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Improv Everywhere: Hosenlose Frechheit

 

Das Team von IE. Dritter von links: Gründer Charlie Todd. (© Brian Fountain)
Das Team von Improv Everywhere. Dritter von links: Gründer Charlie Todd. (© Brian Fountain)

Boxershorts, Slips und Tangas, Feinripp oder Seide, gepunktet oder einfarbig – am vergangenen Wochenende durften die U-Bahn-Passagiere in den Großstädten der Welt wieder Unterwäsche bestaunen. No Pants Subway Ride heißt die jährliche Aktion, in der Freiwillige in der Bahn kollektiv die Hosen runterlassen. Ins Leben gerufen hatte sie im Jahr 2002 die New Yorker Performance-Gruppe Improv Everywhere.

Die feiert aber nicht nur die 13. Ausgabe der hosenlosen U-Bahnfahrt, sondern in der gerade online erschienenen Dokumentation We Cause Scenes auch die eigene Erfolgsgeschichte. 1,6 Millionen Abonnenten und über 340 Millionen Abrufe hat Improv Everywhere inzwischen auf YouTube. Die Truppe gilt als Vorreiter von Self-Made-Comedy und viralen Videos im Netz. Und auch wenn sie den Begriff des Flashmobs nicht erfanden, so waren ihre Aktionen maßgeblich an dessen Verbreitung beteiligt.

Anfänge unter Freunden

Charlie Todd mag das Wort Flashmob trotzdem nicht; zu inflationär gebraucht sei es heutzutage. Der Mittdreißiger ist der Gründer und kreative Kopf von Improv Everywhere. Todd spricht bei seinen ausgeklügelten Aktionen viel lieber von „Missionen“, ausgeführt von unzähligen freiwilligen „Agenten“, die sich vor der Kamera allzu gerne zum Obst machen.

Die Idee für Improv Everywhere kam, wie so oft, beim Bier: An einem Augustabend im Jahr 2001 hatten Todd und einige College-Kumpels nach einigen Drinks die Idee, Todd als den Sänger Ben Folds auszugeben. Sie baten ihn um Autogramme und nach und nach näherten sich auch die anderen Gäste. Sie fielen auf den Schwindel herein. Am darauf folgenden Montag registrierte Todd eine Adresse beim Webhoster Geocities und schrieb die Aktion auf. Den Titel der Website dachte er sich spontan aus: Improv Everywhere.

In den nächsten Monaten fanden die Freunde Gefallen an den Streichen (englisch pranks) in der Öffentlichkeit. Mal „hypnotisierten“ sie eingeweihte Menschen im Park und rannten weg, während die Hypnotisierten sich küssten und tanzten. Mal gaben sie sich als Karikaturisten aus und zeichneten miese Werke unwissender Touristen. Es war eine Freizeitbeschäftigung, nicht mehr.

Rekrutierung per Mailingliste

Zur gleichen Zeit belegte Todd Kurse am New Yorker Improvisationstheater Upright Citizens Brigade, und lernte dort mit versteckter Kamera umzugehen und viele comedybegeisterte Menschen kennen. Auf der Website von Improv Everywhere entstand eine Mailingliste. Als die Gruppe im Jahr 2002 dazu aufrief, nach und nach ohne Hose in die U-Bahn zu steigen, als sei es das Normalste auf der Welt, kamen immerhin sechs Freiwillige. Am vergangenen Wochenende waren es 4.000 – allein in New York.

Der No Pants Subway Ride war die erste Aktion von Improv Everywhere, bei der fremde Menschen aufgrund einer einfachen E-Mail spontan mitmachten. Als der Journalist Bill Wasik im Sommer 2003 mit dem Mob Project erstmals den Begriff Flashmob nutzte, hatte Improv Everywhere bereits ein Jahr Vorsprung. Sie führten Choreografien in Musikläden auf, spielten als U2 verkleidet auf dem Dach gegenüber der Konzerthalle und erfanden das MP3-Experiment, bei dem alle Mitmachenden gleichzeitig eine MP3-Datei mit Instruktionen abspielen – eine Aktion, die inzwischen in Städten weltweit aufgeführt wurde.

Durchbruch dank YouTube

Improv Everywhere entwickelte sich zum New Yorker Untergrundphänomen. Doch die nationale Aufmerksamkeit fehlte den Machern. Das änderte sich im April 2006, als Todd den YouTube-Kanal von Improv Everywhere registrierte. „Wir hatten einen gewissen Wettbewerbsvorteil“, sagt Todd, „denn wir hatten bis dato fast alle Aktionen mit der Kamera aufgenommen und konnten von Anfang an auf dieses Archiv zurückgreifen.“

Der Erfolg kam prompt: Innerhalb weniger Monate hatten Improv Everywhere mehrere virale Videos im Netz, Artikel in Zeitungen wie der New York Times und schließlich das Angebot, eine Pilotfolge für eine Show auf dem TV-Sender NBC zu drehen. Aus der Serie wurde am Ende nichts, doch die vier Missionen, die Improv Everywhere gemeinsam mit NBC drehte, waren ein Hit im Netz.

Vor allem eine Aktion ist legendär: Rund 200 Menschen versammelten sich in der Eingangshalle der Grand Central Station und verharrten zur gleichen Uhrzeit für fünf Minuten in der gleichen Pose. Mit über 33 Millionen Abrufen ist das Video zu Frozen Grand Central bis heute das erfolgreichste der Gruppe – ein Klassiker des Flashmob-Genres.

Für Charlie Todd war die Sache allerdings „ein zweischneidiges Schwert“. Da die Produktionsqualität höher war als bei den vorangegangenen Videos, stiegen die Erwartungen der Fans. Todd musste sich entscheiden: Wollte er weiter mit der Do-it-Yourself-Wackelkamera arbeiten? Oder sollte er Improv Everywhere technisch und inhaltlich auf die nächste Stufe heben?

Die Antwort ist bekannt: Seit 2008 reist Todd regelmäßig mit Improv Everywhere um die Welt. In der Zwischenzeit denkt er sich neue pranks aus, plant akribisch die richtigen Orte und Zeitpunkte. Denn längst gilt es, statt einem Dutzend ein paar hundert Menschen zu koordinieren. Zur Belohnung schaffen es die Aktionen regelmäßig in die großen Blogs und Medien. Auch weil sie auch nach 13 Jahren immer wieder kreativ sind. So stellte die Gruppe in den vergangenen Monaten Szenen aus Filmen wie Indiana Jones, Rocky oder Harry Potter an öffentlichen Plätzen nach und ließ dabei unter anderem Gandalf den Zauberer durch den Park flitzen.

Die Idee der vernetzten Comedy

Ob der Erfolg ohne das Internet und YouTube möglich gewesen wäre? Charlie Todd glaubt es nicht. Zum einen war es für ihn erst durch YouTubes Partnerprogramm möglich, Improv Everywhere sowohl hauptberuflich als auch unabhängig zu führen. Vielen aufstrebenden Comedians geht es ähnlich: Inzwischen hat die Plattform die verrauchten Comedy-Klubs abgelöst, und die Prank-Videos bilden ein erfolgreiches eigenes Genre auf YouTube.

Zum anderen steckt hinter dem Projekt seit jeher das Konzept einer „vernetzen Comedy“, die die Menschen zusammenbringt, um für Spaß zu sorgen. Was lange vor Facebook und Twitter in Foren und Mailinglisten begann, konnte durch den Aufschwung der Webvideos auch Menschen begeistern, die nicht zufällig bei einem der pranks vor Ort waren. Und je mehr Fans der Kanal hatte, desto schneller wuchs die Beteiligung. Heute kann Todd mit einer einzigen E-Mail Tausende Menschen mobilisieren.

Eine Anekdote erzählt Todd zum Abschluss der Dokumentation We Cause Scenes, die stellvertretend für Improv Everywhere steht: Als er das Video des ersten No Pants Subway Ride auf YouTube stellte, meldete sich wenig später die junge Frau, die in dem Video die unwissentliche Hauptrolle einnimmt. Nach mehr als fünf Jahren wusste sie endlich, was an diesem Tag in der U-Bahn geschah, und was sie all die Jahre ihren Freunden erzählt hatte. „Das ist genau das, was wir mit Improv Everywhere erreichen möchten“, sagt Todd, „dass die Menschen mit einer schönen Geschichte nach Hause gehen.“