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Störfeuer von der Anklagebank

 

Im NSU-Prozess sollen die Plädoyers der Opferanwälte beginnen. Doch ein Angeklagter ist fest entschlossen, das Verfahren platzen zu lassen. Wer wird sich durchsetzen?

Was ist das gute Recht eines Angeklagten? Und wann geht es nur noch darum, einen Strafprozess zu torpedieren? Im NSU-Verfahren drängt sich diese Frage mittlerweile auf. Das Terrorverfahren in München ist so weit heruntergebremst, dass es beinahe zum Erliegen kommt. Gerade erst ist eine dreiwöchige Pause zu Ende gegangen – mehrere Prozesstage waren wegen Befangenheitsanträgen durch Angeklagte ausgefallen.

Die meisten Prozessbeteiligten hofften, diese Lähmung sei überwunden. Vieles sprach dafür, dass in Kürze die Opferangehörigen und ihre Anwälte die Plädoyers halten können – mehr als einen Monat, nachdem die Bundesanwaltschaft ihre Forderungen gegen die Angeklagten gestellt hat. Doch möglicherweise dauert das Warten noch länger.

Wie konnte das passieren? Da kommt sie wieder ins Spiel, die Frage nach dem guten Recht. Insgesamt acht Befangenheitsanträge gegen die Richter lagen am Ende des letzten Prozesstags vor, zwei weitere waren angekündigt. Sie stammten von den Verteidigern der Mitangeklagten André E. und Ralf Wohlleben. E., dessen Anwalt Michael Kaiser den Großteil der Gesuche eingereicht hatte, soll nach dem Willen der Bundesanwaltschaft wegen Beihilfe zum versuchten Mord für zwölf Jahre ins Gefängnis. Weil das Gericht seitdem fürchtet, E. könnte flüchten, wurde er in Untersuchungshaft genommen.

Ganz offensichtlich versucht sein Anwalt nun, das Verfahren zum Platzen zu bringen. Vor dem letzten Termin hatte das Gericht exakt so lange pausiert, wie es die Strafprozessordnung zulässt: drei Wochen. Einen Tag mehr, und der Prozess hätte von Neuem begonnen werden müssen. Während der Unterbrechung und darüber hinaus prüften andere Richter am Oberlandesgericht, ob die Befangenheitsvorwürfe zutreffen. Es folgten: weitere Ablehnungsanträge und noch mal drei Wochen Pause.

Nun, am Dienstag, gab Richter Manfred Götzl das Ergebnis bekannt: Die Richter gelten nicht als befangen, das Verfahren kann weitergehen. Oder besser: könnte.

Denn so wie Götzl hochentschlossen ist, den seit viereinhalb Jahren mäandernden Prozess zum Ende zu bringen, so sehr sind André E. und sein Verteidiger offenbar motiviert, das Unmögliche zu vollbringen: eine derart lange Unterbrechung zu provozieren, dass das NSU-Verfahren doch noch scheitert.

Für die nötigen Störmanöver ist Anwalt Kaiser sogar bereit, seinen Mandanten als leicht minderbemittelt darzustellen: Als das Gericht den Beschluss austeilen ließ, mit dem die anderen Richter die Befangenheitsanträge abgelehnt hatten, beantragte Kaiser eine Vertagung des Verfahrens um einen Tag. Weil es seinem Mandanten nicht gelungen sei, die 20 Seiten durchzulesen. Ihm, dem seit gut einem Monat Inhaftierten, fehle angeblich die Konzentration. Er müsse jeden Satz drei- bis viermal lesen.

Ein Angebot von Richter Götzl, einfach für einige Stunden zu unterbrechen, schlug der Anwalt aus. E. benötige die Ruhe seiner Gefängniszelle und frische Luft.

„Wenn das in der Geschwindigkeit weitergeht, müssten wir mehrere Wochen unterbrechen“, entgegnete Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten. Die Entscheidung darüber, blaffte Weingarten, liege dank der Strafprozessordnung jedoch nicht im „Ermessen eines schwerfällig lesenden Angeklagten“. Zudem sei es Aufgabe der Verteidiger, dem Angeklagten den Inhalt der Dokumente zu erklären.

Zum Hintergrund: In den Jahren vor seiner Inhaftierung hatte E. mit dem Enthusiasmus einer Zimmerpflanze im Gerichtssaal gesessen. Er war so teilnahmslos, dass es höchst zweifelhaft erschien, dass er überhaupt einmal irgendein Schriftstück überflog. Und nun muss er sich jeden Satz gewissenhaft durchlesen?

Viel deutlicher drängt sich der Eindruck auf, Anwalt Kaiser wolle Zeit gewinnen, um den nächsten Befangenheitsantrag vorzubereiten. Dann stünde die nächste Verzögerung an. Eine weitere Beratungspause. Ein Spiel, das sich theoretisch endlos ausdehnen lässt.

Ob es E. und sein Verteidiger wirklich so weit treiben wollen, ist noch nicht klar. Ließen sie ihren Kampf gegen das Gericht zumindest ruhen, könnten die Angehörigen der Opfer schon morgen mit ihren Schlussvorträgen beginnen.