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Schweigen wäre schlauer gewesen – Das Medienlog vom Donnerstag, 10. Dezember 2015

 

Die Opfer des NSU und deren Anwälte sind empört – und wohl doch wenig überrascht: Beate Zschäpes Aussage (hier in unserem Live-Blog dokumentiert) war ein einziges Ausweichen. Zschäpe stellte sich als Opfer der Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dar, von deren Morden sie immer erst hinterher erfuhr – eine offenbar taktisch motivierte Einlassung. „So viel gespielte Ahnungslosigkeit ist eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen“, kommentiert Marcel Fürstenau von der Deutschen Welle. Die knappe Entschuldigung, die sie wie die gesamte Aussage von ihrem Anwalt Mathias Grasel vortragen ließ, wirke „aufgesetzt angesichts der monströsen NSU-Verbrechen“.

An jedem Werktag sichten wir für das NSU-Prozess-Blog die Medien und stellen wichtige Berichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.

Annette Ramelsberger fasst die Aussage in der Süddeutschen Zeitung als „unlogisch, unglaubwürdig, jämmerlich“ zusammen. Zschäpe habe sich dargestellt „als wäre sie die eingebaute Opposition im NSU gewesen“, weil sie über die Morde immer wieder entsetzt gewesen sein will. Aus Liebe zu den Männern und Angst vor dem Gefängnis will sie jedoch nicht eingegriffen haben. Fraglich ist nur, wieso sie dann nicht zu Beginn des Prozesses im Mai 2013 das Wort ergriff. Ramelsberger schreibt, die Hauptangeklagte habe „zum letzten Strohhalm gegriffen, der ihr blieb – auf keinen Fall will sie als Mittäterin verurteilt werden“.

Die Chancen dafür stehen nun jedoch schlechter als zuvor, meinen wir von ZEIT ONLINE: Mit ihren Verteidigern versuchte Zschäpe, „auf bequeme Weise an einen Strafrabatt zu kommen: keine Unterstützer nennen, kein Geständnis riskieren, keine Verantwortung übernehmen“. Die Aussage war demnach „ein juristisches Himmelfahrtskommando“. Zschäpes Argumentation sei nicht einmal dann überzeugend, wenn man annehme, sie sei wahr, schreibt ZEIT-Autorin Özlem Topçu: „Dass ein Mensch das kann, obwohl er die Taten abscheulich findet, schockiert und entsetzt ist darüber, ist nicht sehr plausibel.“ Es sei kaum möglich, die Taten „an einen Ort im hintersten Winkel von Herz und Gehirn zu verschieben“.

Patrick Gensing von tagesschau.de vergleicht Zschäpe, wie sie sich in der Aussage dargestellt habe, mit einem Abziehbild: „Der Erklärung zufolge ist die Persönlichkeit von Beate Zschäpe exakt die Summe von sämtlichen gängigen Klischees über Frauen“ – die Rechtsextremistin als Anhängsel der beiden Uwes. Sie selbst, sagte sie, sei nicht Mitglied des NSU gewesen, eine solche Gruppe sei auch nicht gegründet worden. Die Selbstdarstellung passe nicht zu den Aussagen zahlreicher Zeugen, die im Laufe des Prozesses ausgesagt hatten. Auch Jost Müller-Neuhof vom Tagesspiegel findet, „dass ihr Zutun kaum jene Muster überdecken kann, die nach langen Zeugenverhören erkennbar wurden“.

Die Realität und die von Zschäpe samt Anwälten formulierte Version davon klaffen bemerkenswert auseinander – nicht nur, weil so viele Punkte offenblieben, sondern weil etliche Punkte schlicht nicht zu den Belegen passen, die im Prozess präsentiert wurden. Ungereimtheiten in der Aussage stellt Jörg Diehl von Spiegel Online heraus. Aus anwaltlicher Sicht wäre es vermutlich klüger gewesen, diese Punkte schlicht unbeantwortet zu lassen. Dementsprechend hätten Zschäpes alte drei Verteidiger Wolfgang Stahl, Wolfgang Heer und Anja Sturm während der Aussage immer fassungsloser gewirkt, beobachtet Wiebke Ramm auf Spiegel Online: „Sie wollten, dass Zschäpe schweigt. Angesichts der Einlassung ahnt man, warum sie das für die bessere Strategie hielten.“

„Ja, eine mit Lügen versetzte Entschuldigung verkehrt sich in ihr Gegenteil“, kommentiert Markus Decker vom Kölner Stadtanzeiger. Da sie auf diese Weise bereits angenommene Charakterzüge bestätigte, habe sie „der Wahrheitsfindung auf verschlungene Weise gedient, ganz ohne es zu wollen“.

Tim Aßmann vom Bayerischen Rundfunk vergleicht die Zschäpe-Darstellung mit ihren bisherigen Auftritten vor Gericht: „Doch dieses Bild von der fremdbestimmten Frau, es will so überhaupt nicht passen zu dem Profil von Beate Zschäpe, das sich im Verlauf der 248. Verhandlungstage vor der Erklärung herauskristallisierte.“ Es entstehe „nicht der Eindruck einer Mitläuferin, sondern der einer durchaus selbstbestimmten Person“. Das Gericht müsse sich in seiner Bewertung zwischen zwei Zschäpe-Bildern entscheiden.

„Sowieso kam die Erklärung erst, nachdem die meisten Vorwürfe bewiesen wirken. Und dass sie nur ihren Anwalt sprechen ließ und keine Nachfragen der Opfer und der Ankläger erlauben will, mindert den Wert ihrer angeblichen Aussage zusätzlich“, meint Martin Debes von der Thüringer Allgemeinen. Die Erklärung lese „sich in Teilen wie ein Groschenroman“.

Einen treffenden Kommentar zur Aussage gibt das Satiremagazin Der Postillon ab, das feststellt, dass Zschäpe wegen ihrer angeblichen Anti-Haltung zu den Morden „nicht nur unschuldig sei, sondern ein rund 15-jähriges Martyrium in der Gewalt zweier diabolischer Neonazis erleiden musste“. Zschäpe sei heiliggesprochen worden.

Wer sich von der 53-seitigen Erklärung selbst ein Bild machen möchte, kann sie im Wortlaut nachlesen.

Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, 11. Dezember 2015.