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Facebook, Twitter und Co: Welche Rolle spielen die Sozialen Medien in Wahlkämpfen?

AndreaWenn der Wahlkampf ein Markt ist, ist Aufmerksamkeit seine Währung. Denn die erste Hürde, die jede politische Botschaft überspringen muss, ist keine inhaltliche (z.B., „Ist der Vorschlag gut?“), sondern eine kommunikative: „Wird der Vorschlag gehört?“. Dieses altbekannte Prinzip politischer Kampagnenarbeit hat durch die Sozialen Medien eine beachtliche Ausdehnung erfahren: Ging es vormals primär darum, dass die Forderungen von klassischen Medien wie Presse, Funk und Fernsehen verbreitet werden, so ist es heute auch mehr denn je möglich, die Botschaften selbst zu senden und aktiv Unterstützung zu generieren.

Soweit die Theorie. Ist es aber auch praktisch relevant, wie viele Facebook-Freunde Stefan Mappus hat oder wie viele Menschen Olaf Scholz auf Twitter folgen? Machen YouTube-Videos tatsächlich einen Unterschied? Diese Fragen stellen sich derzeit viele Politiker und Parteistrategen – und von der Antwort kann einiges abhängen: Gerade bei Landtagswahlen sind die Budgets vieler Kandidaten knapp und so kann die Entscheidung für oder gegen einen professionellen Online-Auftritt einen direkten Einfluss auf die gesamte Wahlkampf-Strategie haben. Denn auch wenn der finanzielle Aufwand für Online-Wahlkämpfe vergleichsweise gering ist, fallen doch Kosten an: Beispielsweise muss das Facebook-Profil eines Kandidaten mit einigem personellem Aufwand gepflegt werden, damit sich der positive Effekt der Online-Präsenz nicht ins Gegenteil verkehrt. Auch Videos, die auf Plattformen wie YouTube eingestellt werden, dürfen zwar vergleichsweise „hemdsärmelig“ daher kommen, bedürfen aber dennoch professioneller Unterstützung.

Die Frage „Brauchen wir das?“, die derzeit in vielen Wahlkampfteams gestellt wird, ist somit berechtigt. Nähern wir uns also einer Antwort an. In der Deutschen Wahlstudie zur Bundestagswahl 2009 finden sich klare Hinweise darauf, wie die Nutzung Sozialer Medien mit dem Interesse am Wahlkampf zusammengeht. Bevor wir diese Ergebnisse genauer betrachten, sollten wir jedoch einen Blick darauf werfen, wie viele Bürger die Sozialen Medien überhaupt nutzen. Eine Erhebung aus dem Januar 2010, also kurz nach der letzten Bundestagswahl, zeigt, dass die in Deutschland größten Sozialen Netzwerke 14,4 (VZ-Gruppe) bzw. 13 Millionen (Facebook) regelmäßige Besucher haben, welche die Seite mindestens einmal pro Monat besuchen. Dazu kommen weitere große Netzwerke wie Wer kennt wen (6,7 Mio), StayFriends (5,6), Twitter (3,9), MySpace (3,8), und Lokalisten (3,4).

Diese Zahlen sind beachtlich – auch wenn man natürlich bedenken muss, dass viele Menschen mehrere Profile haben und zudem ein guter Teil der Nutzer noch nicht wahlberechtigt ist oder der Gruppe der Nichtwähler angehört. Dennoch lässt sich ein starker Trend ablesen, der auch von den Ergebnissen der Deutschen Wahlstudie gestützt wird: Hier gaben einen Monat vor der Bundestagswahl 47 Prozent der Befragten an, mindestens einmal pro Woche eine Soziale-Medien-Seite zu besuchen.

Und sind diese Zahlen nun für den Wahlkampf relevant? Immerhin 15 Prozent der Wahlbevölkerung berichtet, Wahlkampfinformationen über die Sozialen Medien erhalten zu haben. Und vier Prozent sind selbst als „Wahlkämpfer“ in den sozialen Medien aktiv, sie verbreiten etwa Wahlkampfmaterial in ihren jeweiligen Netzwerken. Mit Blick auf die hohen absoluten Nutzerzahlen, sind diese Werte beachtlich.

Wer sind nun aber diese „Online-Wahlkampfhelfer“? Sind es dieselben Personen, die auch Mitglieder der Parteien sind und an den Wochenenden auf Marktplätzen, an U-Bahn-Haltestellen und in Geschäftspassagen stehen? Hier zeigen unsere Daten Erstaunliches: Es sind junge Leute mit einer hohen Parteiidentifikation aber ohne Parteimitgliedschaft, die online in ihren sozialen Netzwerken aktiv sind – also eine völlig andere Unterstützergruppe als jene, die wir beim Straßenwahlkampf sehen.

Dieser Befund sollte Wahlkämpfer aufmerken lassen. Allzu oft war bereits von Politik-, Politiker- oder Parteienverdrossenheit in der Bevölkerung die Rede und gerade auch die letzten Wahlkämpfe haben es offenkundig nicht geschafft, neue Zielgruppen anzusprechen und somit die Zahl der Nichtwähler zu verringern. Im Gegenteil, gerade die jüngste Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die Hinweise auf die Kampagnen in den Landtagswahlen dieses Jahres geben kann, kam überraschend unspektakulär und altbacken daher. Kreative Kampagnen, die neue Wähler hätten gewinnen können, waren online wie offline Mangelware.

Die Sozialen Meiden sind bestimmt kein Allheilmittel. Es sei daran erinnert, dass auch im bislang wohl modernsten Wahlkampf weltweit, Obamas Kampagnen bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2008, trotz aller Online-Elemente eine klare Priorität auf den klassischen Medien lag. Allerdings zeigt die empirische Sozialforschung, dass im Internet ein nicht unerhebliches Wählerpotenzial schlummert, das umso interessanter ist, da es sich von den Gruppen, die über klassische Kampagnentechniken angesprochen wird, deutlich zu unterscheiden scheint. Und je enger ein Wahlausgang prognostiziert wird – etwa im Fall der aktuellen Umfrageergebnisse für Baden-Württemberg hin –, desto wichtiger werden diese Elemente.

Literatur:

Andrea Römmele/Sabine Einwiller: Citizen Leaders and Party Laggards: Social Media in the 2009 German Federal Election. Paper presented at the Annual Meeting of the American Political Science Association, Washington DC, Sept 1-5, 2010.

Mehr Informationen über die Deutsche Wahlstudie unter www.dgfw.info

 

Der vergangene Freitag in Stuttgart aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, oder: „Gut, dass mer gschwätzt hän“

AndreaDemokratien werden in den Sozialwissenschaften an (mindestens) zwei Kriterien gemessen: An ihrer Effizienz und an ihrer Responsivität. Das Regieren ist heutzutage durch trans- und suprantionale Zusammenschlüsse geprägt und steht unter dem Eindruck von Internationalisierung und Globalisierung. Die Themen und Problemlagen gewinnen dadurch an Komplexität. So ist der Aspekt der Effizienz in jüngerer Vergangenheit verstärkt in den Vordergrund gerückt: Wie können Staaten mit Blick auf die genannte Komplexität einerseits und ihre begrenzten Ressourcen andererseits die Ziele erreichen, die sie sich setzen? Darüber hinaus haben wir nun aber am vergangenen Freitag erlebt, wie wichtig auch die Responsivität nach wie vor ist: Ist der Staat in der Lage, Forderungen und Kritik seiner Bürger aufzunehmen und seine Entscheidungen klar zu kommunizieren? Lange wurde dieser Prozess als Kernaufgabe der Parteien verstanden. Der offene Dialog zu Stuttgart 21 zeigt nun aber neue Wege auf, wie man auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen kann.

Fassen wir den Freitag kurz einmal zusammen: Im Ergebnis nichts Neues, aber eine Art von Befriedung. Auf gut schwäbisch: „Es isch nix rauskomme, aber gut, dass mer gschätzt hän“! Positiv formuliert bedeutet dies, dass wohl in Zukunft kein Großprojekt mehr durchgeführt werden kann, ohne dass Bürgerinnen und Bürger in der Planungsphase ernsthaft und nachhaltig eingebunden werden.

Die konkrete Ausgestaltung dieser Prozesse muss kontinuierlich diskutiert und verbessert werden. Das Verfahren in Stuttgart ist vermutlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Für die Frage, wie solche Verfahren dauerhaft in die politische Entscheidungsfindung eingebunden werden können, lohnt der Blick in die Schweiz. Und zwar nicht auf die derzeit sehr populären Volksentscheide, die auch in Zusammenhang mit Stuttgart 21 immer wieder als Beispiel bemüht werden. Eher sollten wir von den Erfahrungen der Schweizer mit einem anderen festen Bestandteil ihrer Demokratie lernen: Das sogenannte Vernehmlassungsverfahren ist – Nuancen und Details beiseite gelassen – die Vorab-Prüfung eines Großprojektes durch alle relevanten Gruppen, Befürworter wie Gegner. In der Sprache der Schweizer Bundesbehörden geht es um „Vorhaben des Bundes von erheblicher politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und kultureller Tragweite“, die „auf ihre Akzeptanz, auf ihre sachliche Richtigkeit und auf ihre Vollzugstauglichkeit hin geprüft werden.“

Bürgerinnen und Bürger werden also schon bei der Ausgestaltung eines Projektes mit an Bord geholt – quasi in einer institutionalisierten Form der Bürgerbeteiligung. Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem bei uns gültigen Planfeststellungsvefahren. Dies ist ein Verwaltungsverfahren, welches für Bauvorhaben vorgesehen ist. Die Bürger haben zwar die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Anhörungsbehörde einzuschalten – allerdings nicht schon bei der Ausgestaltung des Plans, sondern erst nach der Veröffentlichung des Vorhabens. Dies ist ein erheblicher Unterschied.

Gehen wir also noch einmal zurück zum Freitag in Stuttgart: Ging es wirklich um Responsivität oder war das mehr eine kleine Demokratie-Show? Vermutlich beides. Man sollte jedoch zugestehen, dass sich momentan alle Beteiligten in einem Lernprozess befinden. Und dadurch ergibt sich eine spannende Situation, welche die Politik ansonsten so gut es geht zu vermeiden sucht: Unsicherheit. Natürlich haben der Ministerpräsident und viele andere stets betont, dass der Umbau des Bahnhofes im Kern nicht verhandelbar sei. Allerdings können das nicht einmal die zentralen Akteure wirklich einschätzen, weil sie schlichtweg zu wenig Erfahrung mit solchen Verfahren haben und somit auch nicht wissen können, welche Dynamiken sich im Zuge eines solchen „joint fact finding“ ergeben können – von der nächsten Stufe des Prozesses (über die ja bisher nur wenig bekannt ist) einmal ganz zu schweigen.

Insofern ist die Botschaft „Gut, dass mer gschwätzt hän“ gar nicht so gering, wie sie sich zunächst anhören mag. Denn solange geredet wird, können sich die Prozesse entwickeln – und werden uns vielleicht noch ein ums andere mal überraschen…

 

„Warum erst jetzt?“ – Stuttgart 21 stand schon vor der großen Protestwelle auf wackeligen Beinen

AndreaIn einigen Beiträgen zu Stuttgart 21 klingt an, dass die Ausbau-Gegner derzeit massiv mobilisieren und dadurch die politische Stimmung nachhaltig beeinflussen – manche Kommentatoren verknüpfen damit sogar die Schicksale von Politikern und Regierungen. Beispielsweise erregte eine Umfrage des „Stern“ große Aufmerksamkeit, die sowohl in Stuttgart als auch in ganz Baden-Württemberg Bevölkerungsmehrheiten gegen das Projekt ermittelte. Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass diese Änderung des Stimmungsbildes im Zuge der Proteste erfolgt sei – und dies wiederum wirft die Frage auf, warum die Gegner des Projektes erst seit kurzer Zeit so präsent sind, obwohl das Projekt doch schon seit 15 Jahren auf der öffentlichen Agenda steht.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die diversen Umfragedaten zu Stuttgart 21 zu werfen: In der Bürgerumfrage „Leben in Stuttgart“, die vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart im Frühjahr 1995 durchgeführt wurde, standen 51% der Stuttgarterinnen und Stuttgarter hinter dem Großprojekt – 30% der Befragten hielten Stuttgart 21 für eine „sehr gute“, immerhin 21% für eine „gute“ Maßnahme. Andererseits sahen rund 30% das Projekt skeptisch (21% fanden es „sehr schlecht“, weitere 9% „schlecht“) und immerhin 18% waren unentschieden. Schon damals konnte man also nicht gerade von einer breiten Unterstützung für das Projekt sprechen.

Dieses uneinheitliche Stimmungsbild verschlechterte sich schrittweise über die Jahre hinweg. Im Jahr 2007 – also noch vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die möglicherweise eine allgemein skeptische Stimmung hätte verursachen können – hatten einer groß angelegten Stuttgarter Bürgerumfrage zufolge nur noch 31% der Stuttgarter eine „gute“ oder „sehr gute“ Meinung über das Projekt. Ihnen standen 48% gegenüber, die eine „schlechte“ oder „sehr schlechte“ Meinung hatten. In einer weiteren Bürgerumfrage im Sommer 2009 manifestierte sich dieser Trend, der Anteil der „guten“ und „sehr guten“ Meinungen zu S21 ging noch einmal leicht zurück, auf 29%, der Anteil „schlechter“ und „sehr schlechter“ Meinungen lag fast unverändert bei 47%.

Vergleicht man diese Zahlen mit dem Ergebnis der Stern-Umfrage (51% aller Baden-Württemberger bzw. 67% der Stuttgarter stimmten dort gegen S21, 26% der Baden-Württemberger und 30% der Stuttgarter dafür*), so wird deutlich, dass die Proteste der vergangenen Monate zwar die vorhandene Skepsis gegenüber S21 sichtbar gemacht haben. Die Überzeugung von Befürwortern oder Unentschiedenen hielt sich jedoch in Grenzen: Mobilisierung ja, Konvertierung nein.

Anders gesagt war die Gruppe der Skeptiker schon seit längerer Zeit beachtlich, sie hat es aber nicht geschafft, im politischen Prozess Gehör zu finden. Auch die meisten Parteien haben das Vorhaben unterstützt. Erst als der Protest auf die Straße verlegt wurde, wurden aber auch die Kritiker von Stuttgart 21 wahrgenommen.

Was bedeutet dies nun für die aktuelle Debatte? Der eingangs dargelegte Gedanke, dass das Projekt bereits seit 15 Jahren diskutiert werde, ist Grundlage des zentralen Arguments der Ausbau-Befürworter: Sie sagen, dass der Planungsprozess über die Jahre hinweg bereits alle Gruppen angehört und alle demokratischen Instanzen durchlaufen habe, daher dürfe er nun nicht einer Stimmungsdemokratie geopfert werden. Faktisch gab es aber offensichtlich nur unzureichende Möglichkeiten für die Ausbau-Gegner, ihre Argumente vorzutragen. Das politische System war nicht in der Lage, diese Stimmen und Stimmungen einzufangen.

Diese Beobachtung alleine ist noch kein Grund, das bisherige (zweifellos demokratisch legitimierte) Verfahren in Frage zu stellen. Sie gibt allerdings Anlass dazu, sich nicht allzu sehr an die gefassten Beschlüsse zu klammern, sondern das Schlichtungsverfahren ergebnisoffen zu gestalten.

*Vielen Dank für die Hinweise auf den Zahlendreher, die Passage wurde korrigiert.

 

S21: Yes They Can!

AndreaAm Freitag setzen also sich die Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 erstmals ohne Vorbedingungen an einen Tisch. Na endlich, könnte man sagen. Aber was können wir von einem solchen Treffen erwarten? In meinem letzten Blog-Beitrag habe ich Verfahren der Bürgerbeteiligung beschrieben, die entwickelt wurden, um in solchen Großprojekten die Einbindung aller Positionen zu gewährleisten. Seither wurde ich von vielen Seiten gefragt: Eigentlich gibt es doch ohnehin nur sehr wenig Handlungsspielraum, was könnten solche Verfahren also in Stuttgart nun noch bringen? Oder anders: Können Befürworter und Gegner von Stuttgart 21 überhaupt noch zueinander finden? Ich meine: Ja, sie können!

Natürlich: Die Beschlüsse sind gefasst, die politische Entscheidungsfindung wird mit größter Wahrscheinlichkeit nicht neu aufgerollt. Ein Beteiligungsverfahren würde somit also realistischerweise nicht zu einem neuen Vorschlag für den Hauptbahnhof führen, da über diesen erneut abgestimmt werden müsste, was die politische Arbeit der letzten Jahre ad absurdum führen würde. Dessen ungeachtet ist jedoch die derzeitige Situation für alle Beteiligten unbefriedigend: Die Fronten sind verhärtet, Bau und Proteste werden trotz des Treffens weitergehen. Somit ist es dringend geboten, einen konstruktiven Dialog zu organisieren. Vier Ziele könnte man auf diesem Weg erreichen:

1. Zunächst einmal muss endlich Klarheit über die derzeit sehr unterschiedlich interpretierten Fakten, Studien und Gutachten geschaffen werden: das berühmte „joint fact finding“. Alle beteiligten Akteure müssen zu einer gemeinsamen Bewertung kommen. Dieser Prozess muss morgen am Runden Tisch begonnen werden, kann dort aber nicht enden.

2. Falls sich die Positionen von Befürwortern und Gegnern des Projektes nach Klärung der Fakten nicht ändern und die alten Beschlüsse weiter Bestand haben (also kein Baustopp bewirkt wird), gibt es dennoch Spielräume bei der konkreten Ausgestaltung. Hier sind vor allem die Stadtplanung und Stadtentwicklung auf dem Bahnhofsgelände gemeint, die durchaus auch noch begleitend zum Bau des neuen Bahnhofs diskutiert werden können.

3. Grundlage für einen solchen Prozess ist es, Handlungsoptionen bzw. Handlungskorridore auszuloten. Diese können (und müssen) die großen, generellen Fragen aufgreifen, die sich mit dem Projekt verbinden, und aufzeigen, wie die Ziele der beteiligten Akteure vereinbart werden können: Wie können wir den Standort Stuttgart stärken? Und wie können dabei Umwelt- und Denkmalschutz, Grundwasserversorgung und ein angemessener Umgang mit Steuergeldern gewährleistet werden? Der im letzten Beitrag bereits erwähnte Anti-Lärm-Pakt im Rahmen des Frankfurter Flughafenausbaus liefert hier ein Beispiel: Die Ausbaugegner erhielten von Landesregierung und den beteiligten Unternehmen die Zusage, dass neben dem Ziel des Ausbaus auch das Ziel des Lärmschutzes verfolgt wird.

4. Ein aus Landesregierung, Wirtschaftsvertretern, Bürgerinitiativen und anderen Gruppen zusammengesetztes Gremium, das Stuttgart 21 kritisch begleitet, hätte zudem Signalwirkung für die Bürgerinnen und Bürger: Politik findet nicht hinter verschlossenen Türen statt! Dies wäre ein besonders wichtiges Ziel, wenn man bedenkt, dass die Proteste gegen Stuttgart 21 längst auch zu einem Symbol für generelle Politiker- und Parteienverdrossenheit geworden sind. Zugleich könnte man so die vielfältigen Erfahrungen und Expertisen der Bürger(-initiativen) nutzen und das Bauvorhaben qualitativ verbessern.

Wir sehen, es gibt zahlreiche Gründe dafür, auch (bzw. gerade!) zu diesem späten Zeitpunkt noch über Verfahren nachzudenken, die den Meinungen der Bürgerinnen und Bürger Gewicht geben und die einen konstruktiven Dialog ermöglichen. Daran sollte übrigens auch der Landesregierung gelegen sein: Ein umsichtiger Konfliktmanager Stefan Mappus hätte im kommenden Wahlkampf mit Sicherheit bessere Karten als ein „brutalstmöglicher Bahnhofsbauer“…

 

Frankfurter Flughafenausbau und Stuttgart 21: Der Vergleich lohnt!

AndreaDer Vergleich ist in den Sozialwissenschaften (wie auch im Alltagsleben) eine beliebte Herangehensweise, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten und vor allem aus den Erfahrungen anderer zu lernen. Es wundert mich, dass in Bezug auf Stuttgart 21 selten das Beispiel des Ausbaus des Frankfurter Flughafens bemüht wird – wir haben es hier mit ähnlichen d.h. vergleichbaren Phänomenen zu tun: Beide sind für die jeweilige Region wichtige Infrastrukturprojekte, die Landesregierungen stehen kritischen Bürgern bzw. Anwohnern gegenüber, die Themen sind lokal verwurzelt und emotionalisieren bestimmte Gruppen. Was aber ist im Falle der jüngsten Stufe des Frankfurter Flughafenausbaus anders gelaufen, als wir es bei Stuttgart 21 beobachten? Warum gab es hier weniger Unruhe und Protest?

Nun, in Hessen hat man aus einem Vergleich gelernt: In diesem Fall dienten die Erfahrungen mit den massiven Protesten im Rahmen des Ausbaus der legendären „Startbahn West“ als mahnendes Beispiel. Im Vorfeld der nächsten Ausbaustufe initiierte die hessische Landesregierung – damals führte Hans Eichel die rot-grüne Koalition als Ministerpräsident an – ein zweijähriges Mediationsverfahren mit 21 Vertreterinnen und Vertretern aus allen Stakeholder-Gruppen: Städte und Gemeinden, Wirtschaft, Gewerkschaften, Landes- und Bundesregierung sowie eine Bürgerinitiative saßen zusammen am Tisch. Drei prominente Mediatoren wurden eingeschaltet und am Ende wurde ein „Mediationspaket“ verabschiedet, das von fast allen Konfliktparteien anerkannt wurde – der Kern dieses Paketes war das Regionale Dialogforum Flughafen Frankfurt (RDF).

Dieses Regionale Dialogforum führte in der Flughafenregion einen kontinuierlichen und öffentlichen Dialog mit allen regionalen Akteuren – insgesamt 33 Teilnehmer waren mit dabei, es herrschte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Befürwortern und Gegnern der Erweiterung. Die Ziele des Dialoges waren die gemeinsame Faktenklärung („joint fact finding“) und die Erstellung von politischen Entscheidungsgrundlagen unter Einbeziehung der Bevölkerung.

Das Ergebnis der in Dialogform geführten Verhandlungen war Grundlage für den Anti-Lärm-Pakt vom 12. Dezember 2007, einer gemeinsamen Erklärung des Landes Hessen, der Fraport AG, der Deutschen Lufthansa AG und der Deutschen Flugsicherung. Zentraler Punkt: Erweiterung bei gleichzeitigem aktivem Schallschutz. Die Moral von der Geschicht‘: Auch die Gegner des Projektes sahen ihre Argumente vertreten und akzeptierten Entschlüsse, die von ihrer eigenen Position abwichen. Denn mit dem Prozess gingen sie d’accord! So konnte das auch im Falle dieses Flughafenausbaus durchaus in der Bevölkerung vorhandene Konfliktpotenzial konstruktiv in die politische Entscheidungsfindung eingebracht werden.

Der Fall Stuttgart 21 stellt sich natürlich ein wenig anders dar: Die politischen Entscheidungen sind bereits gefällt. Dennoch wäre es auch jetzt noch möglich, die Bevölkerung in die Weiterentwicklung der Pläne einzubeziehen – in Frankfurt etwa läuft gegenwärtig das „Forum Flughafen und Region“, das die Umsetzung der Erklärung von 2007 begleitet. Eine solche Maßnahme könnten auch im Falle von Stuttgart 21 dazu beitragen, dass die Kritiker des Projektes einen konstruktiven Beitrag leisten und ihre Bedenken einbringen können – und dies scheint angesichts der aktuellen Proteste dringend geboten.

 

Stuttgart 21: Neue Verfahren braucht das Ländle – oder: „deliberative polling“ auf Schwäbisch

AndreaAls gebürtige Stuttgarterin überrascht mich meine Heimatstadt: Zwar sind die Schwaben bekannt für ihre Ausdauer und Beharrlichkeit, aber nicht unbedingt für politischen Widerstand. Vor allem nicht für einen Widerstand, der eng mit der CDU verbunden ist und diese Partei kritisiert, die in Baden-Württemberg seit 57 Jahren ununterbrochen regiert.

Was lässt sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive hier sagen? Auf zwei Ebenen möchte ich das Problem platzieren, auf der Polity- und auf der Politics-Ebene. Fangen wir mit der Polity, also dem institutionellen Gefüge an: Sowohl die Mechanismen der repräsentativen Demokratie als auch die der partizipativen Demokratie „greifen“ im Fall von Stuttgart 21 nicht. Das Projekt hat alle parlamentarischen und demokratischen Instanzen durchlaufen und wird von den Bürgen, die dort ja repräsentiert werden sollen, dennoch mit einer Massivität abgelehnt, die auf eine tiefe Erschütterung ihres Vertrauens in die Politik schließen lässt (siehe hierzu auch den sehr interessanten Beitrag „Politiker, hört die Signale!“ von Susanne Gaschke).

Partizipative Elemente wie Volksentscheide oder Petitionen bergen wiederum zwei große Risiken: Einerseits führen sie oft zu einer Zementierung des Status Quo, da die erforderlichen Stimmenanzahlen nicht erreicht werden, durch die ein Entscheid überhaupt erst Gültigkeit erlangt. Andererseits kann im Falle einer Bewegung, welche die nötigen Quoren erfüllt hat, eine „Tyrannei der engagierten Minderheit“ entstehen, da sich meist eine recht homogene Gruppe an Bürgerinnen und Bürgern bei einem solchen Verfahren beteiligt, die nicht alle Meinungen und Interessen in der Bevölkerung auffangen kann und will (beispielhaft hierfür kann die sehr unterschiedliche Partizipation am Hamburger Volksentscheid in den einzelnen Stadtteilen stehen, die mit sozioökonomischen Merkmalen der Bevölkerungsgruppen zu korrelieren scheint). Dieses Problem – in aller Kürze skizziert – ist das demokratische Dilemma von Volksentscheiden.

Ein möglicher neuer Weg wäre das in den USA von James Fishkin entwickelte „deliberative polling“. Dieses Verfahren bindet die Politcs-Dimension (also die Prozess-Ebene) mit ein: Es geht es nicht nur darum, die Präferenzen von Individuen zu aggregieren und in die Politik einzuspeisen, wie es etwa bei Volksentscheiden der Fall ist. Vielmehr soll zunächst über diese Präferenzen gesprochen werden. „Deliberation is the name of the game“, die Demokratie als kommunikatives System! Und wie genau funktioniert dies? Eine repräsentativ zusammengestellte Gruppe von Bürgern berät zwei oder drei Tage lang gemeinsam sowie in Kleingruppen über das Thema, zu welchem sie zudem ausgewogenes Informationsmaterial erhält. Außerdem haben die Bürger die Möglichkeit, Experten zu befragen. Auf dieser Grundlage soll gewährleistet werden, dass am Ende eine informierte Entscheidung steht, die jedoch nicht in erster Linie von den aktiven Interessengruppen selbst getroffen wird (die sich an einer Volksabstimmung überdurchschnittlich beteiligen würden), sondern von Personen, welche die gesamte Breite der Bevölkerung repräsentieren.

Die Nachteile eines solchen Verfahrens liegen insbesondere darin, dass sie vergleichsweise viel Zeit benötigen, teuer sind und nur auf regionaler Ebene gut funktionieren. Im Falle von Stuttgart 21 wären diese Probleme jedoch lösbar: Eine Entschleunigung täte dem Prozess vermutlich ohnehin gut, der ausschließliche Bezug auf ein regionales Vorhaben ist gegeben und im Vergleich zu den Milliarden Euro, die für das Projekt ausgegeben würden, hielten sich die Kosten für eine solche Veranstaltung wie das „deliberative polling“ in Grenzen.

„Not macht erfinderisch“ – auch das könnte ein Wahlspruch der Schwaben sein. Vielleicht könnte man die aktuelle Not der verhärteten Fronten zwischen Ausbaugegnern und -befürwortern nutzen und neue Wege beschreiten, die zu besseren Ergebnissen führen könnten. Erfinden müsste man ein solches Verfahren nicht einmal, es existiert bereits.

Literatur:

Ackerman, Bruce & Fishkin, James S. (2005). Deliberation Day. Yale University Press.

Fishkin, James S. (2009). When the People Speak. Deliberative Democracy and Public Consultation. Oxford University Press.

 

Regierung wankt, Opposition zerfällt – die Bundespräsidentenwahl im Lichte der Tagespolitik

AndreaDer lange Wahltag hat uns nicht nur einen neuen Bundespräsidenten beschert, sondern erwartungsgemäß auch Einblicke ins Innenleben der Bundesregierung gewährt. Insbesondere die beiden politisch-strategischen Großbaustellen der Regierung wurden sichtbar, die Inhalte und das Personal. Da trifft es sich für die Kanzlerin gut, dass auch die Opposition eine große Chance vertan hat. Dennoch muss sie die sich stellenden Probleme aktiv angehen:

Das Inhaltsproblem: Die schwarz-gelbe Regierung hat derzeit kein inhaltliches Projekt, auf das sie gemeinsam und mit aller Kraft hinarbeiten könnte. Eine solche Vision hätte auch die Gauck-Unterstützer in Union und FDP davon überzeugen können, der Regierung durch die Wahl von Christian Wulff im ersten Wahlgang neue Stärke zu verleihen. Die Wahl des Bundespräsidenten wäre dann einer klaren inhaltlichen Pfadabhängigkeit gefolgt und der neue Präsident hätte daraus einen Anschub und eine Inspiration für seine Amtszeit gewinnen können. So aber scheint es, dass sich einige Wahlfrauen und -männer eher von ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung als von der Hoffnung auf einen politischen Aufschwung haben leiten lassen.

Wenn aber die große inhaltliche Vision fehlt und einzig die Machtperspektive als Koalitionskitt wirkt, wird sich die Arbeit der Koalition auch weiterhin an Detailfragen aufhalten und die dringed nötigen großen Würfe nicht leisten können. Solange die Verbindung zwischen Schwarz und Gelb eine reine Vernunftsehe ist, liegt das Augenmerk aller auf schnellem, konkretem Zugewinn in einzelnen Sachfragen. Wenn dieser Zugewinn aber ausbleibt, kommt es über kurz oder lang zur Scheidung. Ein umfassendes Credo, das aus Schwarz-Gelb ein echtes Projekt macht, ist somit nötiger denn je.

Das Personalproblem: Christian Wulff ist ein ausnehmend junger Bundespräsident. Dies kann sich gesellschaftspolitisch sehr positiv auswirken, aus Sicht der Regierung jedoch wirft dieser Umstand Fragen auf: Ist es klug, im politischen Alltagsgeschäft auf einen solchen erfolgreichen Politiker zu verzichten? Und könnte sich der Schritt, diesen Kandidaten zu nominieren, als Bumerang entpuppen, der die dünne Personaldecke offen legt? Angela Merkel hätte die Bundespräsidentenwahl zum Anlass nehmen können, ihre Regierung umzubilden. Man kann nur darüber spekulieren, ob sie dies bewusst nicht getan hat oder schlichtweg keine personellen Alternativen gesehen hat. Ein ernstzunehmender inhaltlicher Neustart wird jedenfalls ohne die dazu passenden Personen nicht funktionieren.

Und was wird eigentlich ein Ex-Bundespräsident Christian Wulff eigentlich seiner Amtszeit machen? Er wäre dann 56 respektive 61 Jahre alt; andere wollten in diesem Alter Kanzler werden… Niemand unterstellt ihm derartige Ambitionen, es ist allerdings auch nicht damit zu rechnen, dass er sich nach Ablauf seiner Amtszeit in den Vorruhestand begibt. Wenn er seine Karriere fortsetzen würde, müsste er sich fragen lassen, ob er sein jetziges Amt wirklich vollkommen überparteilich und ohne jegliches Karrierekalkül ausführen kann. Auch Angela Merkel wird ihm diese Frage beizeiten stellen…

Bei alledem kann aus Sicht von Schwarz-Gelb zumindest das Verhalten der Linken beruhigend wirken. Sie haben die Chance vertan, durch eine Unterstützung von Joachim Gauck einen Teil ihrer Geschichte aufzuarbeiten und zugleich ein koalitionspolitisches Signal zu setzen, das SPD und Grüne nicht hätten übersehen können. So aber scheint diese Option wieder einmal vom Tisch zu sein. Das Spektrum möglicher Koalitionen nach der nächsten Bundestagswahl hat sich verkleinert und ohne eine koalitionsfähige Linke wandert die politische Mitte wieder ein Stück nach rechts. Angela Merkel mag große und schwierige Aufgaben vor sich haben – ihre Chancen, noch einmal Kanzlerin in einer großen Koalition zu werden, sind aber am gestrigen Tag gestiegen…

 

Deutschlands oberste Tigerente, oder: Zur (Aus-)Wahl des Bundespräsidenten

AndreaChristian Wulff wird – aller Voraussicht nach – der zehnte Bundespräsident Deutschlands. Das scheint eine gute Wahl zu sein, der Kandidat ist über die Parteigrenzen hinweg beliebt. Darüber hinaus gilt er als überaus kompetent und seriös, kurzum: Man traut ihm zu, ein guter Präsident zu sein. Und auch parteipolitisch hat er Rückenwind: Als Ministerpräsident in Niedersachen führt er seit sieben Jahren eine erfolgreiches schwarz-gelbes Bündnis, das der angeschlagenen „Tigerenten-Koalition“ (Maybritt Illner) auf Bundesebene als Vorbild dienen kann. Soweit die gute Nachricht.

Die schlechte Nachricht aber ist, dass die Kandidatensuche das eklatante Nachwuchs- und Rekrutierungsproblem der deutschen Politik sehr deutlich gemacht hat. Nach dem kurzen Experiment, mit Horst Köhler einen Kandidaten abseits der Parteipolitik zu wählen, kommt nun wieder ein Parteisoldat zum Zuge. Solche Erfahrung sei wichtig in diesem Amt, heißt es allerorten. Es lässt sich also festhalten, dass auch der Karriereweg des Staatsoberhauptes unweigerlich über die Partei führt.

Warum das problematisch ist, zeigt ein Blick auf den „Ausbildungsgang Berufspolitiker“: In den Parteien lernen angehende Politiker das Handwerkszeug, durch die zu absolvierende „Ochsentour“ entwickeln sie entscheidende Qualitäten wie Durchsetzungskraft und Durchhaltevermögen. Mittlerweile haben über 40% der Parlamentarier keinen anderen Beruf erlernt als den des Politikers. Während man früher nach einer Tätigkeit jenseits der Politik quasi als zweite Karriere in die Politik ging, führt jetzt mehr und mehr der Weg direkt dorthin.

Mediale oder integrative Kompetenzen sind für das Hocharbeiten innerhalb einer Partei nicht erforderlich; für das Amt des Bundespräsidenten sind sie gleichwohl zentral. Er muss die Medien bedienen können und seine Popularität in der Bevölkerung wird zum entscheidenden Maßstab für Erfolg oder Misserfolg. Dafür muss er einen Stil entwickeln, der das beinhaltet, was Max Weber in seinen Ausführungen als Charisma bezeichnet hat. Denn in den Worten Webers qualifiziert sich ein Politiker in erster Linie durch Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Dies sind allerdings Qualitäten, die man sich nicht in einem Crash-Kurs antrainieren kann und die eine moderne Parteikarriere auch nicht unbedingt fördern.

Christian Wulff hat die persönliche Ausstrahlung und das Charisma, das ein Bundespräsident braucht, um sich Gehör zu verschaffen. Dennoch muss seine Nominierung als vertane Chance gesehen werden. Nicht nur wird somit abermals ein männlicher Kandidat aus einem westdeutschen Bundesland ins Rennen geschickt; es ist insbesondere schade, dass der enge Karrierepfad zum Bundespräsidialamt, der mit der Wahl Horst Köhlers ein Stück weit aufgebrochen wurde, nun wieder zuzementiert wird. Die erste Reaktion von Angela Merkel nach dem Rücktritt Horst Köhlers war viel versprechend: Sie wolle einen Kandidaten suchen, der von allen Parteien getragen werden könne. Die Entscheidung für Wulff ist jedoch eindeutig parteipolitisch motiviert und so wird ihm nun das Image des schwarz-gelben Präsidenten anheften. Damit könnte die Wahl zugleich Signalwirkung für die kommenden Jahre haben: Das Staatsoberhaupt könnte zunehmend parteipolitisch vereinnahmt werden. Dadurch könnte es auch Amtsträgern, die über die nötigen Qualitäten verfügen, zukünftig schwerer fallen, über der Parteipolitik zu stehen.

Literaturhinweise:

Max Weber: Politik als Beruf. München, 1919.

Thomas Leif: Angepasst und ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Gütersloh, 2009.

Andrea Römmele: Elitenrekrutierung und die Qualität politischer Führung. Zeitschrift für Politik (3), 2004, S.

 

Die Desintegration der CDU, oder: there are no leaders without followers!

AndreaDie Union hat den zweiten Rücktritt innerhalb einer Woche zu verkraften: Nach der Ankündigung des hessischen Ministerpräsidenten und CDU-Vize Roland Koch, sich aus seinen politischen Ämtern zurückzuziehen, ist nun Bundespräsident Horst Köhler von seinem Amt zurückgetreten. Dies wird ohne Zweifel die bisher härteste Probe für Angela Merkel, die nun mit Blick auf das Bundespräsidialamt Entscheidungen zu fällen hat, die auch das von ihr geführte Kabinett betreffen könnten. Und abgesehen von personellen Fragen kommt eine weitere, noch größere Herausforderung auf die Parteichefin zu. Denn wir beobachten bei der CDU strukturell gesehen nun Tendenzen, wie sie sich auch bei der SPD der späten Schröder-Jahre gezeigt haben: Wenn nicht alle parteiinternen Strömungen angemessen abgebildet werden können, verliert die Partei ihre Integrationskraft und dadurch nicht zuletzt auch ihren Markenkern.

Dabei gibt es zwischen den beiden Volksparteien jedoch mindestens einen wichtigen Unterschied: Während die Zersetzung der SPD mit der massiven Abwanderung der Wähler (und mancher Politiker) zur Linken zu einer massiven Verschiebung innerhalb des Parteiensystems geführt hat, ist nicht abzusehen, ob die enttäuschten Köpfe und Anhänger der Union ebenfalls in anderen parteilichen Gruppierungen des Systems aufgefangen werden können oder aber nach außen abwandern werden – die Politiker beispielsweise in die Wirtschaft, die Parteianhänger zur großen Gruppe der Nichtwähler. Die Worte von Roland Koch, er sehe für sich keinen ausreichenden politischen Gestaltungsspielraum, müssen so gesehen in der gesamten Union und auch darüber hinaus als Warnsignal verstanden werden. Denn die Alternative zur Repräsentation solcher Strömungen in Parlamenten und Regierungen ist, dass sie nicht repräsentiert sind.

Horst Köhler hätte gerade in Zeiten der Finanzkrise mit all seiner national und international gesammelten Expertise durchaus wichtige Akzente setzen können. Er hat es jedoch nicht getan und hinterlässt daher auch keine große Lücke. Allerdings macht er das große politische Problem der CDU deutlich, das zwangsläufig zur großen politischen Herausforderung Angela Merkels werden wird: Gelingt es ihr, personell wie strukturell alle Positionen ihrer Partei aufzunehmen? Oder hält der aktuelle Trend der Desintegration in der Union an?

 

Punktlandung?

AndreaNordrhein-Westfalen hat gewählt, eine klare Aussage getroffen hat es aber nicht. Mit Ausnahme einer großen Koalition ist kein Zwei-Parteien-Bündnis möglich und sämtliche Dreierkonstellationen wurden vor der Wahl entweder als nicht realisierbar befunden (Rot-Rot-Grün) oder definitiv ausgeschlossen (Ampel und Jamaika). Dies lässt die Parteien in einer Patt-Situation zurück und es scheint, als ob diejenige, die den ersten Zug wagt, das Spiel verlieren würde.

Doch was landespolitisch sehr kompliziert und nicht minder heikel daherkommt, könnte für Frau Merkel aus bundespolitischer Sicht ein Optimalzustand sein. Natürlich hat sie sich in den Wahlkampf einbringen müssen und natürlich wollte sie einen Absturz ihrer Partei in die Opposition verhindern. Eine Fortführung des schwarz-gelben Bündnisses jedoch hätte sie andererseits unter erheblichen Zugzwang gesetzt. Derzeit jedoch stehen viele Zeichen auf große Koalition, sodass sich der Erhalt der Regierungsverantwortung in NRW mit der stärkeren Einbindung der SPD in der Bundespolitik paaren könnte, womit die Grundlage für breite Konsense in unpopulären Fragen geschaffen wäre. Zudem legt das Wahlergebnis auch noch nahe, dass die CDU durch ihren denkbar knappen Vorsprung vor der SPD in einer solchen Koalition weiterhin den Ministerpräsidenten stellen würde, dieser aber wohl nicht mehr Jürgen Rüttgers heißen würde, da sich die herben Verluste der Union auch mit seiner Person verbinden. Dem innerparteilichen Kontrahenten wäre somit der Boden für bundespolitische Ansprüche entzogen, zugleich könnte sich aber auch mit Hannelore Kraft keine Persönlichkeit der SPD als starke Ministerpräsidentin etablieren und ihrer Partei inmitten der schwierigen Identitätssuche ein prägendes Gesicht geben.

Eine große Koalition in NRW würde Deutschland bereits ein gutes halbes Jahr nach Antritt der schwarz-gelben Bundesregierung wieder zu dem machen, was es nach Ansicht der Wissenschaft schon immer war: ein Staat der großen Koalitionen. Nur selten konnten Regierungen auf Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bauen, zumeist waren also Kompromisslösungen und Abstimmungen über die Parteigrenzen hinweg sowie zwischen Bundes- und Länderebene nötig. Gerade in Krisenzeiten könnte dies nicht nur gut für die Bundeskanzlerin sein, der die moderierende Rolle liegt und die dafür zu Zeiten der Großen Koalition im Bund auch sehr geschätzt wurde. Sondern auch gut für Deutschland, das auf diese Weise Parteienstreits, symbolischer Politik etc. entgehen könnte. So gesehen hätte das Wählervotum in NRW in all seiner Unklarheit doch den politischen Willen vieler auf den Punkt gebracht.