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„Osterweiterung“ oder: Ein Mannheimer Pfarrer und seine Leipziger Erfahrungen

 

Vor einigen Jahren veröffentlichte Gabriela Mendling das Buch NeuLand. Darin beschrieb sie Erlebnisse und Erfahrungen, die sie und ihre Familie in ihrer ostdeutschen Wahlheimat Frankfurt (Oder) als zugezogene Wessis gemacht hatten. Mendlings Ehemann hatte eine Chefarzt-Stelle an einem Krankenhaus in der brandenburgischen Stadt bekommen und Ehefrau und Kinder in den tiefen Osten mitgenommen. Das Buch kam gar nicht gut an, in Frankfurt an der Oder nicht und auch in weiten Teilen Ostdeutschlands nicht. „Überhebliche Wessitante zieht über Ostdeutsche her“, lautete der Tenor der öffentlichen Empörung.

Wer als gebürtiger Westdeutscher seine Erfahrungen in und mit den neuen Bundesländern in Buchform veröffentlicht, begibt sich also durchaus auf schwieriges Terrain. Christian Wolff, Pfarrer an der Thomaskirche in Leipzig, hat es getan und kürzlich ein Werk mit dem Titel Osterweiterung – Leben im neuen Deutschland vorgelegt. Darin beschreibt der aus Mannheim stammende Theologe, wie er 1992 nach erfolgreicher Bewerbung auf eine freie Stelle an der Thomaskirchen-Gemeinde nach Leipzig übersiedelte und was er seither in der „Heldenstadt“ so erlebt hat. Dass schon der Titel für manchen Leser eine Provokation sein kann, räumt Wolff gleich im Vorwort ein: Er habe es für sinnvoll erachtet, „meine Erfahrungen aus den vergangenen 20 Jahren zu Papier zu bringen und unter dem Titel Osterweiterung zu veröffentlichen – wohl wissend, dass schon allein dies den Vorwurf provoziert, ich würde doch nur aus westdeutscher Sicht schreiben und den Westen um den Osten erweitern“. Widerspruch sei erwünscht, fügt er einige Sätze später hinzu.

Wolff, der sich als ebenso engagierter wie streitbarer Pfarrer und Bürger in der Stadt längst einen Namen gemacht hat, schildert auf rund 240 Seiten seine Sicht auf einige Dinge, die Leipzig in den letzten Jahren bewegt haben und noch bewegen. Dabei geht es meist weniger um Reflexionen eines Westdeutschen über den Ostdeutschen an sich, sondern mehr um seine Haltung zu Themen, die in erster Linie die Stadt Leipzig betreffen, in ihrer Bedeutung aber durchaus über diese hinausreichen. Es geht um das christliche Profil das berühmten Thomaner-Knabenchores und die Sanierung der Thomaskirche. Großen Raum räumt er der über Jahre hinweg heftig geführten Debatte über den Wiederaufbau der 1968 auf Geheiß des damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht gesprengten Universitätskirche ein und macht dabei aus seiner Wut über die aus seiner Sicht ignorante Haltung der Universitätsleitung gegenüber dem Wunsch nach Wiederstehung einer universitätseigenen Kirche keinen Hehl. Man muss seine Meinung nicht teilen, nachdrücklich formuliert ist sie allemal.

Wenn Wolff an anderer Stelle die Haltung vieler Menschen in Ostdeutschland gegenüber Religion und Kirche beschreibt, so tut er das nicht in überheblichem Ton, sondern in nüchterner, sachlicher Erzählung. „Ich musste lernen“, so schreibt er, „dass sehr viele Nichtchristen die Kirchen in einer Reihe sehen mit jeder x-beliebigen religiösen Sekte“. Und: „Wir leben in Ostdeutschland nicht nur im ‚entchristianisierten‘ Teil unseres Landes, wir leben auch unter sehr vielen Menschen, die nichts vermissen, wenn sie keiner Glaubensgemeinschaft angehören…“. Dass da mancher Schüler den Osterhasen in einer Reihe mit Jesus Christus sieht, verwundert dann auch nicht mehr. Doch wenn Wolff sich Gedanken darüber macht, wie die Kirche sich der Tendenz einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft gegenüber verhalten soll, so wird schnell deutlich, dass das wiederum ein so spezifisch ostdeutsches Problem gar nicht ist.

Hin und wieder streichelt Wolff – bewusst oder unbewusst – die in den vergangenen Jahren von den Veränderungsprozessen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft manches Mal ziemlich geschundene ostdeutsche Seele, wenn er etwa kopfschüttelnd die seltsame Aufregung in Westdeutschland über die Einführung fünfstelliger Postleitzahlen im Jahr 1993 erwähnt oder westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre für Arbeitskampf-Aktionen kritisiert, die mit der ostdeutschen Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt wenig zu tun hatten.

Beklemmend ist sein Bericht über Widerstände im bürgerlichen Leipziger Waldstraßenviertel gegen ein jüdisches Begegnungszentrum, etwas skurril sein wortgewaltiger Protest gegen die seiner Ansicht nach ausufernden Großveranstaltungen im Leipziger Stadtzentrum. Wenn er sich über wummernde Bässe und laute Musik auf dem Marktplatz beschwert, kann man Wolff aber kaum überhebliches Wessi-Gehabe vorwerfen. Da ist er halt nur der genervte Nachbar.