millionen Dollar allein dafür ausgegeben, den Präsidenten des Landes Hamid Karzai zu schützen. Die Afghanen selbst gaben in den letzten 12 Monaten nach einer Studie der UN 2,5 Milliarden Dollar  für Schmiergelder aus. Durschnittlich musste jeder Afghane 160 Dollar im Jahr ausgeben, um jemanden zu schmieren. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der Afghanen beträgt 425 Dollar.

 

Warum Deutschland und die Nato scheitert

In der morgigen Ausgabe der ZEIT ist eine Interview mit dem ehemaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu lesen, das ich mit meinem Kollegen Peter Dausend geführt habe. Das Thema: Afghanistan. Steinmeier versucht einen schwierigen Spagat zwischen der politischen Verantwortung für den Einsatz und der zunehmend abzugswilligen Öffentlichkeit. Steinmeier sagt , dass der ursprüngliche Plan, der auf der Petersberger Konferenz 2002 für Afghanistan entworfen worden war, zu „ambitioniert“ gewesen sei. Das ist ein bemerkenswerte Aussage.

Tatsächlich wunschte ich mir, dass ein Historiker rekonstruiert, was zwischen den Attentaten vom 11. September 2001 und er Petersberger Konferenz, die am 27.11. 2001 begann und am 5. Dezember 2001 endete, geschehen ist. Es ließe sich eine Geschichte darüber schreiben, wie Deutschland in diesen Einsatz rutschte, der sich bald als Krieg herausstelte.

Warum ich glaube, dass Deutschland und die Nato keinen Erfolg haben, das können Sie hier lesen.

 

Karzais Kurs

Afghanistans Präsident verschärft die Kritik am Westen. Hier die Karzais „antiwestliche Aussagen“ aus einem Interview mit Margaret Warner

MARGARET WARNER: Now, President Obama, British Prime Minister Gordon Brown, the U.N. special rep, Kai Eide, have spoken very bluntly and publicly in the past few days about the changes they want to see in your cabinet and in your administration on both corruption and competence. And they have even suggested that Western support will fade if you do not do this.

How do you regard those comments?

HAMID KARZAI: Well, the West is not here primarily for the sake of Afghanistan. It is here to fight the war on terror. The United States and its allies came to Afghanistan after September 11.

Afghanistan was troubled like hell before that, too. Nobody bothered about us. So, they’re here to fight terrorism. And that is an interest that we share.

Of course, they need to build Afghanistan in order for Afghanistan to be able to defend itself and to be able to stand on its own feet and to deliver goods to its people. That is an Afghan responsibility, primarily, to get to where we want to be in terms of a better government, a better society, a developmental plan that delivers the services to the Afghan people.

MARGARET WARNER: Your Foreign Ministry yesterday issued — on Saturday — issued a statement saying that they considered the statements from some of these groups to be interference and lack of respect for Afghan sovereignty. Do you see it that way?

HAMID KARZAI: Well, we must all be very careful, while we are partners with one another, while we work together, while we are traveling this journey together, that our partnership and our advice is a friendly one and with good intentions, and not one that can be interpreted any other way.

MARGARET WARNER: And did you feel that President Obama and Gordon Brown and Kai Eide crossed that line?

HAMID KARZAI: Well, I’m immune to that. I’ve heard so much of that, you know, it doesn’t bother me.

MARGARET WARNER: And, so, was the Foreign Ministry just speaking for itself?

HAMID KARZAI: The Foreign Ministry was not speaking for itself. The Foreign Ministry was definitely speaking on behalf of the Afghan government.

MARGARET WARNER: So, you did see it as showing a little bit of lack of respect for Afghan sovereignty?

HAMID KARZAI: We like our partners to have a lot of respect for Afghan sovereignty. Afghanistan is extremely sensitive about that.

MARGARET WARNER: The U.N. did reluctantly withdraw about two-thirds of its foreign staff, at least temporarily, for safety’s sake.

What impact is that likely to have?

HAMID KARZAI: No impact. No impact.

MARGARET WARNER: So, you don’t care if they return?

HAMID KARZAI: They may or may not return. I don’t think Afghanistan will notice it. We wish them well, wherever they are.

MARGARET WARNER: One of your advisers said to me that they thought — he thought, unfortunately, that a certain climate of distrust now existed between your government and the Obama administration.

Does it? And, if so, where does this come from?

HAMID KARZAI: No, I wouldn’t describe it as distrust.

It’s a question of better handling of things on both sides. I guess we have to handle the Americans better, and the Americans have to handle us better.

 

Ratschlag für Obama

Barack Obama denkt seit Wochen darüber nach, ob er mehr Soldaten nach Afghanistan schicken und den Krieg  verschärfen soll. Der Schriftsteller Norman Mailer, der selbst am Zweiten Weltkrieg als Soldat teilnahm, könnte ihm dabei einen Rat geben. Mailer schrieb in seinem Roman „Die Nackten und die Toten“: „Einen Krieg anzufangen, um irgendetwas in Ordnung zu bringen, das ist als ginge man in den Puff, um einen Tripper loszuwerden.“

 

Killerdrohnen

Israel hat in den neunziger Jahren im Kampf gegen Hamas „gezielte Tötungen“ angewandt.  Damals musste  Israel viel Kritik dafür einstecken, auch aus den USA. 2001 sagte der amerikanischen Botschafter in Israel, Martin Indyk: „The United States government is very clearly on record as against targeted assassinations. They are extra-judicial killings and we do not support that.“ Das war eine klare Position, doch nach den Attentaten des 11. September gab es eine komplette Kehrtwende. Insbesondere der Friedensnobelpreisträger Barack Obama setzt auf gezielte Tötungen durch unbemannte Drohnen. Er hat in den ersten neun Monaten seiner Amtszeit mehr Angriffe autorisiert als sein Vorgänger George W. Bush in dreieinhalb Jahren wie eine Studie von Peter Bergen und Katherine Tiedemann ergab.

 

Die Balkanisierung Pakistans

Wer die Sichtweise Pakistans auf den Krieg in Afghanistan begreifen möchte, dem empfehle ich Arshad Zamans Artikel in der pakistanischen, englischsparachigen Zeitung DAWN