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Die Stimme der Opfer

 

Im NSU-Verfahren hat das Plädoyer der Nebenklage mit einem emotionalen Vortrag geendet. Bis zur Urteilsverkündung dürften es nur noch wenige Wochen sein.

Die Stimme von Yvonne Boulgarides ist stark und klar. Sie hat eine hellblaue Bluse an und trägt selbstbewusst jene Fragen vor, auf die sie bis heute keine Antwort bekommen hat. Nicht vom Verfassungsschutz und auch nicht von den Polizisten, die nach dem Mord an ihrem Mann die Ermittlungen führten: Theodoros Boulgarides, erschossen am 15. Juni 2005 in seinem Münchner Schlüsselgeschäft, ist das siebte Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe NSU.

Nur am Ende ihres kurzen Vortrags bebt ihre Stimme, sie muss Luft holen, dann beginnt sie zu weinen. „Ich weiß, dass mein Mann gern gesehen hätte, wie seine kleinen Töchter zu Frauen herangewachsen sind. Wie gern er seine Mädchen zum Traualtar geführt hätte oder wie stolz er gewesen wäre, als seine Enkeltochter geboren wurde“, sagt sie.

Es ist der emotionale Schlusspunkt der Plädoyers der Nebenkläger im NSU-Prozess. 94 Angehörige der Mordopfer und Verletzte der Bombenanschläge nehmen an dem Verfahren teil. Nach fast fünf Jahren Verhandlungsdauer hatten sie in den vergangenen drei Monaten Gelegenheit, selbst ihre Stimme zu erheben. Nur wenige äußerten sich aber selbst – die meisten ließen ihre Anwälte sprechen. Kurz vor dem Urteil war es eine Mahnung, an die Richter, an die Öffentlichkeit: Vergesst uns nicht! Und es war auch ein Signal an die Angeklagten: Wir sind die, denen ihr wehgetan habt. Doch wir sind immer noch hier.

Was zur Schuld der Angeklagten zu sagen war, hatte die Bundesanwaltschaft mit ihrem Plädoyer abgedeckt. Die Anwälte der Opfer kümmerten sich um die dunklen Ecken des NSU-Komplexes: Sie kritisierten die Ermittler, weil sie deren Arbeit für rassistisch geprägt hielten, den Staat für das unsägliche Wirken seiner V-Männer und Verfassungsschutzbeamten. Kritik, die sie auch während des laufenden Verfahrens immer wieder äußerten.

Bundesanwalt Herbert Diemer griff die Nebenklage zu Beginn des Anklageplädoyers deshalb mit heftigen Worten an. „Fliegengesumme“ von „selbsternannten Experten“ nannte er die These, dass der NSU nicht nur aus den drei Mitgliedern Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bestand, sondern größer war.

Für die Opfervertreter war das keineswegs Fantasie. Sie brachten Beweisanträge ein, mit denen sie das rechtsextreme Umfeld des NSU ausleuchten wollten: frühe Kameraden aus Jena, mögliche spätere Helfer aus der Zeit, in der das Trio in Chemnitz und Zwickau lebte. Hinter den meisten Beweisanträgen steckte gründliche Recherche, viel Einsatz, der nicht vom gerichtlichen Honorar abgedeckt war. Viele Anwälten verausgabten sich geradezu. Wie viel davon Arbeit für das Aufklärungsbedürfnis der Mandanten war und wie viel Teil einer persönlichen politischen Agenda, war nicht immer klar. Es war aber auch nicht entscheidend, so lange die Anträge ihren Platz im Verfahren hatten.

Ob Gesinnungsgenossen der rechten Szene für den NSU Helfer oder Mitglied waren, mag Interpretationssache sein. Und gerade, weil die Antwort nicht sicher ist, gehört in das Verfahren auch die Frage, wie die These, dass der NSU nur aus den drei bekannten Mitgliedern bestand, zustande gekommen ist.

Eine Erklärung lieferte etwa die Anwältin Antonia von der Behrens: Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft hätten eine sorgfältige Aufklärung abseits des bekannten Trios verhindert, um die Verstrickungen des Staates in die NSU-Affäre zu verdecken, argumentierte sie. Grob verkürzt, wohlgemerkt. Die Plädoyers der Anwälte waren genauestens konstruierte, höchst detailreiche Abschlussberichte.

Einen Beweis für eine Beteiligung des Staats, eine direkte oder indirekte Förderung des NSU, hat bislang keiner der Anwälte beigebracht. Und auch über weitere Mitglieder, also neben Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, gibt es bislang nicht mehr als Hinweise und Theorien.

Vielleicht, weil die Beweiserhebung im Prozess nicht weit genug ging?

Yvonne Boulgarides vergleicht das Verfahren in ihrem Plädoyer mit einem „oberflächlichen Hausputz“. Sie berichtet aber auch von berührenden Momenten – etwa einem Treffen des Mitangeklagten Carsten S. mit Familie Boulgarides. S., der zu Prozessbeginn gestanden hatte, dem NSU die Mordpistole Ceska 83 geliefert zu haben. Carsten S. entschuldigte sich. Das Gespräch „war einer der schwierigsten, aber auch einer der emotionalsten Momente in unserem Leben“, berichtet die Witwe.

Es ist das letzte Mal, dass die Opfer in diesem Verfahren Gesicht, Stimme und Aufmerksamkeit bekommen. In der Urteilsbegründung werden die Namen der Toten und Verletzten noch einmal zu hören sein. Dann endet der juristische Weg für sie, wenn – wie im letzten Vortrag des Tages Boulgarides‘ Anwalt Yavuz Narin fordert – ein Urteil zustande kommt, „das auch vor der Geschichte Bestand hat“.

Der Richterspruch ist damit ein entscheidendes Stück näher gerückt. Der letzte Schritt davor sind die Plädoyers der Verteidigung. Zu deren Länge äußerten sich die Anwälte der fünf Angeklagten am Donnerstag: Die Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben werden wohl rund eine Woche brauchen, die Anwälte der anderen drei Mitangeklagten Holger G., André E. und Carsten S. jeweils einen Tag. Für Beate Zschäpe plädieren gleich zwei Anwaltsteams – ihre drei Altverteidiger und die beiden neuen Anwälte. Wie lange dies insgesamt dauern wird, ist noch nicht abzuschätzen.

Dafür legte Richter Manfred Götzl den Beginn der Verteidigungsreden fest: Am 13. März machen Zschäpes neue Anwälte Mathias Grasel und Hermann Borchert den Anfang. Bis zum Urteil dürften es dann nur noch wenige Wochen dauern.