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Richter fragen nach der Reife – das Medienlog vom Donnerstag, 9. Juni 2016

 

Zum zweiten Mal hat das Gericht am Mittwoch den psychiatrischen Gutachter Norbert Leygraf angehört, der ein Gutachten über den Mitangeklagten Carsten S. erstellt hatte – den mutmaßlichen Überbringer der NSU-Mordwaffe Ceska 83. Insbesondere ging es um die Frage, ob S., der zum Zeitpunkt des Waffentransports 20 Jahre alt war, wegen Reifedefiziten nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden kann.

Die Verteidiger des ebenfalls angeklagten Ralf Wohlleben, der S. laut dessen Aussage mit dem Kauf der Pistole beauftragt haben soll, würden dies wohl verneinen. „Sie dürften darauf hinaus wollen, dass Carsten S. keineswegs die Hilfe von Wohlleben gebraucht hätte, um eine Waffe zu besorgen. Die erhoffte Antwort bekommen sie von Leygraf jedoch nicht“, berichtet Wiebke Ramm auf Spiegel Online.

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Wohllebens Verteidiger gaben „sich redlich Mühe, die Aussage von Carsten S. zu entkräften“, schreibt die Autorin. Denn S. zufolge hatte Wohlleben ihm das Geld für die Pistole gegeben. Dieser hingegen belastete in seiner Aussage den Szenekameraden Tino Brandt – woran dieser sich am Dienstag jedoch nach eigenen Angaben nicht erinnern konnte.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse des Gutachters: S. war reif genug, seinen Alltag zu bewältigen, in anderen Bereichen hingegen unterentwickelt. Leygraf ließ wissen, „dass die innere Reife und die Fähigkeit, im Alltag zu bestehen, nicht zusammenhängen“, wie es in einem Bericht von Annette Ramelsberger in der Süddeutschen Zeitung heißt. Insofern dürften viele Argumente der Wohlleben-Verteidiger nicht verfangen: Sie wollten Widersprüche daraus ableiten, dass S. bei einigen Tätigkeiten in der rechten Szene viel Verantwortung übernommen hatte, etwa, als er einen Bus für die Fahrt zu einer Demonstration mietete.

Angesichts der zuletzt großen Eile im Prozess sei die Vernehmung von Leygraf erstaunlich gewesen, findet Oliver Bendixen vom Bayerischen Rundfunk. Seine Ladung lasse „Zweifel daran aufkommen, dass es das Gericht wirklich so eilig hat, obwohl das Beschleunigungsgebot angesichts von zwei inhaftierten Angeklagten immer wieder thematisiert wird“. Der Gutachter habe vieles vorgetragen. Daraufhin fühlte sich Wohllebens Verteidiger Olaf Klemke bemüßigt, Leygraf mit teils bizarren Fragen „auf ziemlich unwürdige Weise bloßzustellen“. Nur: „Seinem Mandanten wird es nichts nutzen – eher im Gegenteil.“

Das nächste Medienlog erscheint am Freitag, 10. Juni 2016.