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Wie der NSU-Prozess zerbröselt

 

Immer mehr Zeugen, immer schrillere Töne: Bleibt der Terrorprozess als Strafverfahren in Erinnerung – oder als Untersuchungsausschuss? Für die Aufklärung im Gericht schwindet das Verständnis.

Die Nachricht war fast eine Erlösung: Ab Mitte Januar wollen die Richter im NSU-Prozess den Sprengstoffanschlag in der Kölner Keupstraße behandeln, wie am Dienstagabend bekannt wurde. 22 Menschen wurden 2004 bei dem Attentat durch eine Nagelbombe verletzt, gezündet mutmaßlich durch die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Rund anderthalb Jahre lang mussten die Opfer seit Prozesseröffnung warten, bis nun ihr Fall vor dem Münchner Oberlandesgericht behandelt wird – länger als alle anderen, die von den Morden und Anschlägen der Zwickauer Zelle betroffen sind.

Sie sind nicht die einzigen, die warten. Gedulden müssen sich auch Bankangestellte und ihre Kunden, Opfer der Raubüberfälle, die Mundlos und Böhnhardt für den Lebensunterhalt des NSU-Trios verübten. Es sind traumatisierte Menschen, die zwar überlebt haben, aber bis heute mit den Nachwirkungen einer Extremsituation leben müssen.

Wann kommen sie zu ihrem Recht? Eine Antwort darauf kann derzeit niemand sicher geben. Der sechste Strafsenat unter Leitung von Richter Manfred Götzl kümmert sich gerade um den umfangreichsten Komplex von allen: die mutmaßlichen Unterstützer und Mitwisser des Trios. Ein wichtiger Bestandteil der Aufklärung. Doch auch einer, der das Verfahren derart lähmt, dass selbst die Opfer den Sinn dieser juristischen Durchleuchtung mittlerweile infrage stellen müssten. So stand am Mittwoch, 169. Verhandlungstag, zum zweiten Mal die Rechtsextreme Antje B. aus Sachsen im Zeugenstand.

1998 flüchteten Beate Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt vor der Polizei in den Untergrund – es war der Auftakt einer Serie aus zehn Morden, zwei Anschlägen und 15 Überfällen, die erst mit der Enttarnung des NSU im November 2011 endete. Kurz nach dem Untertauchen soll B. vorgehabt haben, Zschäpe ihren Reisepass zu überlassen. Dass sie es tat, ist bisher nicht bewiesen. Auch nicht, dass sie dies geplant hätte.

So geht es in den vergangenen Monaten immer wieder um: Zeugen, die einmal in Kontakt mit Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gestanden haben könnten und ihnen vermutungsweise beim Leben in der Anonymität halfen. Im November sagte ein Neonazi und V-Mann aus, der die drei gar nie getroffen hatte, sondern nur einen anderen V-Mann, den Thüringer Tino Brandt, der das Trio eben auch nur eventuell unterstützt hatte. Olaf Klemke, Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, warf dem Gericht daraufhin vor, es verrenne sich in „Nebenkriegsschauplätzen“.

Aktuell forscht der Strafsenat nach möglichen Kollaborateuren aus den Reihen der militanten Neonazi-Organisation Blood & Honour, deren sächsischen Ableger Antje B. mitgegründet haben soll. Zeugen wie sie sind nicht in der Anklageschrift erwähnt. Erst im Laufe des Prozesses beantragten Anwälte der Nebenkläger die massenweise Ladung von Unterstützerzeugen.

Motivation dahinter ist der Wille nach Aufklärung für ihre Mandanten – Opfer und Angehörige der NSU-Taten. Das haben die Anwälte vor Prozessbeginn immer wieder betont. Doch der Prozess erlahmt zusehends durch die Zeugen, die sich immer wieder für sehr vergesslich erklären oder ihr Wirken in der rechten Szene verklären.

Bei den anderen Prozessbeteiligten schwindet das Verständnis für die nicht enden wollenden Zeugenladungen – die Wut entlud sich am Mittwoch in schrillen Tönen, als Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann die Zeugin befragte: Einige der Anwälte missbrauchten das Verfahren als „Ermittlungsbühne“, erboste sich Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl.

Ungewohnter Beistand kam von einem Vertreter der Anklage, dem Bundesanwalt Herbert Diemer: „Blood & Honour ist nicht Gegenstand der Anklage“, polterte er. Anspruch auf Aufklärung hätten „die wirklich Verletzten, nicht die politisch Verletzten“. Hoffmann schrie danach durch den Saal: „Das muss ich mir von Herrn Diemer nicht gefallen lassen! Das ist eine Beleidigung gegen meine Mandantin!“

Scharmützel wie dieses zeugen davon, dass manche Prozessparteien der Ermittlungen im rechtsextremen Umfeld mittlerweile müde sind. Für das Verfahren ist das eine Krise: So zerbröselt der eigentliche Sinn des Prozesses, der die Angeklagten im Falle eines Schuldspruchs ihren gerechten Strafen zuführen, zum anderen auch die Fragen der Opfer und ihrer Angehörigen beantworten soll.

Wie weit darf sich die Verhandlung von dem Vorwurf entfernen, der in der Anklageschrift geschrieben steht? Wie weit kann und muss Richter Götzl bei seinen Ermittlungen ausholen, während zwei der fünf Angeklagten seit drei Jahren in Untersuchungshaft sitzen? Vorsorglich setzte er Anfang Dezember neue Prozesstage bis 2016 an.

Die Befragungen, die bis dahin stattfinden, sind Tagesgeschäft für die Juristen, die dreimal in der Woche im Verhandlungssaal sitzen. Für die Betroffenen der Terrorserie sind sie jedoch eine andere Welt. Von ihnen lässt sich kaum noch jemand im Gericht blicken.