In Uganda kennt jeder Joseph Kony. Seit 1987 ist Kony der Gründer und Anführer der Lord’s Resistance Army (LRA), der Rebellengruppe, die seit mehr als zwanzig Jahren Krieg gegen die ugandische Armee führt. Seitdem hat die LRA unter Kony geschätzt zwischen 30.000 und 60.000 Kinder verschleppt. Die genaue Zahl ist unbekannt, die Straftaten Konys sind es nicht: Im Jahr 2005 wurde ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof (ICC) gegen den Warlord erlassen. Zu den 33 Punkten der Anklage zählen unter anderem Mord, Versklavung, Vergewaltigung, Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Plünderung und die Zwangsrekrutierung von Kindern.
Seit gestern ist Joseph Kony, jedenfalls vorübergehend, einer der bekanntesten Männer im Internet. Zu verdanken hat er es der Kampagne KONY 2012. Sie möchte ihn berühmt machen, um ihn bis Ende des Jahres hinter Gitter zu bringen. Das Vorhaben ist ambitioniert. Doch die Initiatoren stehen in der Kritik.
Hinter dem Projekt stecken mit Jason Russell und Laren Poole zwei amerikanische Filmemacher. Sie reisten 2003 das erste Mal nach Afrika, um den Völkermord in Darfur zu dokumentieren. Ein Jahr später gründeten sie die Non-Profit-Organisation Invisible Children, mit der sie auf die Entführungen von Kindern in Afrika aufmerksam machen wollen. Seitdem produzieren sie immer wieder Filme und initiieren Projekte wie interaktive Karten. KONY 2012 ist der neuste Versuch, und der mit Abstand erfolgreichste.
Im Mittelpunkt der Kampagne steht ein halbstündiger Film. KONY 2012 erzählt, ausgehend von der Geschichte des jungen Jacob, dessen Brüder in Uganda ums Leben kamen, die Hintergründe von Joseph Kony und der LRA. Es ist weniger ein Dokumentar- als ein Imagefilm, dessen geschickt eingestreute Dokumentaraufnahmen und Interview-Passagen über eine gewisse Selbstinszenierung der Regisseure hinwegtrösten. Die sind von der Tragkraft der Internets überzeugt: „Die Technologie, die unsere Welt zusammengebracht hat, hilft uns auf die Probleme unserer Freunde zu reagieren“, sagt Russell.
Es liegt vor allem an der Emotionalität des Themas, wieso KONY 2012 im Netz etwas bewegt, das selbst die Occupy-Bewegung in dieser Form nicht schaffte. Binnen 48 Stunden hat der Film mehr als sieben Millionen Views auf Vimeo bekommen, mehr als fünf Millionen auf YouTube und mehr als eine Million Likes auf Facebook. Zwischenzeitlich waren die Themen „Uganda“, „Invisible Children“ und „Kony 2012“ gleichzeitig unter den Trending Topics auf Twitter. Persönlichkeiten wie Stephen Fry, Zooey Deschanel und Rihanna twitterten das Projekt – ungefragt – an Zehntausende ihrer Fans weiter.
Am 20. April soll die Kampagne dann auch in die Offline-Welt übergreifen. In vielen großen Städten sollen Tausende Poster und Sticker (die es im passenden Onlineshop zu kaufen gibt) angebracht werden.
Ambitioniert ist auch das Ziel, Kony zu fassen. Seit der Anklage des ICC im Jahr 2005 versuchen es die Behörden vergeblich. Eine richtige Infrastruktur in Uganda und dem benachbarten Kongo gibt es nicht, Zeugen sind rar, und selbst die Armee traut sich nur selten in die Gebiete der LRA. Zwar hat die US-Regierung im Rahmen des Northern Uganda Recovery Acts vergangenen Herbst Truppen nach Zentralafrika geschickt, aber eine Erfolgsmeldung gibt es bis heute nicht; sollte Kony überhaupt noch leben oder im Land sein, ist er weiterhin auf freiem Fuß.
Kritik wird laut
Und dann wären da noch die Hintergründe der Initiatoren. Denn tatsächlich kritisieren viele die Arbeit von Invisible Children. So wird immer wieder die Spendenpolitik der Organisation hinterfragt: Im vergangenen Jahr steckten sie lediglich ein Drittel der eingenommenen acht Millionen US-Dollar in Aufbauhilfe in Uganda – recht wenig für eine Hilfsorganisation. Der Rest floss in die Organisations-, Film- und Lobbyarbeit. Darüber hinaus lassen die Verantwortlichen wenig Zweifel daran aufkommen, dass sie eine militärische Aktion gegen die LRA (und damit zusätzliche Opfer) in Kauf nehmen und die ugandische Armee unterstützen, die ihrerseits nicht frei von Vorwürfen ist. Auf Bildern posieren sie mit Waffen vor Soldaten. Die politische Agenda der Macher ist daher zumindest fragwürdig. (Update: Die Macher reagierten inzwischen auf die Vorwürfe, erklären die Entstehung des Bildes und legen ihre Spendenausgaben offen.)
Einige Experten kritisieren zudem die Einseitigkeit der Aktion. Sie glauben, dass die Verhaftung Joseph Konys kaum etwas ändern wird. Schließlich ist die Situation in Uganda weitaus komplexer, als es die Macher von KONY 2012 anklingen lassen. Auch die Vorgehensweise der ugandischen Regierung und ihrer Bündnispartner, inklusive der USA, hat Kritik auf sich gezogen. All das sind ernstzunehmende Punkte, die im Rahmen der positiven Resonanz im Netz schnell untergehen.
Ist KONY 2012 deswegen gescheitert?
Nicht unbedingt. Vielleicht sollte man an dieser Stelle die persönlichen Motive der Macher von der grundlegenden Idee trennen. Musa Okwonga, dessen Familie aus Uganda stammt, fasst im Blog des britischen Independent die Meinung vieler Internetnutzer zusammen:
I understand the anger and resentment at Invisible Children’s approach, which with its paternalism has unpleasant echoes of colonialism. I will admit to being perturbed by its apparent top-down prescriptiveness, when so much diligent work is already being done at Northern Uganda’s grassroots. On the other hand, I am very happy – relieved, more than anything – that Invisible Children have raised worldwide awareness of this issue. […] I don’t think that Invisible Children are naive. My hunch – and hope – is that they see this campaign as a way to encourage wider and deeper questions about wholly inadequate governance in this area of Africa.
„Awareness“, Bewusstsein, ist das Stichwort. Sieht man über die erwähnten Unstimmigkeiten hinweg und KONY 2012 als einen Versuch, ein größeres und gerade in den westlichen Medien häufig vergessenes Thema wieder in die Öffentlichkeit zu rücken, quasi als einen „Test der globalen Internetkultur“ (Wired), ist das Projekt durchaus ein Erfolg: Neben den zahlreichen, sicherlich auch reflexartigen Unterstützern sind es gerade auch die kritischen Stimmen, die zeigen, wie das Internet auch komplexe Themen differenziert und reflektiert. Diese Auseinandersetzung ist wichtig. Am Ende liegt es, wie immer, an jedem selbst, sich darüber hinaus zu informieren und die Sachlage abzuwägen.
Die Kampagne muss (und kann), ebenso wenig wie Social Media, nicht alleine „die Welt verändern“, wie es die Macher proklamieren. Aber die Aufmerksamkeit der Massen ist immer ein Anfang, um überhaupt etwas zu bewegen, wenn die Gelegenheit kommt. Und Aufmerksamkeit hat das Projekt bekommen: Joseph Kony und seine Taten dürften jetzt mehr Menschen kennen als zuvor.
Wer sich am Ende inspiriert fühlt, für die Kinder und Menschen in Uganda zu spenden, kann das im Übrigen auch abseits von Invisible Children tun. Zum Beispiel hier:
Update 18:30: Der Guardian hat im Verlauf des Tages in einem Live-Blog zahlreiche Stimmen zu KONY 2012 eingefangen. Sehr lesenswert!