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Varoufakis, Spieltheorie und Schuldentilgung

 

Seit einigen Wochen genießt der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis große mediale Aufmerksamkeit. Bevor er als aktueller Verwalter der Milliardenschulden sein Amt übernahm, war der studierte Mathematiker Wirtschaftsprofessor mit einem Spezialgebiet in der Spieltheorie. Die umfasst ein mathematisch interessantes Verfahren zur Schuldentilgung, das ein beträchtliches Risiko birgt: sich noch wesentlich stärker zu verschulden. Im Glücksfall aber bekommt man seine Schulden vollkommen erlassen.

Angenommen, Anne schuldet Bert 20 Cent. Sie bietet Bert an, um diesen Geldbetrag zu spielen. Gewinnt sie, sollen ihre Schulden erlassen sein. Verliert Anne, dann werden ihre Schulden auf 1 Euro ansteigen. Konkret können es natürlich statt 20 Cent auch 200 Euro sein, die Anne Bert schuldet. Dann steht 1 Euro symbolisch für 1.000 Euro. Für die jeweiligen Schulden schreiben wir allgemein S. Am Anfang ist in unserem überschaubaren Beispiel also S = 0,2 Euro.

Anne hat eine Eineuromünze und bietet Bert nun das folgende Spiel zur Schuldentilgung an. Mit der Euromünze soll gezockt werden. Sie wandert zwischen Anne und Bert hin und her, bis einer sie behalten darf. Wer das ist, soll mit der Münze selbst entschieden werden. Es ist derjenige, der zuerst Kopf wirft. Das Spiel dazu hat nur zwei Schritte. Allerdings kann es sein, dass die öfter ausgeführt werden müssen. Denn es kann dauern, bis zum ersten Mal Kopf kommt, und keiner der beiden darf vorher aussteigen.

Schritt 1: Es wird geprüft, ob die aktuellen Schulden S, die der Besitzer der Eineuromünze hat, nicht größer als ½ sind. (Am Anfang ist das so, denn dann ist wie erwähnt S = 0,2. Aber die Schulden können sich während des Spiel ändern, wie wir gleich in Schritt 2 sehen werden). Ist S höchstens ½, wechselt die Münze nicht den aktuellen Besitzer. Dieser darf sie nochmals werfen. Sind die aktuellen Schulden aber größer als ½, wechselt der Euro von Anne zu Bert oder umgekehrt, und der neue Besitzer schuldet dem alten dann noch 1 – S Euro, was wieder höchstens ½ ist. So wird sichergestellt, dass die aktuelle Schuldenhöhe nie größer als ½ ist. Aber der Schuldner kann sich im Verlauf des Spiel ändern.
Schritt 2: Wer die Euromünze gerade besitzt, muss sie werfen. Bei Kopf hat er Glück. Dann kann er den Euro behalten, seine Schulden sind beglichen und das Spiel ist aus. Bei Zahl hat er Pech. Dann werden seine Schulden verdoppelt und das Spielchen geht mit Schritt 1 in die nächste Runde. Es muss gespielt werden, bis Kopf kommt.

Wenn also wie im Beispiel am Anfang S = 0,2 ist und Anne mit der Münze Kopf wirft, dann hat sie Glück und ihre Schulden sind erlassen. Wirft sie dagegen Zahl, verdoppeln sich ihre Schulden auf S = 0,4. Da dieser S-Wert immer noch kleiner als ½ ist, wechselt die Euromünze nicht den Besitzer, sondern Anne darf sie abermals werfen. Bei Kopf sind ihre Schulden erlassen, bei Zahl verdoppeln sie sich auf S = 0,8. Dieser Wert ist größer als ½. Also geht die Münze in den Besitz von Bert über, doch der hat nun S = 1 – 0,8 = 0,2 Euro Schulden bei Anne. Wirft Bert jetzt Kopf, darf er die Münze behalten und seine Schulden sind erlassen. Bei Zahl verdoppeln sich seine Schulden und so weiter.

Ist das Spiel fair? Erhält Bert im Schnitt von Anne den Betrag S (also 0,2 Euro), den sie ihm anfangs schuldet?

Wir können das mit einem hübschen Zahlentrick untersuchen. Wir schreiben die Zahl S als Summe von Potenzen von ½ auf, wobei jede Potenz höchstens einmal vorkommt. Das ist die Schreibweise von S im Zweiersystem. Sie geht so: S = s(1) x ½ + s(2) x ¼ + s(3 )x ⅛ + …

Wer den Euro besitzen wird, entscheidet die Münze

Die Zahlen s(1), s(2), s(3), … in dieser Formel sind alle entweder 0 oder 1. Die Entscheidung über den endgültigen Besitzer der Münze fällt im n-ten Münzwurf, wenn in den ersten n – 1 Würfen immer Zahl gekommen ist und erst im n-ten Wurf Kopf erscheint. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist 2 hoch minus n.

Was muss passieren, damit Bert den Euro direkt vor dem n-ten Wurf besitzt? Die Frage lässt sich mit der Schreibweise im Zweiersystem beantworten. Erstens: Die Verdopplung von S auf 2S entspricht dem Streichen von s(1) in der Ziffernfolge s(1), s(2), s(3), …. Zweitens: Der Besitzerwechsel des Euro ändert den Wert der Schulden von S auf 1 – S und damit jede obige Ziffer s(n) zu 1 – s(n). Daraus kann man schließen: Bert besitzt die Münze vor dem n-ten Wurf genau dann, wenn s(n) = 1 ist. Hier angekommen ist der Rest einfach.

Man kann nämlich die Wahrscheinlichkeit, dass Bert im n-ten Wurf Glück hat und die Münze danach ihm gehört, als einfaches Produkt s(n) mal 2 hoch minus n schreiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung irgendwann zugunsten von Bert fällt, ist entsprechend die Summe all dieser Produkte für alle Würfe n = 1, 2, 3, …. So kommt man zur obigen Formel und somit zur Wahrscheinlichkeit S.

Damit sind wir fast fertig: Bert erhält entweder den Euro von Anne oder nicht. Er bekommt ihn mit Wahrscheinlichkeit S. Der Erwartungswert des Geldbetrages, den Anne bei diesem Spiel an Bert zahlt, ist deshalb 1 x S + 0 x (1 – S) = S. Das sind genau die Schulden, die Anne bei Bert anfangs hatte.

Insofern ist das von Anne vorgeschlagene Spiel für die Begleichung ihrer Schulden im Schnitt fair, obwohl es ein risikobehaftetes Glücksspiel ist. Ob Varoufakis es allerdings als Experte auf dem Gebiet in Betracht zieht, wage ich zu bezweifeln. Kennen wird er es sicherlich.