Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Der Fall Matthew Cordle: YouTube als Beichtstuhl

 

Die Stimme ist tief und verzerrt. „Ich habe einen Mann getötet“, sagt sie. Ein verpixelter Kopf erscheint, dann zwei tätowierte, vernarbte Arme. „Ich habe viel getrunken und bin in meinen Truck gestiegen. Ich kam in den Gegenverkehr und habe ein Auto erwischt.“ Langsam steigert sich die Musik. „Die Anwälte sagen, sie könnten meinen Bluttest nichtig machen. Ich würde durchkommen. Ich müsste nur lügen. Doch diesen Weg werde ich nicht gehen.“

Dann blicken die Zuschauer in das unverpixelte Gesicht eines jungen Mannes. „Mein Name ist Matthew Cordle“, sagt dieser, „und am 22. Juni 2013 habe ich Vincent Canzani getötet. Dieses Video ist mein Geständnis.“

Der dreieinhalbminütige Clip wurde am 3. September auf YouTube geladen. Doch erst am Ende vergangener Woche wurde er entdeckt und verbreitet sich seitdem rasant, nachdem unter anderem CNN und die Washington Post die Geschichte aufgriffen.

Cordle schildert sie so: Nach einem feuchtfröhlichen Abend mit seinen Kumpels setzt sich der 22-jährige aus Ohio in den Morgenstunden des 22. Juni in sein Auto und fährt nach Hause. Dabei gerät er auf die falsche Straßenseite und rammt das Auto des 66-jährigen Vincent Canzani. Dieser stirbt noch am Unfallort. Cordle kommt ins Krankenhaus, wird vernommen – und anschließend wieder freigelassen. Bis heute wurde er nicht angeklagt.

Das könnte sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft nun ändern. Sie habe das Video vergangene Woche gesehen und plane noch diese Woche eine Anklage Cordles wegen fahrlässiger Tötung. „Ich werde auf schuldig plädieren“, sagt Cordle im Video und bittet alle Zuschauer, niemals betrunken Auto zu fahren.

Eine mutige Tat oder Inszenierung?

Eine eindringliche Nachricht. Doch das Geständnis sorgt für Diskussionen. In den Kommentaren auf YouTube loben viele Cordles Mut, sich seine Fehler einzugestehen und somit ein positives Beispiel für andere zu geben. Andere Nutzer sind kritischer. Sie vermuten hinter dem Video eine versteckte Agenda. Einen Versuch, durch die öffentliche Reue ein milderes Strafmaß zu bekommen.

Tatsächlich ist das Video in mehrfacher Hinsicht problematisch. Da wäre zum einen die professionelle Aufmachung. Der Clip ist in Kooperation mit dem gemeinnützigen Projekt Because I Said I Would entstanden. Wie dessen Gründer Alex Sheen sagt, habe Cordle ihn über Facebook kontaktiert und sie hätten das Video anschließend gemeinsam aufgenommen. Sheen sagt auf Facebook, dass er Cordle deshalb nicht als einen Helden sehe. Er müsse für seine Tat die Schuld tragen und wolle mit dem Video bloß auf die Gefahren des betrunkenen Autofahrens hinweisen. In „Erinnerung an Vincent Canzani“, wie es heißt.

Darin liegt das zweite Problem. Matthew Cordles Entscheidung, sich seiner Tat zu stellen, ist zweifelsfrei richtig. Die Entscheidung, nicht erneut direkt zur Polizei zu gehen – die ihn ja bereits als Hauptverdächtigen führten – sondern das Geständnis präventiv öffentlich im Netz zu machen, ist zumindest fragwürdig.

Denn mit seinem Geständnis zeigt Cordle vor allem, wie YouTube als Plattform instrumentalisiert werden kann. Aus einer fahrlässigen Tötung wird eine Aktion gegen das Autofahren unter Alkoholeinfluss. Aus einem rücksichtslos handelnden Täter ein reumütiges Vorbild, das sich dem Rat seiner Anwälte widersetzt. Der Name des Opfers, der eigentlich gar nicht erwähnt werden müsste, wird plötzlich zum Teil der Kampagne.

Kombiniert mit der orchestralen, fast sakralen Musik und dem plötzlichen Wechsel von Verpixelung zu Klarbild erzählt das Video eine klassische Erlösungsgeschichte, fungiert als eine Art digitaler Ablasshandel. Die Zustimmung gibt es per Daumen-Hoch-Knopf: Mehr als 7.000 YouTube-Nutzer haben das Video bereits positiv bewertet. Es scheint zu funktionieren. Zumindest der Staatswalt Ron O’Brian spricht von einem „überzeugenden Video“ und einem Mann, der „reumütig und ehrlich“ daherkommt.

Und der Einfluss auf die Zuschauer? Ob sich nun reihenweise mutmaßliche Verkehrssünder schuldig bekennen? Wohl kaum. Ob Cordles Video abschreckender wirkt als alle anderen der zahlreichen Don’t-Drink-and-Drive-Kampagnen? Auch das vermutlich nicht. Am Ende dürfte Cordle als der Mann in Erinnerung bleiben, der auf YouTube ein Geständnis abgelegt hat. Und dem nun zwischen zwei und acht Jahren Haft drohen.