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Elfmeterschießen ist unfair!

 

Es ist wieder die Zeit des spannenden Champions League Fußballs. Am Dienstag und Mittwoch dieser Woche gab es großartige Spiele zu sehen; während der FC Bayern ins Halbfinale einzieht, scheiterte der BVB knapp. Auch der heutige Beitrag im Mathe-Blog wird sich mit dem Thema Fußball befassen. Speziell geht es darum, wie Spiele, die entschieden werden müssen, entschieden werden sollen, nachdem selbst eine Verlängerung nicht ausgereicht hat. Also ums Elfmeterschießen.

Die FIFA-Regeln fürs Elfmeterschießen besagen, dass der Münzwurf bestimmt, welcher Mannschaftskapitän entscheiden darf, ob seine Mannschaft zuerst schießt oder die andere. Dann wird abwechselnd geschossen, insgesamt je fünfmal. Ist immer noch nichts entschieden, wird in derselben Abfolge weitergemacht, bis ein Team nach beiderseits gleich vielen Elfmetern ein Tor mehr hat.

Ist das fair? Nein! Das liegt einfach an der Reihenfolge. Die Statistik zeigt, dass in 60 Prozent aller Fälle die Mannschaft gewinnt, die den ersten Elfmeter schießt. Der Vorteil der zuerst schießenden Mannschaft X gegenüber der Mannschaft Y besteht in jedem der fünf Paare von Schützen. Bei der FIFA-Schussreihenfolge

XY XY XY XY XY

schießt in jedem Paar zuerst Team X, trifft typischerweise (im statistischen Mittel in 75 Prozent der Fälle) und Team Y steht dann unter Druck auszugleichen. Dieser Druck und seine psychologische Auswirkung reduziert die Chancen des Y-Schützen im Schnitt um 4 Prozent je Runde, was sich über fünf Runden zu dem erwähnten Nachteil von 20 Prozent aufschaukelt: 60 : 40. Die Unfairness verstärkt sich also mit jedem Paar geschossener Elfmeter.

Dabei ist leicht Abhilfe möglich.

Nach dem ersten Paar geschossener Elfmeter XY muss aus Fairnessgründen die Reifenfolge geändert werden: Es sollten also die ersten vier Elfmeter als XY YX ausgeführt werden.

Wie sollte es dann weitergehen?

Man könnte denken, es sei am fairsten, das nächste Paar von Schützen wieder in der Reihung XY antreten zu lassen. Das aber ist zu kurz gedacht.

Nicht einfach nur abwechseln oder beim Abwechseln abwechseln lautet die Devise. Sondern vielmehr beim Abwechseln des Abwechselns stets wieder Abzuwechseln: das ist die Zauberformel.

Falls also die obige Abfolge XY YX noch einen statistischen Vorteil für ein Team enthalten sollte, dann wird dieser dadurch am Besten neutralisiert, wenn die ganze bisherige Abfolge nun abermals, aber invers, ausgefügt wird: X wird darin durch Y ersetzt und Y durch X. So gelangt man zu

XY YX YX XY

Mit diesen Überlegungen sind wir auf acht zu schießende Elfmeter gekommen. Etwas zu wenig. Also lassen wir abermals die durch Buchstabenumkehr invertierte gesamte bisherige Serie folgen. Insgesamt haben wir dann

XY YX YX XY YX XY XY YX

Prüfen wir, ob entweder Team X oder Team Y durch diese Reihenfolge Vorteile erhält.

Das ist nicht der Fall: Nicht nur ist in jedem der insgesamt acht Paare jedes Team viermal zuerst am Zug, auch wird bei diesem Zuerst-am-Zug-sein nicht einfach (und damit unfair) abgewechselt, sondern beim Abwechseln stets abgewechselt.

Natürlich könnte man die obige Folge bei zehn Elfmetern abbrechen, doch die volle Fairness wird besser mit acht Elfmetern je Team erreicht.

Das ist aus mathematischer Sicht die Fairness-Folge fürs Elfmeterschießen: Acht Elfmeter von jedem Team nach obigem Rezept. Sie wurde auch schon von dem spanischen Wirtschaftswissenschaftler Ignacio Palacios-Huerta angesprochen.

Zu kompliziert? Ich denke, man kann sich leicht daran gewöhnen.

Mathematiker erkennen übrigens diese Folge, die sich mit dem genannten Prinzip ihrer Erzeugung leicht unendlich fortsetzen lässt, als die Thue-Morse-Folge. Sie ist nach den Mathematikern Axel Thue (1863-1922) und Marston Morse (1892-1977) benannt. Neben der Fibonacci-Folge ist sie eine der berühmtesten Folgen in der gesamten Mathematik. Sie ist deshalb so berühmt, weil sie an den unterschiedlichsten Stellen in den unterschiedlichsten Disziplinen bei den unterschiedlichsten Anwendungen – von Algebra bis Zahlentheorie, von Chaos über Musik bis zum Schach – immer wieder auftaucht.

Das liegt an ihren höchst bemerkenswerten Eigenschaften. Zum Beispiel ist sie selbstähnlich: Streicht man mit dem ersten Y beginnend in ihr jeden zweiten Buchstaben, so ist das, was übrig bleibt, exakt wieder die Thue-Morse-Folge selbst. Schon daraus wird ihre Eigenschaft des ultimativen Ausbalancierens deutlich.

Wir werden uns in Bälde mit einigen der faszinierenden Eigenschaften und Anwendungen dieser Folge beschäftigen.