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170. Prozesstag – Gericht untersucht das NSU-Bekennervideo

Es war das Bekenntnis, mit dem sich der NSU im November 2011 enttarnte: das zynische und menschenverachtende Bekennervideo, in dem die zehn Morde thematisiert werden, die heute der Zwickauer Terrorzelle zugeschrieben werden. Bereits zweimal wurde es im Gericht vorgeführt. Nun hört der Strafsenat eine Ermittlerin des Bundeskriminalamts, die den Film untersucht hatte.

Im Video laufen mehrere Hinweise zusammen, die auf Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Schuldige für die zehn Morde der NSU-Serie deuten. So sind darin Zeitungsausschnitte verwendet, die auch in der letzten Wohnung des Trios in Zwickau lagen. Auch werden darin Fotos von Mordopfern gezeigt, die offensichtlich von den Tätern gemacht worden sein müssen. 15 Exemplare des Films soll Beate Zschäpe während ihrer Flucht nach dem Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt verschickt haben.

Zudem ist ein Polizist geladen, der im Jahr 1996 Zschäpe und den Mitangeklagten Ralf Wohlleben vernommen hatte. Sie mussten bei der Polizei im Fall der Bombenattrappe aussagen, die Uwe Böhnhardt an einer Autobahnbrücke nahe Jena platziert haben soll. Zschäpe und Wohlleben gaben ihrem Freund ein Alibi. Für die Tat wurde Böhnhardt verurteilt, später wurde das Urteil aus Mangel an Beweisen aufgehoben. In seiner ersten Vernehmung konnte sich der Ermittler kaum noch an die Befragung von vor 18 Jahren erinnern.

ZEIT ONLINE berichtet aus München und fasst den Prozesstag am Abend auf diesem Blog zusammen. Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Weitere Berichte stellen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Wie der NSU-Prozess zerbröselt

Immer mehr Zeugen, immer schrillere Töne: Bleibt der Terrorprozess als Strafverfahren in Erinnerung – oder als Untersuchungsausschuss? Für die Aufklärung im Gericht schwindet das Verständnis.

Die Nachricht war fast eine Erlösung: Ab Mitte Januar wollen die Richter im NSU-Prozess den Sprengstoffanschlag in der Kölner Keupstraße behandeln, wie am Dienstagabend bekannt wurde. 22 Menschen wurden 2004 bei dem Attentat durch eine Nagelbombe verletzt, gezündet mutmaßlich durch die NSU-Mitglieder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Rund anderthalb Jahre lang mussten die Opfer seit Prozesseröffnung warten, bis nun ihr Fall vor dem Münchner Oberlandesgericht behandelt wird – länger als alle anderen, die von den Morden und Anschlägen der Zwickauer Zelle betroffen sind.

Sie sind nicht die einzigen, die warten. Gedulden müssen sich auch Bankangestellte und ihre Kunden, Opfer der Raubüberfälle, die Mundlos und Böhnhardt für den Lebensunterhalt des NSU-Trios verübten. Es sind traumatisierte Menschen, die zwar überlebt haben, aber bis heute mit den Nachwirkungen einer Extremsituation leben müssen.

Wann kommen sie zu ihrem Recht? Eine Antwort darauf kann derzeit niemand sicher geben. Der sechste Strafsenat unter Leitung von Richter Manfred Götzl kümmert sich gerade um den umfangreichsten Komplex von allen: die mutmaßlichen Unterstützer und Mitwisser des Trios. Ein wichtiger Bestandteil der Aufklärung. Doch auch einer, der das Verfahren derart lähmt, dass selbst die Opfer den Sinn dieser juristischen Durchleuchtung mittlerweile infrage stellen müssten. So stand am Mittwoch, 169. Verhandlungstag, zum zweiten Mal die Rechtsextreme Antje B. aus Sachsen im Zeugenstand.

1998 flüchteten Beate Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt vor der Polizei in den Untergrund – es war der Auftakt einer Serie aus zehn Morden, zwei Anschlägen und 15 Überfällen, die erst mit der Enttarnung des NSU im November 2011 endete. Kurz nach dem Untertauchen soll B. vorgehabt haben, Zschäpe ihren Reisepass zu überlassen. Dass sie es tat, ist bisher nicht bewiesen. Auch nicht, dass sie dies geplant hätte.

So geht es in den vergangenen Monaten immer wieder um: Zeugen, die einmal in Kontakt mit Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gestanden haben könnten und ihnen vermutungsweise beim Leben in der Anonymität halfen. Im November sagte ein Neonazi und V-Mann aus, der die drei gar nie getroffen hatte, sondern nur einen anderen V-Mann, den Thüringer Tino Brandt, der das Trio eben auch nur eventuell unterstützt hatte. Olaf Klemke, Verteidiger des Mitangeklagten Ralf Wohlleben, warf dem Gericht daraufhin vor, es verrenne sich in „Nebenkriegsschauplätzen“.

Aktuell forscht der Strafsenat nach möglichen Kollaborateuren aus den Reihen der militanten Neonazi-Organisation Blood & Honour, deren sächsischen Ableger Antje B. mitgegründet haben soll. Zeugen wie sie sind nicht in der Anklageschrift erwähnt. Erst im Laufe des Prozesses beantragten Anwälte der Nebenkläger die massenweise Ladung von Unterstützerzeugen.

Motivation dahinter ist der Wille nach Aufklärung für ihre Mandanten – Opfer und Angehörige der NSU-Taten. Das haben die Anwälte vor Prozessbeginn immer wieder betont. Doch der Prozess erlahmt zusehends durch die Zeugen, die sich immer wieder für sehr vergesslich erklären oder ihr Wirken in der rechten Szene verklären.

Bei den anderen Prozessbeteiligten schwindet das Verständnis für die nicht enden wollenden Zeugenladungen – die Wut entlud sich am Mittwoch in schrillen Tönen, als Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann die Zeugin befragte: Einige der Anwälte missbrauchten das Verfahren als „Ermittlungsbühne“, erboste sich Zschäpes Verteidiger Wolfgang Stahl.

Ungewohnter Beistand kam von einem Vertreter der Anklage, dem Bundesanwalt Herbert Diemer: „Blood & Honour ist nicht Gegenstand der Anklage“, polterte er. Anspruch auf Aufklärung hätten „die wirklich Verletzten, nicht die politisch Verletzten“. Hoffmann schrie danach durch den Saal: „Das muss ich mir von Herrn Diemer nicht gefallen lassen! Das ist eine Beleidigung gegen meine Mandantin!“

Scharmützel wie dieses zeugen davon, dass manche Prozessparteien der Ermittlungen im rechtsextremen Umfeld mittlerweile müde sind. Für das Verfahren ist das eine Krise: So zerbröselt der eigentliche Sinn des Prozesses, der die Angeklagten im Falle eines Schuldspruchs ihren gerechten Strafen zuführen, zum anderen auch die Fragen der Opfer und ihrer Angehörigen beantworten soll.

Wie weit darf sich die Verhandlung von dem Vorwurf entfernen, der in der Anklageschrift geschrieben steht? Wie weit kann und muss Richter Götzl bei seinen Ermittlungen ausholen, während zwei der fünf Angeklagten seit drei Jahren in Untersuchungshaft sitzen? Vorsorglich setzte er Anfang Dezember neue Prozesstage bis 2016 an.

Die Befragungen, die bis dahin stattfinden, sind Tagesgeschäft für die Juristen, die dreimal in der Woche im Verhandlungssaal sitzen. Für die Betroffenen der Terrorserie sind sie jedoch eine andere Welt. Von ihnen lässt sich kaum noch jemand im Gericht blicken.

 

Das verräterische Archiv des NSU – Das Medienlog vom Mittwoch, 10. Dezember 2014

Fingerabdrücke von Beate Zschäpe waren das Thema am 168. Prozesstag im NSU-Prozess. Die Spuren fanden sich an Zeitungsartikeln, die das Trio in seiner letzten Wohnung in Zwickau aufbewahrten. Teils wurden die Archivalien im Bekennervideo der Terrorzelle verwendet. Als Teil von Sachverständigengutachten wurden die Schlagzeilen im Gericht verlesen – und warfen ein Licht auf die Arbeit der Medien vor der Enttarnung des NSU im November 2011: So wurde „noch einmal dokumentiert, wie sehr sowohl die Ermittlungsbehörden als auch wir Medien in der NSU-Affäre jahrelang versagt haben“, kommentiert Thies Marten vom Bayerischen Rundfunk.

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169. Prozesstag – Mögliche Helferin Antje B. erneut im Zeugenstand

Zum zweiten Mal sagt am Mittwoch die Zeugin Antje B. aus. Sie muss sich vermutlich scharfen Fragen aus den Reihen der Nebenklageanwälte stellen – denn bei ihrer ersten Vernehmung war sie den Prozessbeobachtern vor allem aufgefallen, weil sie ihre Zeit in der rechten Szene beschönigte und das radikale Netzwerk Blood & Honour verharmloste.

Den Verdacht gegen sie bestreitet sie: Demnach soll sie Beate Zschäpe nach der Flucht des NSU-Trios im Jahr 1998 ihren Reisepass zur Verfügung gestellt oder das zumindest versucht haben. Durch Aussagen anderer Zeugen gilt als gesichert, dass sie gemeinsam mit ihrem damaligen Mann den V-Mann Carsten Sz. alias Piatto in ihrem Szenegeschäft anstellte und ihm dadurch die vorzeitge Entlassung aus dem Gefängnis ermöglichte. Piatto wiederum meldete dem Verfassungsschutz, dass B. ihren Pass an Zschäpe weiterreichen wollte.

Zudem sagt ein Ermittler aus, der im Jahr 2012 Beweismittel zum zynischen Bekennervideo sammelte, das nach dem Auffliegen der Terrorzelle 2011 auf DVD verbreitet wurde.

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Keine Berichte zum NSU-Prozess

Am Dienstag, 9. Dezember, gibt es keine Berichte in den deutschen oder englischsprachigen Onlinemedien.

An jedem Werktag sichten wir für das NSU-Prozess-Blog die Medien und stellen wichtige Berichte, Blogs, Videos und Tweets zusammen. Wir freuen uns über Hinweise via Twitter mit dem Hashtag #nsublog – oder per E-Mail an nsublog@zeit.de.

Das nächste Medienlog erscheint am Mittwoch, 10. Dezember 2014.

 

168. Prozesstag – Erkenntnisse zum Mann von Blood & Honour

Immer deutlicher wird im NSU-Prozess die Rolle des radikalen rechten Netzwerks Blood & Honour, das Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach ihrem Untertauchen 1998 unterstützt haben soll. Wichtigster Helfer aus dem Kreis der mittlerweile verbotenen Organisation war nach Aussage mehrerer Zeugen der Neonazi Jan W. aus Chemnitz. Im Gericht durfte er die Aussage verweigern, weil gegen ihn ein Ermittlungsverfahren läuft. Deshalb sagen am Dienstag zwei Polizisten aus Baden-Württemberg aus, die im Jahr 2012 Ermittlungen über W. führten.

Der Zeuge soll den Auftrag gehabt haben, dem geflüchteten Trio eine Waffe zu besorgen. Das hatte der Brandenburger V-Mann Piatto dem Verfassungsschutz gemeldet.

Zudem sagt eine deutsche Richterin aus, die an der Befragung der Schweizer Zeugen Hans-Ulrich M. und Peter-Anton G. beteiligt war. Beide waren im Juni im schweizerischen Thun befragt worden, nachdem sie zu ihren Vernehmungen in München nicht erschienen waren. Sie sollen in der Nähe von Bern die Pistole Ceska 83 besorgt haben, die später in die Hände des NSU-Trios gelangte. Mit der Waffe wurden neun Menschen erschossen.

Informationen aus der Verhandlung gibt es via Twitter hier. Die Berichte darüber fassen wir morgen im NSU-Medienlog zusammen.

 

Der NSU-Prozess und die Bundespolitik – Das Medienlog vom Montag, 8. Dezember 2014

Was beim NSU-Prozess in München passiert, beeinflusst auch das Geschehen im politischen Berlin: Im Neuen Deutschland berichtet René Heilig von einem Fall, in dem eine Entscheidung von Richter Manfred Götzl offenbar die Ermittlungen im Innenausschuss des Bundestags bremste. Demnach hatte der Gremiumsvorsitzende Wolfgang Bosbach Ende November Generalbundesanwalt Harald Range zu einem Gespräch geladen und einen Fragenkatalog beigefügt.

An diesem Punkt ging das Justizministerium dazwischen: Die Befragung sei nicht möglich, weil Götzl die Einsicht in die Prozessakten untersagt habe. Der Autor hält das für eine Verschleierungstaktik der Anklagebehörde: „Nun (…) wird das nur sich selbst verantwortliche Münchner Oberlandesgericht in Stellung gebracht.“

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Neue Prozesstage bis 2016 angesetzt – Das Medienlog vom Freitag, 5. Dezember 2014

Eine neue Verlängerungsrunde im NSU-Prozess: Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat Verhandlungstage bis Mitte Januar 2016 angesetzt. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass noch ein ganzes Jahr lang Zeugen gehört werden, weil die Termine unter Vorbehalt eingetragen sind. Aufgrund der zahlreichen Zeugen, die durch Anträge von Nebenklageanwälten geladen werden, ist diese Planung jedoch nicht unrealistisch. „Das derzeit wohl wichtigste Strafverfahren in Deutschland kommt nur im Schritttempo voran“, kommentiert Per Hinrichs in der Welt.

Detailliertere Termininformationen liefert Holger Schmidt im Terrorismus-Blog des SWR.

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Das nächste Medienlog erscheint am Montag, 8. Dezember 2014.

 

V-Mann Piatto: verkleidet und vergesslich – Das Medienlog vom Donnerstag, 4. Dezember 2014

Am 167. Prozesstag hat der ehemalige V-Mann Carsten Sz. alias Piatto im NSU-Prozess ausgesagt. Er hatte 1998 Hinweise auf Kontaktleute des kurz zuvor untergetauchten Trios aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gegeben. Sz., der im Zeugenschutz lebt, erschien mit Perücke maskiert im Gerichtssaal. Das bedeutete jedoch nicht, dass er offen über die rechte Szene sprach – vielmehr zeigte sich, dass er „angeblich zu den entscheidenden Punkten keine Erinnerung mehr hat“, wie Tanjev Schultz von der Süddeutschen Zeitung notiert.

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Ein Spion mit schlechtem Gewissen

Erstmals hat ein Zeuge im NSU-Prozess maskiert ausgesagt. Carsten Sz. war erst brutaler Schläger, dann V-Mann mit Decknamen Piatto. Angeblich spitzelte er, weil er seine Tat bereute.

Immer wieder verstecken sich Zeugen im NSU-Prozess hinter Gedächtnisproblemen, hinter vagen Formulierungen, bisweilen hinter blanken Lügen. Carsten Sz. versteckt sich unter einer dunkelbraunen Perücke, hinter einer dicken Hornbrille und einem schwarzen Gesichtstuch, das er erst abzieht, als er mit dem Rücken zum Publikum am Tisch für die Zeugen sitzt. Der 44-Jährige wird flankiert von einer Anwältin und drei Personenschützern.

Sz. hat Feinde. Er war Neonazi und spionierte unter dem Tarnnamen Piatto als V-Mann für den Brandenburger Verfassungsschutz, sieben Jahre lang. Seine früheren Kameraden stammen aus dem mittlerweile verbotenen Netzwerk Blood & Honour (B&H), einer militanten Gruppe Rechtsextremer. Seit seine Spitzeltätigkeit im Jahr 2000 enttarnt wurde, lebt er in einem Zeugenschutzprogramm.

Deshalb muss Sz. weder seinen Beruf noch seine Adresse nennen. Er soll aussagen, weil er im Jahr 1998 Informationen weitergab, die zur Festnahme des kurz zuvor geflohenen Trios aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten führen können. Das macht ihn zu einem der Schlüsselzeugen im Münchner Verfahren – und deutet einmal mehr auf die engen Bande zwischen B&H und dem NSU.

Sz. hat beim Brandenburger Verfassungsschutz eine Karriere hingelegt, die manche Beamtenlaufbahn in den Schatten stellt. 1992 hatte er mit anderen Neonazis einen Nigerianer in einer Diskothek fast zu Tode geprügelt. Das Amt warb ihn als Spitzel an, als er zwei Jahre später in Untersuchungshaft kam. Dass er 1995 zu acht Jahren Haft wegen versuchten Mordes verurteilt wurde, machte ihn für den Geheimdienst nicht uninteressant. Im Gegenteil: Piatto standen in der Szene alle Türen offen.

Dabei will er mit dieser schon damals gebrochen haben, wie er in seiner Aussage wissen lässt: Er habe 23 Stunden am Tag in der Zelle gesessen und über sein Leben nachgedacht. „In so einer Situation wollte ich nie wieder stecken. So kam der Entschluss, dass ich sagte: Feierabend“, schildert er mit seiner scheppernden Stimme, die für seine stämmige Statur zu hoch klingt. Nur Spesen habe er für seine Arbeit in Rechnung gestellt. Die langjährige Spionagetätigkeit habe er als Wiedergutmachung für seine Tat betrieben – praktischerweise half ihm die tätige Reue, schnell wieder aus dem Knast entlassen zu werden.

Er schrieb einen Brief an den Verfassungsschutz, kurz darauf besuchte ihn ein Behördenvertreter in der Haft. Die Vereinbarung war besiegelt.

In Rekordgeschwindigkeit wurde Piatto zum Freigänger, ließ sich von seinen Quellenführern aus dem Gefängnis abholen. 1998 informierte er sie schließlich über das Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt – demnach sollte das B&H-Mitglied Jan W. den dreien eine Waffe für einen Raubüberfall beschaffen, eine andere Zeugin sollte Zschäpe ihren Personalausweis überlassen. Es waren Tipps, die die Ermittler auf die Spur des späteren NSU-Trios hätten bringen können. Doch Piattos Hinweise wurden – bewusst oder unbewusst – nicht genutzt.

Der Zeuge sagt, er habe nie ein Mitglied des NSU-Trios kennengelernt, auch keinen der fünf Angeklagten im Prozess. Hervorragend war hingegen seine Vernetzung im damals gerade gegründeten B&H-Ableger in Sachsen. „Das war das bestorganisierte Netzwerk“, erzählt Sz., entstanden zwar als Zusammenschluss von Fans rechter Musik, doch „der absolute Hardliner-Verband“. Wer dort Mitglied war, habe keinen Hehl aus seiner Einstellung gemacht.

Vielleicht ist es das Protektorat des Geheimdienstes, das es dem Zeugen möglich macht, derart offen über die Gruppe zu sprechen – ein Ehepaar, das zu den Mitgründern des Netzwerks gehörte, hatte Blood & Honour im Prozess als harmlosen, bestenfalls rechts angehauchten Musikverein verbrämt.

Die beiden halfen Sz. schließlich auch, aus der Haft freizukommen: Er fand Arbeit in dem von ihnen betriebenen Szenegeschäft. Fünf Jahre nach seiner Verurteilung wurde er deshalb auf Bewährung entlassen und begann, einen eigenen Laden für rechte Musik im brandenburgischen Königs Wusterhausen zu betreiben – wie es sich für einen geläuterten Neonazi gehört. Sz. sagt, er habe nicht wirklich etwas verkauft.

An weite Teile seiner V-Mann-Tätigkeit kann sich Piatto allerdings kaum noch erinnern – vage wie bei etlichen anderen Zeugen ist etwa seine Erinnerung an den Hinweis auf die mögliche Waffenbeschaffung. Das Thema Waffen, sagt Sz., war in der Szene „tagesaktuell“ und omnipräsent: „Jeder wollte gerne Waffen haben. Das gehörte zum guten Ton.“ An die Tipps, die er im Einzelnen an die Behörde meldete, hat er gar keine Erinnerung mehr. Auch gibt er mehrmals an, bereits ab 1991 für das Amt gearbeitet zu haben – was nicht stimmen kann.

„Das ist für mich ein komplett anderes Leben gewesen“, sagt Sz. dazu – seine Zeit als Rechtsextremer undercover, die er als abgeschlossen betrachtet. Damals beschaffte er Szenemagazine und CDs und fertigte Gedankenprotokolle, die er seinen V-Mann-Führern in die Hand drückte. Noch während der Haft stellte ihm das Amt verschiedene Handys und wechselnde Rufnummern – die er abgab, bevor er aus dem Freigang zurückkehrte.

Für den reuigen Schläger, der angeblich nur sein Gewissen reinwaschen wollte, hatte der Verfassungsschutz aber offenbar noch größere Pläne: Nach der Entlassung aus dem Gefängnis 1999 trat er in die NPD ein, „um möglichst viele Informationen zu gewinnen“. Ob das seine eigene Idee war oder vom Geheimdienst befohlen, weiß er angeblich nicht mehr: „Es lag auf der Hand.“

Die Vernehmung wird am Nachmittag unterbrochen, Carsten Sz. wird erneut geladen.

Der Sitzungstag endet mit einem erneuten Antrag der Anwälte des Mitangeklagten Ralf Wohlleben. Sie fordern, ihren Mandanten aus der Untersuchungshaft zu entlassen, in der er mittlerweile seit drei Jahren sitzt. Verteidiger Olaf Klemke moniert, die Schmuggelroute der NSU-Mordpistole Ceska 83 sei „so ungeklärt wie zuvor“. Wohlleben ist angeklagt, weil er die Beschaffung der Pistole angeordnet haben soll. Zudem kritisiert Klemke, dass das Gericht sich zunehmend in „Nebenkriegsschauplätzen“ verheddere und Zeugen aus dem Umfeld des NSU höre, die nichts zur Schuld- und Straffrage der Anklage beizutragen hätten.