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Selbstverteidigung

Der Mann hinter Wikileaks. Das ist der Titel der aktuellen 60 Minutes Ausgabe des amerikanischen TV-Senders CBS. Eine Stunde diskutierte Steve Kroft mit Julian Assange.

Den hatte in der zurückliegenden Woche Bill Keller, Chefredakteur der New York Times, in einem ausführlichen Portrait massiv kritisiert. Er sei “schwer zu fassen, manipulierend und unberechenbar“. Jetzt hatte Assange Gelegenheit, seine Version dieser und anderer Geschichten zu erzählen.

Update: Und hier noch David Leigh and Luke Harding sowie Alan Rusbridger vom britischen Guardian über ihr Buch Wikileaks – Inside Julian Assange’s War on Secrecy.

 

Nichts bis gar nichts

Bradley Manning ist für viele US-Amerikaner schon jetzt des Hochverrats schuldig. Ganz gleich, ob irgendein ein Gericht der Welt ihm bisher etwas Derartiges nachgewiesen hat oder nicht. Für die US-Regierung aber war der Gefreite Bradley Manning nicht nur ein Verdächtiger, er war auch eine der letzten großen Hoffnungen im juristischen Kampf gegen Wikileaks und Julian Assange. Bis heute. Denn wie Guardian und NBC berichten, müssen die Ermittlungsbehörden mittlerweile einräumen, dass es keine Beweise für eine direkte Verbindung zwischen Manning und Assange gibt.

Diese direkte Verbindung hätte ein juristischer Ansatzpunkt sein können. Hätte Assange Mannings Daten, wenn er denn der vermeintliche Whistleblower sein sollte, persönlich entgegen genommen, hätte sich vielleicht eine Anklage konstruieren lassen, die Assange vorwirft, er habe Manning verleitet, aufgefordert, eventuell sogar genötigt oder gezwungen, die Daten herauszugeben. Bis zur Spionage ist es dann nicht mehr weit. Doch nichts dergleichen lässt sich nachweisen.

Zuletzt hatte die US-Regierung den Druck auf den Obergefreiten Manning in der Untersuchungshaft erhöht. Unter anderem soll er als Insasse derart überwacht worden sein, wie üblicherweise nur Suizid gefährdete Insassen überwacht werden. Die US-Sektion von Amnesty International hatte zwischenzeitlich Protest eingelegt.

In den zurückliegenden Wochen hatte die US-Regierung auch zahlreiche weitere Anstrengungen unternommen, um eine Anklage gegen Assange zu konstruieren beziehungsweise den Druck auf Wikileaks zu verstärken. So hatte sie unter anderem erwogen den Espionage Act, ein Gesetz von 1917, zu nutzen. Sie nötigte diverse Firmen ihre Geschäftsbeziehungen zu Wikileaks zu kappen. Sie zwang Twitter und vermutlich zahlreiche andere Betreiber von Social Networks und anderen Onlinediensten, persönliche Daten von tatsächlichen oder vermeintlichen Wikileaks-Machern herauszugeben. Das Ergebnis ist gleich null. Anders gesagt, es gibt bis heute keine konkreten Vorwürfe. Keine juristisch verwertbaren Beweise für Spionageaktivitäten. Keine Anklage. Nichts. Genauer: Gar nichts. Aber das Stochern im Nebel wird weitergehen. So viel scheint sicher.

 

Spionage? Oder nur ein weiteres Kapitel im Infowar?

Es würde perfekt in die Strategie des amerikanischen Justizministeriums passen. Der US-Nachrichtensender Bloomberg berichtet über angebliche Datensuchaktionen von Wikileaks in diversen Peer-to-Peer-Netzen wie Limewire oder Kazaa.

Nachdem es den amerikanischen Behörden bisher nicht gelungen ist, Wikileaks aus dem Netz zu verbannen oder zumindest den Wikileaks-Gründer Julian Assange vor Gericht zu stellen, würde der neue Vorgang weitere Optionen in der juristischen Auseinandersetzung bieten. Erstmals wäre nachgewiesen, dass Wikileaks nicht nur Daten zugespielt bekommt, sondern selbst aktiv nach Daten sucht.

Der Leiter der amerikanischen Sicherheitsfirma Tiversa Inc., behauptet im Bloomberginterview, zahlreiche Suchaktionen von Wikileaks auf den Festplatten Unbeteiligter nachweisen zu können. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Tiversa Inc. bereits für das FBI und andere US-Dienste tätig war. Mark Stephens, Assanges Rechtsanwalt, reagierte umgehend und nannte die Vorwürfe haltlos.

Information und Desinformation. Die Unterscheidung fällt zunehmend schwer.

 

Drohgebärden und mediale Stellungskriege

Ein Republikaner namens Peter T. King, ganz nebenbei Vorsitzender des United States House Homeland Security Committee, verlangt, amerikanischen Firmen grundsätzlich die Zusammenarbeit mit Wikileaks zu verbieten. Der McCarthyism lässt grüßen.

U.S. Rep. Peter T. King … asked Treasury Secretary Timothy Geithner Wednesday to prohibit people and companies within the U.S. from doing business with the Wikileaks website….

Julian Assange hat umgehend zurückgefeuert und mit einer Presseerklärung geantwortet. Er wirft King unter anderem vor, eine Art wirtschaftliche Zensur verhängen zu wollen und spricht ihm erwartungsgemäß jede rechtliche Grundlage ab.

’The Homeland Security Committee chair Peter T. King wants to put a Cuban style trade embargo around the truth—forced on US citizens at the point of a gun,’ said Julian Assange.

Unterdessen hat Assange in einem Interview mit dem amerikanischen Onlinemagazin NewStatesman gedroht, neue Dokumente zu veröffentichen. Um die Bank of America scheint es aber noch nicht zu gehen. Das große Zittern aber hat dort schon eingesetzt. Nach Auskunft Assanges betreffen die Dokumente Rupert Murdoch und dessen Medienkonzern News Corp. Murdochs Nachrichtensender Fox News war zuletzt nach dem Attentat auf die US-Parlamentarierin Gabrielle Giffords unter Druck geraten. Der Vorwurf: Fox News  habe das gesellschaftliche Klima aufgeheizt (Empfehlung: Die wütende Stimme Amerikas). Assange und die Wikileaks-Macher betrachten diese Dokumente jedoch ganz offenbar eher als eine Art Lebensversicherung und wollen sie vorläufig nur publizieren, falls der Druck auf sie weiter wächst. Es ging erstmal nur um einen Blick ins Waffenarsenal.

 

Ein neuer Industriestandard

Twitter hat Punkte gemacht. Zumindest in der Netzgemeinde. Denn Twitter hat die geheime Anforderung persönlicher Daten einzelner Nutzer durch die US-Justizbehörden angefochten und die Betroffenen informiert, unter ihnen war natürlich auch Julian Assange, aber auch der vermeintliche „Verräter“ Bradley Manings und beispielsweise der Programmierer Jacob Appelbaum. Umgehend wurde aus der geheimen Anforderung eine öffentliche. Für den New-York-Times-Autor Noam Chohen die eigentliche Sensation. Nicht die Tatsache, dass die US-Justiz nach Indizien für eine Anklage fahndet und dazu persönliche Daten von Netznutzern anfordert (was spätestens seit dem 11. 9. 2001 eine Art Ermittlungsstandard ist, wenn die nationale Sicherheit gefährdet scheint und geradezu inflationäre eingesetzt wird; schlappe 50.000 Aufforderungen versenden die Behörden jedes Jahr), sondern die Tatsache, dass Twitter widerstanden hat, sich dem üblich gewordenen Vorgehen der Ermittler zu beugen –  und dann auch noch das Recht zugesprochen bekam, die Betroffenen zu informieren.

Das US-Blog WorldWideHippies erklärt jetzt, warum Twitter das einzige große Netzunternehmen ist, dass sich der Herausgabepraxis verweigerte. Davon ausgehend, dass weitere Unternehmen wie Google oder Facebook aufgefordert wurden, Daten herauszugeben, führt Autor Cowby Dre aus:

Twitter’s general counsel comes out of Harvard’s prestigious Berkman Center for Internet and Society, the cyber law powerhouse that has churned out some of the leading Internet legal thinkers….

Der Leiter ihrer Rechtsabteilung ist also einer der Besten.  Er kommt vom renommierten Berkmann Center for Internet and Society. Und dessen Gründer war kein Geringerer als der Verteidiger eines berühmten „Leakers“: Daniel Ellsberg, der Mann der die so genannten Pentagon Papiere diversen Zeitungen zugänglich machte, das Bild des Vietnamkriegs in den USA fundamental veränderte und 1971 damit ein politisches Erdbeben in den USA auslöste.

Während die Justizbehörden eine weitere Runde gegen Wikileaks nach Punkten klar verloren geben mussten, scheint Twitter schwer Eindruck gemacht zu haben. Zu Recht. Immerhin haben die Macher des Kurznachrichtendienstes einen Präzedenzfall geschaffen. Dementsprechend verlangt Wired-Autor Ryan Single nichts weniger, als einen neuen Industriestandard für Betreiber von Sozialen Netzwerken und andere Unternehmen, die Nutzerdaten einsammeln. Die Überschrift seines Artikels lautet: „Twitter’s Response to Wikileaks Subpoena Should Be the Industry Standard“ und kündigt einen lesenswerten und amüsanten Artikel an.

ANALYSIS: Twitter introduced a new feature last month without telling anyone about it, and the rest of the tech world should take note and come up with its own version of it.

Twitter beta-tested a spine….