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Köhler fordert mehr Rechte für die Wähler – warum eigentlich?

Bundespräsident Horst Köhler hat heute in einer Rede im Rahmen des Festakts „Frankfurt – Weimar – Bonn – Berlin, Deutschlands Weg zur Demokratie“ aus Anlass des 160. Jahrestages der ersten deutschen Verfassung eine Änderung des deutschen Wahlrechts ins Spiel gebracht. In seinem Redemanuskript heißt es:

„Wir sollten auch Änderungen des Wahlrechts diskutieren, die den Wählerinnen und Wählern mehr Einfluss darauf geben, welche Kandidaten auf den Wahllisten der Parteien ein Mandat bekommen – es müssen ja nicht immer nur die sein, die oben stehen.“

Natürlich sind Vorschläge, den Wählern mehr Einfluss zu geben und ihre politischen Einstellungen präziser und detaillierter zu erfassen, grundsätzlich zu begrüßen. Wahlsysteme, die den Wähler die Möglichkeit der „Präferenzstimmgebung“ einräumen,  gehören dazu. Wähler dürfen über die Parteipräferenz hinaus noch bestimmte Kandidaten auswählen.

Solche Systeme gibt es auch in der politischen Praxis schon – sowohl international als auch in Deutschland. Das Wahlsystem, das bei bayrischen Landtagswahlen zum Einsatz kommt, funktioniert in genau dieser Logik: Mit der Erststimme wählen die Bayern einen Direktkandidaten aus ihrem Wahlkreis, mit der Zweitstimme wählen sie einen einzelnen Kandidaten aus den von Parteien angebotenen Listen.

Und wie nutzen die bayrischen Wähler dieses System (das die Bayern übrigens ganz bescheiden als „verbesserte Verhältniswahl“ bezeichnen)? Sie machen von dieser Möglichkeit der Präferenzstimmgebung wenig Gebrauch. Die größten Nutznießer dieses Wahlsystems sind die Kandidaten, die auf Platz 1 der Liste stehen. Faktisch machen die Wähler aus dem kandidatenzentrierten Wahlsystem ein parteizentriertes Wahlsystem, indem die überwiegende Mehrheit von ihnen schlicht den erstbesten Kandidaten auswählt. Weitere Nutznießer sind „Prominente“ auf den Listen.

Warum machen die Wähler das? Sie gehen in effizienter Art und Weise mit dem Wahlsystem um. Viele Kandidaten werden sie nicht kennen (empirische Studien belegen das eindeutig), also nutzen sie einfache Entscheidungsregeln. Dafür ist ihnen überhaupt kein Vorwurf zu machen – nur ob diese Entscheidungsregeln „besser“ sind als die internen Entscheidungsregeln von Parteien, ist zumindest eine diskussionswürdige Frage.

 

Die wahre Dimension der Arbeitslosigkeit und ihre Folgen

Der jüngste Arbeitsmarktbericht der Bundesagentur für Arbeit weist eine Zahl von rund 3,5 Millionen Arbeitslosen auf – eine Zahl, die einerseits noch immer erschreckend hoch ist, die aber andererseits im Vergleich zu den Höchstständen von über fünf Millionen, die in den ersten Monaten des Jahres 2005 zu verzeichnen waren, noch moderat erscheint.

Die Lage ist dennoch düster – düsterer noch, als diese Zahlen suggerieren:

1) Die Zahl der Menschen, die Kurzarbeitergeld beziehen, ist förmlich explodiert: von 50.000 auf über 400.000. Dies ist aus objektiven wie subjektiven Gründen von zentraler Bedeutung: Objektiv, weil es die Turbulenzen, in denen sich der Arbeitsmarkt aktuell befindet, widerspiegelt und davon auszugehen ist, dass – geschieht nicht ein neues Wirtschaftswunder – aus diesen Kurzarbeitern über kurz oder lang Arbeitslose werden. Subjektiv, weil die Betroffenen durch die Kurzarbeit ein eindeutiges Signal bekommen, dass ihr Arbeitsplatz in Gefahr ist.  Sorge um den Arbeitsplatz ist dabei eine im Vergleich zu tatsächlicher Arbeitslosigkeit nicht minder gewichtige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Aus der Stressforschung etwa ist bekannt, dass die Erwartung eines misslichen Ereignisses mindestens so viel Stress, Unzufriedenheit und Ohnmacht auslöst wie der Eintritt des Ereignisses selbst.

2) Die Zahl von aktuell 3,5 Millionen Arbeitslosen besagt, dass 3,5 Millionen Personenmonate an Arbeitskraft, die im Monat Februar verfügbar gewesen wären, von der deutschen Volkswirtschaft nicht genutzt wurden. In ähnlicher Logik sind auch die Jahresmittel, die die BA vermeldet, zu deuten. Diese Zahlen sagen aber überhaupt nichts darüber aus, wie viele Menschen tatsächlich im Laufe eines Monats oder eines Jahres tatsächlich selbst für einen mehr oder minder langen Zeitraum arbeitslos waren. Arbeitslosigkeit ist ein dynamisches Phänomen. Joseph Schumpeter hat in einem anderen Zusammenhang das Bild eines Bus‘ benutzt, Schumpeter (1985: 170) in anderem Zusammenhang das Bild eines Omnibusses, „der zwar immer besetzt ist, aber von immer anderen Leuten“.  Im Einzelfall sehen die Verweildauern höchst unterschiedlich aus: Manche Leute steigen – um im Schumpeter’schen Bild zu bleiben – früher aus dem Arbeitslosenbus wieder aus als andere, einige steigen häufiger zu, andere nie. Arbeitslosigkeit ist für manche Betroffene nur eine kurze, transitorische Phase, während sie sich für andere zu einem Dauerzustand entwickelt. In der Konsequenz aber bedeutet dies in jedem Fall, dass innerhalb eines Jahres weitaus mehr Menschen Arbeitslosigkeit am eigenen Leib erfahren, als es die in der öffentlichen Diskussion dominierenden Zahlen der amtlichen Statistik nahelegen.

3) Dabei bleibt immer noch unberücksichtigt, dass Menschen auch indirekte Erfahrungen von Arbeitslosigkeit machen können – über den Haushalt oder Freunde und Bekannte. Auf einen Arbeitslosen kommen immer weitere Haushaltsangehörige, die dadurch – wie es Thomas Kieselbach formuliert hat – zu „Opfern-durch-Nähe“ werden. Daten aus den ZDF-Politbarometer-Erhebungen zeigen zudem, dass in Ostdeutschland nahezu jeder im Kreise seiner „Nahestehenden“ Menschen kennt, die arbeitslos sind. Auch in Westdeutschland ist es nahezu jeder Zweite.

Differenzierter betrachtet ist Arbeitslosigkeit bereits heute ein allgegenwärtiges Massenphänomen. Und es ist zu befürchten, dass sich die Situation noch weiter verschlechtern wird. Dass Arbeitslosigkeit in diesem Umfeld das Thema wird, dass – wieder einmal – die bevorstehende Wahl dominieren wird, ist keine kühne Prognose. Die finanziellen Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise mögen bislang an vielen Menschen noch vorbeigegangen sein, Folgen auf dem Arbeitsmarkt spürt nahezu jeder. An ihren Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Abfederung ihrer Folgen werden sich Parteien und Politiker messen lassen müssen.

 

Erwin Sellering und die DDR

Erwin Sellering („mein Bekanntheitsgrad [lässt sich] bundesweit sicher noch steigern“) hat mit einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (erstmals) für Aufsehen gesorgt. Was hat er gesagt?

„Es ist ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.“

Schauen wir uns doch im Vergleich dazu mal an, was Bevölkerungsumfragen der jüngeren Vergangenheit an Ergebnissen liefern:

  1. Im Allbus – der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften – stimmten 2006 73,9 Prozent der ostdeutschen Befragten der Aussagen zu: „Der Sozialismus ist im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde“. Auch bei 47,1 Prozent der Westdeutschen stößt die Aussage auf Zustimmung.
  2. Im Allbus 2000 gaben 54 Prozent der ostdeutschen Befragten an, sich mit der früheren DDR verbunden zu fühlen.
  3. In einer Wahlstudie zur Bundestagswahl 2002 gaben 32 Prozent der ostdeutschen Befragten an, ihr persönlicher Lebensstandard sei vor der Wende besser gewesen; 56 Prozent fanden die Einkommensverteilung gerechter; 78 Prozent fanden die soziale Sicherheit besser; 80 Prozent fanden den Zusammenhalt der Menschen untereinander besser; 75 Prozent fühlten sich besser vor Verbrechen geschützt.

Ministerpräsident Sellering scheint mit seinen Aussagen also keineswegs allein zu sein.

 

Kieler OB-Wahl: Kein gutes Zeichen für das Superwahljahr

Auf den ersten Blick scheint alles in bester Ordnung: Ein demokratischer Machtwechsel vollzieht sich in der Landeshauptstadt Kiel. Torsten Albig (SPD), bislang Sprecher von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück in Kiel, löst die bisherige Oberbürgermeisterin, Angelika Volquartz (CDU) ab; 52,1 Prozent der Kieler haben sich am vergangenen Sonntag für ihn entschieden und ihm damit schon im ersten Wahlgang – durchaus eine Überraschung – eine absolute Mehrheit verschafft. Democracy at work! Oder?

Ein bitterer Beigeschmack haftet der Wahl an: Nur 36,5 Prozent der Wahlberechtigten haben nämlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht – kaum mehr als jeder Dritte; in einigen Kieler Wahlkreisen waren es sogar weniger als 20 Prozent. Vier von fünf Wahlberechtigten sind dort am Wahltag zu Hause geblieben. Die Mehrheit von Albig ist vor diesem Hintergrund keineswegs absolut: Umgerechnet auf die Zahl der Wahlberechtigten genießt Albig die Unterstützung von gerade einmal 19 Prozent der Kieler! Und dies trotz der Tatsache, dass gerade die SPD (und in Reaktion darauf auch die CDU) mehrfach ihre bundespolitische Prominenz vor Ort aufgefahren hat. Merkel, Steinmeier, Steinbrück – sie alle waren in Kiel, die Wähler insgesamt mobilisiert haben sie kaum. Ebenso wenig wie die anderen Kandidaten und Parteien. Bei der vorausgehenden OB-Wahl hatten immerhin noch knapp 50 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Insgesamt kein gutes Zeichen für das Wahljahr 2009.

 

The Rise and Fall of Oskar Lafontaine, zumindest was die Sympathiewerte betrifft

Heute vor zehn Jahren trat Oskar Lafontaine als SPD-Parteivorsitzender und Bundesfinanzminister zurück – der Höhepunkt der Turbulenz einer turbulenten Karriere. In der Beliebtheit der Bevölkerung hat Lafontaine alle Höhe und Tiefen erlebt. Seit 1987 fragt die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen in ihren Politbarometer-Erhebungen nach seiner Sympathie (gemessen auf einer Skala von -5 bis +5), lediglich unterbrochen rund um das Jahr 1996 sowie nach seinem vorübergehenden Rückzug ins Privatleben nach 1999.

Seinen Höhepunkt erlebte Lafontaine im Vorfeld der Einheitswahl im Sommer 1990: Im Durchschnitt erzielte er dort Werte von +2! Allerdings konnte er dieses Hoch nicht bis zur Bundestagswahl im Dezember konservieren – die SPD mit ihm als Kanzlerkandidat verlor die Wahl. Pensions- und Rotlichtaffäre finden 1992/1993 ihren deutlichen Niederschlag in seinen Sympathiewerten. Nach dem Wahlsieg 1998 stieg auch das Ansehen Lafontaines deutlich – mit seinem Rückzug stürzte er ab. Ende 2005 – mittlerweile Vorsitzender der Linkspartei – war aus +2 -2 geworden. Eine turbulente Karriere…

 

Mission Statement

Wahlen nach Zahlen bietet empirisch fundierte wissenschaftliche Analysen rund um das Wahljahr 2009: Landtagswahlen, Bundespräsidentenwahlen, Kommunalwahlen und die Bundestagswahl. Ausgewiesene Forscher unterschiedlicher Universitäten nehmen hier kurz und prägnant zu Wahlkämpfen, Wahlausgängen und Koalitionsverhandlungen Stellung – aktuell, informativ, empirisch fundiert. Wir möchten so einen engagierten Beitrag zur öffentlichen Diskussion liefern, den Medien die Ergebnisse unserer Forschung in einem lebendigen und immer wichtiger werdenden Format präsentieren und so einladen zum Gedankenaustausch.