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Bundeswehrreform und Auslandseinsätze: Der Verteidigungsminister in Übereinstimmung mit den Deutschen?

Seit Monaten ist Verteidigungsminister zu Guttenberg der Spitzenreiter in allen Umfragen zur Beliebtheit von Politikern. Einige Kritiker weisen jedoch darauf hin, der Minister müsse erst noch zeigen, dass er schwierige Entscheidungen treffen und durchsetzen könne. Denn dann könnte die Beliebtheit des Ministers beim Wahlvolk rasch nachlassen. Dabei verweisen sie nicht zuletzt auf die anstehende Reform der Bundeswehr. Wie steht es also um die Unterstützung der Bürger für diese Vorhaben?

Die Aussetzung der Wehrpflicht und der damit verbundene Übergang zu einer Freiwilligenarmee findet in der Gesellschaft weitgehend positive Resonanz. Wie die Ergebnisse einer telefonischen Befragung von 1162 zufällig ausgewählten Bundesbürgern, die zwischen 21. Oktober und 25. November 2010 vom Bamberger Centrum für Empirische Studien (BACES) durchgeführt wurde, votieren über Parteigrenzen hinweg zwischen 60 und 80 Prozent der Befragten für den faktischen Abschied von der Wehrpflichtarmee.

Auch die angestrebte Verkleinerung der Bundeswehr stößt nicht auf Widerstand in der Gesellschaft. Knapp die Hälfte der Befragten kennt die momentane Truppenstärke nicht einmal der Größenordnung nach, was auf geringes Interesse an der Bundeswehr hindeutet. Gefragt nach der gewünschten Truppenstärke, machen 20 Prozent der Befragten keine Angabe. Von den übrigen Befragten sprechen sich gut 10 Prozent für die vom Minister angestrebten 180.000 Soldaten aus, jeweils knapp 20 Prozent sogar für eine Reduzierung auf 100.000 oder 150.000 Soldaten. Ein solches Meinungsklima macht es Gegnern einer Verkleinerung nicht leicht, wirksamen Widerstand zu organisieren.

Beim Umbau der Bundeswehr kann der Minister also eher mit Rücken- als mit Gegenwind aus der Gesellschaft rechnen. Das sieht anders aus, wenn es um den Einsatz der Bundeswehr geht. Die Deutschen lehnen den Einsatz militärischer Mittel zwar nicht rundweg ab, betrachten bestimmte Einsätze jedoch mit großer Zurückhaltung. So spricht sich eine große Mehrheit gegen militärische Eingriffe zur Beseitigung von Gewaltherrschern, wie etwa im Irak, aus. Gar nur jeder zehnte Befragte befürwortet die Idee, wirtschaftliche Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Als der Minister jüngst – wie vor ihm Horst Köhler – die These vertrat, Wirtschaftsinteressen militärisch zu sichern, hatte er demnach die große Mehrheit der Deutschen gegen sich. Sollte die Bundesregierung in die Verlegenheit geraten, über einen vorwiegend wirtschaftlich begründeten Militäreinsatz zu entscheiden, wäre die Öffentlichkeit dafür nicht leicht zu gewinnen. Hier könnte das Ansehen des Ministers beträchtlichen Schaden nehmen – oder ihm würde die Überzeugungsarbeit gelingen, was für manchen Beobachter wohl mehr als ein politisches Gesellenstück wäre.

 

Eine kulturelle Konfliktlinie

Spätestens seit dem Regierungsantritt der Großen Koalition im Jahr 2005 hatte die CDU/CSU ihre bis dato ausländerkritische Haltung zugunsten einer Integrationsoffensive (Integrationsgipfel, Islamkonferenz) zurückgestellt. Die beiden Unionsparteien schienen (endlich) in der Realität der „Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland“ (Klaus Bade) angekommen zu sein, die sie mehrheitlich fast eine ganze Generation lang negiert hatten. Als „Anerkennung und Eingliederung anstatt Ignoranz und Ausgrenzung“ könnte man diese Phase der unionsgeführten Migrationspolitik überschreiben. Das vorläufige Ende dieser Phase wurde vom neuen Bundespräsidenten Christian Wulff eingeläutet, indem er bei Amtsantritt nicht nur – wie vor ihm bereits Johannes Rau – erklärte, Präsident aller in Deutschland lebenden Personen zu sein, sondern dadurch, dass er am Tag der Deutschen Einheit darüber hinaus feststellte, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre.

Dass diese – in der Beschreibung korrekte – Äußerung nun zu einer Art „Backlash“ in den Reihen der Union, einer reflexartigen Gegenpositionierung hinter eine vor allem von der CDU mühevoll errungene, realitätsnähere Politikposition führt, hat situative, strategische, aber auch im Parteienwettbewerb fest verankerte Gründe. Die situativen Gründe sind offenbar: Die Regierung hatte einen katastrophalen Start, von dem sie sich – für viele Beobachter überraschend -, bislang nicht erholen kann. Mit der Steuer-, Atom- und Gesundheitspolitik macht sich Schwarz-Gelb bislang wenig Freunde, und mit Stuttgart 21 hat sich auch noch eine „baugleiche“ Landesregierung ins Taumeln geprügelt. Selbst Stammwähler von Union und FDP geraten derzeit ins Grübeln darüber, ob sie diese Politik unter Anwendung dieser Mittel noch gutheißen können.

Aus strategischer Sicht spiegelte der Wandel der Union zu einer grundsätzlich zuwanderungsoffenen, in jedem Fall aber integrationsbejahenden Inländer-Partei auch den Wunsch wider, für Deutsche mit Migrationshintergrund, die inzwischen ein erhebliches Wählerpotenzial darstellen, wählbar zu werden. Die wenigen Analysen, die sich 1999-2002 mit dem Wahlverhalten von Migranten in Deutschland beschäftigt haben, kommen zum Schluss, dass die Union zwar unter den Aussiedlern und Spätaussiedlern hohe Stimmenanteile (über 60 Prozent) erhalten hat, dass sie jedoch unter ehemaligen ausländischen Arbeitnehmern und insbesondere unter türkeistämmigen Wählern chancenlos ist (rund 10 Prozent). Während die Zahl der wahlberechtigten Spätaussiedler stagniert, nimmt die Zahl der wahlberechtigten Türkeistämmigen zu. Und neueste Untersuchungen zur Bundestagswahl 2009 (in Vorbereitung) geben Grund zur Annahme, dass die hohe Zustimmung für die CDU/CSU bei Russlanddeutschen deutlich nachlässt, während Gewinne der Union bei den Türkeistämmigen marginal sind. Die Tatsache, dass die leicht veränderte Migrationspolitik an der Wahlurne keine Früchte trägt, ist ein möglicher Grund für die erneute Positionsänderung der Union. Der andere, wahrscheinlich gewichtigere Grund ist der vermeintlich „rechte“ Rand der Bevölkerung, den man zusätzlich zu Teilen der politischen Mitte nicht auch noch verlieren möchte. Die Union fürchtet nicht nur den alten Bahnhof, sondern auch einen deutschen Geert Wilders und vor allem den Verlust von Regierungsmehrheiten bei Landtagswahlen, der auch Auswirkungen auf die Regierungsstabilität im Bund haben würde.

Doch der eigentliche Konflikt, der zunächst in den Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten offenbar wurde, sitzt deutlich tiefer. Den Unionsparteien ist es bislang gelungen, die Vorstellung einer ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft mit ihrem Parteinamen exklusiv und gleichzeitig wählbar zu verbinden. So erstaunt es nicht, dass eine Analyse der Einstellungen der Bundestagskandidatinnen und -kandidaten des Jahres 2005 ergab, dass die Parteizugehörigkeit zur CSU einerseits und zu den Grünen andererseits, Extrempositionen in der Frage des Zuzugs von Einwanderern aus demographischen und ökonomischen Gründen darstellen. Während also Grünen-Politiker aufgrund des Arbeitsmarktes und der demographischen Entwicklung häufig die Notwendigkeit von Zuwanderungsregelungen sehen, sind CSU-Politiker selten dieser Ansicht. Insofern sagt Horst Seehofer nur das, was in seiner Partei gedacht wird. Und auch bei der Frage nach kultureller Anpassung von Einwanderern an die deutsche Gesellschaft nehmen die Kandidatinnen und Kandidaten von CSU und Grünen gegensätzliche Positionen ein, werden allerdings von den Politikern einer jeweils anderen Partei überboten: CDU und Linkspartei. Folglich überrascht es nicht, dass sich große Teile der CDU gegen die Vorstellung aussprechen, kulturelle Differenz sei Teil des christlichen Abendlandes (und müsste folglich mehr oder minder akzeptiert werden). Aus der wertfreien Perspektive eines Parteienwettbewerbs, der unterschiedliche Politikangebote machen sollte, ist gegen solch klare Positionen überhaupt nichts einzuwenden – im Gegenteil: Die Bürger wollen wissen, wofür und wogegen die Parteien stehen.

Langfristig betrachtet handeln CDU und CSU im wahrsten Sinne konservierend: Sie sind Wächter und Anbieter der gesellschaftlichen Vorstellung einer deutschen Nicht-Einwanderungsgesellschaft. Damit können sie den Großteil ihrer Stammwähler wahrscheinlich halten, sofern diese ihnen der Exkurs auf den Integrationsgipfel nicht nachtragen. Doch zu welchem Preis? Die mittel- und langfristigen Kosten eines solchen ethnisch-kulturellen Reflexes sind hoch, denn die Gesellschaft ist längst nicht mehr monokulturell oder gar monoethnisch (sie war es auch nie). Und für viele Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund wird es schwierig bleiben, einer Partei mit einem im Kern monoethnischen Gesellschaftsbild die Stimme zu geben. Für Muslime wird es nochmals schwieriger, denn es handelt sich auch noch um explizit christliche Parteien.

Die vielleicht interessantesten Reaktionen auf diese neuerliche Migrationsdebatte kommen von der FDP. Der Generalsekretär distanziert sich heute in der FAZ von ethnisch-religiösen Argumentationslinien und fordert „Eine republikanische Offensive“. Dazu gehöre sowohl eine Entkoppelung christlicher Konfessionen vom Staat (u.a. mit Blick auf die Kirchensteuer) als auch die Wahrnehmung kultureller Vielfalt als Freiheitsgewinn. Und Wirtschaftsminister Brüderle legt nach, indem er das bereits intensiv diskutierte, aber nicht eingeführte Punktesystem für (Arbeits)Migration wiederbelebt. Ein wenig hat es den Anschein, als versuche die FDP, sich in einem Politikfeld zu profilieren, in dem ihre Politiker bislang Mittelpositionen einnahmen und folglich kaum wahrgenommen wurden. Fakt ist aber auch, dass die FDP bei Integrationsfragen in der Regierung Kohl wiederholt kleinbei gab und damit ihre eigenen Ausländerbeauftragten beschädigte. Ein wenig sieht es schließlich aus, als wollten sich die Regierungsparteien gezielt unterschiedlich positionieren, um verschiedene Wählerklientele besser ansprechen zu können. Mitentscheidend wird dabei sein, wie authentisch sie dies tun werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Migrationspolitik im Sinne einer Konzeptualisierung von diesen vermeintlich politischen Manövern profitieren wird.

Literatur:
Wüst, Andreas M.: Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte B52/2003, S. 29-38.
Wüst, Andreas M.: Bundestagskandidaten und Einwanderungspolitik: Eine Analyse zentraler Policy-Aspekte, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 19 (1), 2009, S. 77-105.

 

Warum die Primarschule in Hamburg gescheitert ist

von Andrea Römmele und Henrik Schober

AndreaDer Hamburger Volksentscheid über die Schulreform hat eine eindeutige Siegerin hervorgebracht: die Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“. 58 Prozent der Wähler haben der Bürgerinitiative zugestimmt, während der konkurrierende Vorschlag, der immerhin von allen in der Hamburger Bürgerschaft vertretenen Parteien unterstützt wurde, nur 45,5 Prozent Zustimmung verzeichnen konnte.* Somit haben die Bürger entschieden, dass das bisherige System der vierjährigen Grundschule bestehen bleibt und das gemeinsame Lernen nicht auf sechs Jahre ausgedehnt wird.

Volksentscheide sind in Deutschland eine relative neue Form demokratischer Beteiligung und nicht zuletzt deshalb ist die Analyse des Hamburger Ergebnisses bundesweit von Interesse: Warum konnte sich der gemeinsame Vorschlag nicht durchsetzen? Lassen sich aus dem Scheitern dieses Vorzeigeprojektes Erfolgskriterien für Volksentscheide im Allgemeinen ableiten?

Unserer Ansicht nach gibt es zwei Argumente, die den Ausgang der Abstimmung erklären können.

Das Partizipationsargument: Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei 39,3 Prozent, hat sich allerdings zwischen den Stadtteilen stark unterschieden. Während in Nienstedten der Spitzenwert von 60,3 Prozent erreicht wurde, konnten in Billbrook gerade einmal 12,5 Prozent verzeichnet werden. Dabei ist auffällig, dass die Wahlbeteiligung in den sozial schwächeren Stadtteilen eher gering war, während sie in den wohlhabenderen Gegenden überdurchschnittlich hoch ausgefallen ist. Die beiden erwähnten Stadtteile sind dafür exemplarisch: Nienstedten verzeichnet mit 0,5 Prozent die geringste Arbeitslosenquote unter den Stadtteilen, Billbrook mit 15,4 Prozent die höchste.

Dies bestätigt einen gängigen Befund der Partizipationsforschung, nach dem die Wahlbeteiligung in sozial schwächeren Schichten generell niedriger ist als in den wohlhabenderen Schichten. Das Dilemma: Eigentlich sollte die Schulreform gerade für jene sozial Schwachen Vorteile bringen, sie konnten aber nicht mobilisiert werden. Dieser Umstand kam der Bürgerinitiative zu Gute: Ihr Plädoyer für den Erhalt des Gymnasiums hat insbesondere die wohlhabenden und partizipationsbereiten Schichten angesprochen. Der entsprechende Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau, Bildungschancen und politischer Partizipation wurde verschiedentlich nachgewiesen (siehe hierzu ausführlich van Deth 2009). Die Zielgruppe der Bürgerinitiative war also geradezu ideal dafür geeignet, das Regierungsvorhaben durch einen Volksentscheid zu kippen.

Das Kampagnenargument: Neben diesen sozialstrukturellen Argumenten können Aspekte aus dem Bereich der Kampagnenforschung herangezogen werden. Zum einen hat die Bürgerinitiative ihre Kampagne sehr viel früher begonnen als die Regierung. Ein Grund dafür liegt möglicherweise in der Diskussion darüber, ob sich die Bürgerschaft hätte neutral verhalten müssen, wie es von einigen Gegnern der Schulreform gefordert wurde. Zwar haben sich letztlich alle Parteien klar positioniert, allerdings hatte die Kampagne gegen die Schulreform zu diesem Zeitpunkt bereits einen gewaltigen Vorsprung. Dabei ist auch anzumerken, dass sich die Bürgerinitiative eine lange Kampagne leisten konnte. Es können somit zwei Grundregeln moderner Kampagnenführung bestätigt werden (siehe auch Perron und Kriesi 2008): Es lohnt sich, früh anzufangen und viel zu investieren!

Ein weiterer Vorteil der Kampagne gegen die Reform war, dass sie ihre Botschaft sehr viel plastischer und emotionaler darstellen konnte. Mit entsprechender Rückendeckung durch die Boulevardpresse wurde vor dem Qualitätsverlust des Gymnasiums und vor Nachteilen für begabte Kinder gewarnt. Die Wähler konnten so emotionalisiert und damit auch mobilisiert werden. Die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens hingegen, etwa der langfristige sozioökonomische Nutzen oder die Chancen auf bessere Integration, konnten nicht veranschaulicht werden. Ohne eine konkrete Vision ist es aber sehr schwer, die Zielgruppen zu mobilisieren oder gar andere Wähler zu überzeugen.

Aus Sicht der Wissenschaft liefert der Volksentscheid also keine neuen Erkenntnisse, sondern bestätigt die bestehenden Befunde. Die Befürworter der Primarschule konnten weder die bildungsferneren Zielgruppen ausreichend mobilisieren noch in den bildungsnahen Bevölkerungsschichten genügend Unterstützung einwerben. Zudem konnte der Vorsprung der Kampagne „Wir wollen lernen“ nicht mehr aufgeholt werden.

Was bleibt? Es gibt nach wie vor starke Unterschiede in der Partizipationsbereitschaft, die auch und gerade bei der Vorbereitung von Volksentscheiden berücksichtigt werden müssen. Die Kernfrage der Wahlkampfforschung lautet: do campaigns matter – machen Kampagnen einen Unterschied? Unter dem Eindruck des Hamburger Ergebnisses kann festgestellt werden: Wahlkämpfe können auch Volksentscheide maßgeblich beeinflussen, campaigns do matter

* Über die beiden Vorschläge wurde getrennt abgestimmt. Die Vorlage der Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ erhielt 58 Prozent Ja-Stimmen und 42 Prozent Nein-Stimmen, die Vorlage der Bürgerschaft erreichte einen Anteil von 45,5 Prozent Ja-Stimmen bei 54,5 Prozent Nein-Stimmen.

Literaturhinweise:

Van Deth, Jan W.: Politische Partizipation, in: Kaina, Viktoria/Römmele, Andrea (Hg.): Politische Soziologie. Ein Studienbuch. Wiesbaden, 2009.

Perron, Louis/Kriesi, Hanspeter: Neue Trends in der internationalen Wahlkampfberatung, in: Zeitschrift für Politikberatung 1(1), 2008.

 

Verschärft das Sparpaket die Energiearmut?

StruenckNoch ist nichts vom Bundestag beschlossen, noch sind die Details der Sparvorschläge gut getarnt. Dennoch wird es die Bezieher von Arbeitslosengeld II besonders treffen, so viel ist klar. Einer der Vorschläge richtet sich auf Heizkostenzuschüsse, die von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden. Die Bundesregierung will ihren Anteil nun ganz streichen. Doch das Problem würde damit nur in die Länder und Kommunen verschoben. Denn die Heizkostenzuschüsse für Langzeitarbeitslose wurden eingeführt, um die überproportional hohen Energiekosten armer Haushalte zu reduzieren. Nach Berechnungen der Verbraucherzentrale NRW müssen rund 20 Prozent der Bevölkerung mehr als 13 Prozent ihres Einkommens für Strom und Heizung ausgeben. Darunter fallen nicht nur die Bezieher von Arbeitslosengeld II. International spricht man vom Phänomen der „Energiearmut“, das hierzulande nur in Expertenkreisen diskutiert wird. In Großbritannien und anderen europäischen Ländern hingegen gibt es politische Programme, die sich diesem Problem widmen. Die Europäische Union hat ihre Mitgliedsstaaten aufgefordert, Lösungen zu entwickeln. In Deutschland verhallt der Aufruf bislang.

Können Haushalte ihre Rechnungen für Energie nicht bezahlen, wird ihnen häufig von den Energieversorgern der Strom gesperrt. Mit dieser Lösung sind allerdings auch die Unternehmen nicht glücklich, denn das Forderungsmanagement ist aufwändig und kostenintensiv. Bei den betroffenen Menschen wiederum häufen sich Schulden an. Oder die Wohnungen werden nicht richtig geheizt, was die Gesundheit der Menschen gefährdet und auch den Wohnungsbesitzern schadet. Heizkostenzuschüsse sind kein Allheilmittel gegen diese Entwicklung. Doch gut gedämmte Wohnungen stehen gerade armen Haushalten häufig nicht zur Verfügung. Solange in Deutschland keine breiten Strategien entwickelt werden, können Heizkostenzuschüsse die Situation bei Langzeitarbeitslosen vorübergehend lindern und Verschuldungsspiralen stoppen. Das Vorhaben der Bundesregierung zeigt: Die Herausforderung der Energiearmut wird ignoriert. Das ist kein gutes Zeichen für eine intelligente, nachhaltige Sozialpolitik.

 

Menschenwürde lässt sich nicht pauschalieren: Was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV für die Sozialpolitik bedeutet

StruenckWieder einmal kommt Wegweisendes aus Karlsruhe. Mit ihrem Urteil zur Berechnung der Regelsätze des Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“) haben die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts neben vielen Details eine zentrale Richtlinie vorgegeben: Pauschale Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern sollen, können nur „den durchschnittlichen Bedarf“ decken. Es gebe jedoch in Einzelfällen auch einen besonderen Bedarf, der „unabweisbar“ und „laufend“ sei, heißt es in der Urteilsbegründung.
Diese Richtlinie hilft zum Beispiel chronisch Kranken, die in Zukunft zusätzliche Leistungen bekommen werden, genau wie auch schulpflichtige Kinder. Diese Richtlinie relativiert aber auch ein zentrales Ziel der früheren Gesetzgebung, als Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen gelegt wurden. Denn unter anderem sollte die Auszahlung der Sozialleistungen massiv vereinfacht werden. Zuvor berechnete sich die alte Arbeitslosenhilfe nach dem früheren Einkommen. Also mussten jeweils individuelle Ansprüche ermittelt werden. Das kostete Geld und Personal.
Als das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde, gab es nur noch pauschale Regelsätze plus zusätzliche Leistungen wie Wohngeld und einige Sonderbedarfe. Die früheren Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosenhilfe waren im Grunde die Verlierer der Reform.
Doch dem Bundesverfassungsgericht ging es weniger um bestimmte soziale Gruppen, sondern um den Einzelnen und seine Menschenwürde. Sie zu bewahren, hängt vom konkreten Bedarf im Einzelfall ab. Pauschale Sozialleistungen passen nicht zu einer Grundsicherung, die ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren soll.
So weit, so klar. Wegweisend sind in Karlsruhe allerdings nicht nur einige Urteile, sondern auch deren Widersprüche. Sie sorgen meist dafür, dass so gut wie alle mit dem Urteil leben können, zum Beispiel auch die Bundesregierung. Denn an anderen Stellen haben die Richterinnen und Richter festgestellt, dass die derzeitigen Regelsätze nicht zu gering seien, um das physische Existenzminimum zu sichern. Ist das wirklich ein Widerspruch?
Wichtig ist die Betonung des „physischen“ Existenzminimums. Im Sozialrecht ist allerdings vielfach davon die Rede, dass das „sozio-kulturelle Existenzminimum“ gesichert werden solle. Die Richterinnen und Richter verwenden den Begriff des „menschenwürdigen Existenzminimums“. Dazu gehört nach ihrer Meinung nicht nur die physische Existenz, sondern auch ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Wenn aber die Regelsätze an sich ausreichen, um die physische Existenz zu sichern, und nur in Einzelfällen besondere Bedarfe hinzukommen, was ist dann mit denjenigen, bei denen keine besonderen Bedarfe feststellbar sind? Müssen die mit der Sicherung des physischen Existenzminimums zufrieden sein, entgegen der eigentlichen Leitlinie des Gerichts? Oder ist die Konsequenz dann nicht, dass alle Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II automatisch Anrecht auf zusätzliche Leistungen gemäß ihrem Bedarf haben? Bleibt dadurch auch das Lohnabstandsgebot zu den untersten Lohngruppen auf dem Arbeitsmarkt gewahrt?
Die Antwort auf diese offenen Fragen ist ebenfalls offen. Denn der Gesetzgeber habe „einen Gestaltungsspielraum“ bei der Bemessung des Existenzminimums. Das betrifft im Übrigen auch die Methode, die allerdings nachvollziehbar und offen sein müssen. Nur „Schätzungen ins Blaue hinein“ sind nicht vertretbar. Die bisherigen Methoden des Gesetzgebers waren aber häufig genau solche Schätzungen. Das heftig umstrittene Statistik-Modell, in dem die untersten 20 Prozent der Beschäftigten zum Maßstab genommen werden, ist hingegen durchaus akzeptabel.
Wie so oft hat der Gesetzgeber also auch einen Gestaltungsspielraum, wenn es darum geht, die Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen. Auch wenn dies durch politische Machtverhältnisse entschieden wird, hat das Gericht einen unumstößlichen Pflock eingeschlagen: Eine soziale Grundsicherung sollte zwar Gleichheit zum Ziel haben. Aber ihre Instrumente können und dürfen deshalb nicht gleich sein. Das gebietet die Menschenwürde.

 

Althaus und Magna, Rösler und die PKV, Hoff und Opel – zwei Thesen zu Lobbyismus und Politikberatung

AndreaMit dem Wechsel von Dieter Althaus zum Autozulieferer Magna beobachten wir wieder einmal den engen Zusammenhang zwischen Politik und Wirtschaft, nachdem erst kürzlich der Wechsel eines Vertreters der privaten Krankenkassen in das Gesundheitsministerium für Aufruhr gesorgt hatte. In solchen Zusammenhängen wird gerne von der „gekauften Republik“, von „Lobbykratie“ etc. geredet. Dies soll hier aus der Sicht der empirischen Sozialforschung in aller Kürze unter Berücksichtigung der neuen Forschungsergebnisse beleuchtet werden. Denn dass das Thema auch aus akademischer Sicht relevant ist, zeigen nicht zuletzt die Debatten, die derzeit in der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) und der Zeitschrift für Politikberatung (ZPB) geführt werden.*

These 1: Veränderungen in der Staatlichkeit verlangen nach mehr Politikberatung und nach anderen Formen der Politikberatung. Lobbyismus ist eine davon.

Mit steigenden Problemen, mehr Themen und mehr Schnittstellenmanagement steigt auch der Bedarf an Expertenwissen in der Politik. Dieses Wissen stellt nicht nur die Wissenschaft bereit; auch Unternehmen, auch die Wirtschaft produzieren es und dieses Wissen muss seinen Weg in die Politik finden. Aber: Die Grenze zwischen Wissensvermittlung und Beeinflussung, also Lobbying, ist fließend. Es bedarf strenger Transparenz-Regelungen, wie sie schon verschiedentlich eingefordert wurden, um drohendem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Immerhin geben laut einer Studie von LobbyControl 89,5% der Bundestagsabgeordneten an, einer Nebentätigkeit nachzugehen, für 33,6% bedeutet dies gar Einkünfte von über 1000 Euro monatlich bzw. 10.000 Euro jährlich. Zweifellos liegt in solchen außerpolitischen Engagements großes Potenzial für einen Austausch, von dem sowohl Politik als auch Wirtschaft profitieren. Jedoch hat die Studie von LobbyControl auch gezeigt, dass die Angaben der MdBs offensichtlich nur unzureichend überprüft werden – von echter Transparenz kann also keine Rede sein.

These 2: Das politische System muss Karrierewege aus der Politik heraus zulassen, denn auch die Wirtschaft braucht die Expertise der Politik.

Dass der Wissenstransfer von der Politik in die Wirtschaft stattfindet, ist zunächst ein gutes Zeichen. Sicher hat Magna gute Gründe dafür, sich die Dienste eines ehemals ranghohen Politikers wie Dieter Althaus zu sichern. Jedoch: Eine Karenzzeit, die „fliegende Wechsel“ verhindert und beispielsweise von LobbyControl auch schon gefordert wurde, ist unbedingt notwendig. Hier muss meiner Ansicht nach schärfer reguliert werden, um zu engen Verstrickungen zwischen altem Mandat und neuem Job vorzubeugen. Ein unrühmlicher Extremfall ist in diesem Zusammenhang die Berufung des ehemaligen hessischen Europaministers Volker Hoff zum „Vize-Präsidenten für Regierungsangelegenheiten“ des Autobauers Opel. Selbstbewusst traut er sich zu, trotz der neuen Funktion als Opel-Lobbyist parallel auch sein Landtagsmandat weiterführen zu können. In Abstimmungen, die Opel betreffen (das Unternehmen hat in den vergangenen Monaten bekanntlich einige Finanzspritzen der hessischen Landesregierung erhalten), werde er sich eben enthalten. Solche Aussagen machen selbst den liberalen Koalitionspartner nervös.

* Siehe die in Kürze erscheinenden Diskussionsbeiträge von Christian Humborg in ZPB 1/2010 sowie von Svenja Falk, Andrea Römmele, Henrik Schober und Martin Thunert in PVS 1/2010.

 

Kompetenzen und Konsequenzen – die Neuorientierung der SPD steht bevor

Andrea RömmeleWie lässt sich das Wahlergebnis vom Sonntag erklären, oder genauer gefragt: Wie lässt sich die historische Niederlage der SPD erklären? Zahlreiche Punkte werden derzeit diskutiert, in diesem Blog hat Andreas Wüst sehr anschaulich die beiden Kandidaten gegenübergestellt.

Aus Sicht der Wahlkampfforschung beeinflussen neben der Kandidatenfrage zwei weitere Faktoren die Wahlentscheidung: die Identifikation mit einer Partei und die ihr zugeschriebenen Kompetenzen in politischen Sachfragen. Mit sinkender Parteiidentifikation, die wir in allen etablierten Demokratien vorfinden, steigt logischerweise die Bedeutung von Themen und Kandidaten. Die folgenden Umfragedaten stellen die wahrgenommene Problemlösungskompetenz der Parteien zu bestimmten Sachfragen dar.

Parteikompetenzen April 2009

Kompetenzen April

Quelle: Infratest dimap, DeutschlandTrend April 2009

Die Daten sprechen eine klare Sprache: In nahezu allen wichtigen Themenbereichen liegt die CDU/CSU im Frühjahr deutlich vor der SPD, es gibt lediglich zwei klare Ausnahmen: der arbeitnehmerfreundlichere Umgang mit der Krise wird der SPD ebenso zugeschrieben wie die Kompetenz in ihrem Kernthema, der sozialen Gerechtigkeit.

Es ist den Sozialdemokraten im Laufe des Wahlkampfes jedoch nicht gelungen, in diesen Themengebieten weiter zu punkten, geschweige denn andere Themengebiete für sich zu gewinnen. Auch leichte Verbesserungen in manchen Bereichen ändern nichts am Gesamtbild. Für eine echte, durch Themen ausgelöste Trendwende wären Gewinne in viel größeren Dimensionen vonnöten gewesen – gerade dann, wenn der eigene Kandidat gegenüber der Amtsinhaberin klar zurückliegt.

Parteikompetenzen September 2009

Kompetenzen September

Quelle: Infratest dimap, DeutschlandTrend September 2009

Die Kombination von schlechten Kompetenzwerten und einem wenig überzeugenden Kandidaten kann das schwache Abschneiden der SPD also erklären – zumindest zum Teil. Wenn sich die Partei nun thematisch und auch personell neu aufstellt, zieht sie damit im Grunde die richtigen Schlüsse aus der Wahlniederlage. Allerdings ist zu bedenken, dass die Partei gerade im Wahlkampfendspurt in einigen Kompetenzbereichen noch leichte Zugewinne verbuchen konnte und auch der Spitzenkandidat zuletzt Boden auf die Kanzlerin gutmachen konnte. Ein tabula rasa könnte der SPD daher ebenso schaden wie ein „weiter so“. Dies alles spricht dafür, dass sich die Partei für die nötige Neuaufstellung Zeit nimmt und die anstehenden Entscheidungen mit Bedacht fällt.

 

Nur eine Frage der Definition? Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund

Erstmals hat sich am gestrigen Freitag der Bundeswahlleiter zur Anzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund bei einer Wahl geäußert. Auf Grundlage von Daten des Mikrozensus 2007 kommt er auf insgesamt 5,6 Millionen. Das entspricht 9 Prozent aller Wahlberechtigten und damit wahrscheinlich mehr als bei jeder vorherigen Bundestagswahl. 2,6 Millionen seien Spätaussiedler, 2,1 Millionen eingebürgerte Zuwanderer. Hinzu kämen 290.000 Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden sowie 566.000 Deutsche, die mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund haben. Als Hauptherkunftsländer werden Polen mit 762.000, Russland mit 705.000, Kasachstan mit 442.000, die Türkei mit 327.000 in der ersten und 149.000 in der zweiten Generation sowie Rumänien mit 313.000 Personen genannt.

Die Gesamtzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund scheint damit höher zu sein als bislang angenommen. Ich selbst kam auf der Grundlage des Mikrozensus (MZ) 2005 auf schätzungsweise 4,1 Millionen Wähler mit Migrationshintergrund. Wie der Bundeswahlleiter machte ich die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten (ca. 1 Million), gefolgt von Polen (ca. 500.000), der Türkei (ca. 500.000) und Rumänien (ca. 300.000) als wichtigste Herkunftsländer aus. Während also die Angaben für die Herkunftsländer sehr ähnlich sind, ergibt sich doch eine erstaunliche Differenz bei der Gesamtzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund.

Die Materie ist – zugegebenermaßen – komplex, denn im Mikrozensus wird, übrigens erst seit 2005, zwischen etlichen Personen(-gruppen) mit Migrationshintergrund differenziert. Da sind zunächst diejenigen mit eigener Migrationserfahrung und diejenigen ohne eigene Migrationserfahrung. Beide Gruppen kann man unter anderem danach differenzieren, ob die deutsche Staatsbürgerschaft ohne Einbürgerung oder erst durch Einbürgerung vorliegt. Auf der Grundlage des MZ 2005, der ein wenig verlässlicher über den Migrationshintergrund Auskunft geben kann als der MZ 2007, komme ich auf 7,7 Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund. Da die Verteilung nach Altersgruppen für Wahlforscher ungünstig ausgewiesen wird (die 15- bis 20-Jährigen bilden eine Gruppe), kann die Zahl der Wahlberechtigten (also derjenigen ab 18 Jahren) auf der Grundlage der publizierten Ergebnisse nicht exakt beziffert werden. Ich kam und komme durch eine Schätzkalkulation für 2005 auf insgesamt 5,1 Millionen wahlberechtigte Deutsche mit Migrationshintergrund – nach der Definition „Migrationshintergrund“ des Mikrozensus. Es ist plausibel, dass sich diese Zahl seit 2005 auf nun 5,6 Millionen erhöht hat.

Nun vermute ich allerdings, dass die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund im Mikrozensus zu hoch ist. Dabei bestehen überhaupt keine Probleme bei den Eingebürgerten und den Befragten mit Migrationshintergrund der zweiten Generation. Als problematisch betrachte ich aber die Gruppe der „Deutschen mit eigener Migrationserfahrung, die nicht eingebürgert wurden“. Diese Gruppe umfasst im MZ 2005 1,77 Millionen. Laut Definition des Mikrozensus fallen hierunter „Spätaussiedler, Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit ohne Einbürgerung“. Diese Personen und Gruppen sind unzweifelhaft gewandert (größtenteils unter erheblichem Zwang), aber sollte man ihnen deshalb auch gleich das Etikett „Migrationshintergrund“ anheften? Durch den expliziten Ausschluss von Personen, die vor 1949 zugewandert sind und derjenigen, die vor 1949 mit ausschließlich deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden, versucht der MZ immerhin, die Kriegsjahre und folgen auszuklammern. Ob dies dadurch gelingt, ist zumindest mir nicht klar. Aussiedler und (ab 1993) Spätaussiedler mussten sich jedenfalls bis Juli 1999 einbürgern lassen und fallen daher nach meinem Kenntnisstand in der Regel nicht in diese Gruppe. Wer aber dann?

Aufgrund dieses potenziellen Problems mit der Gruppendefinition „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung“ habe ich versucht, zu quantifizieren, wie viele Spätaussiedler seit 1999 ohne Einbürgerung nach Deutschland gekommen sind. Laut MZ 2005 sollten es für die Jahre 1999 bis 2004 („Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung, seit weniger als 6 Jahren in Deutschland“) etwa 397.000 sein. Hinzu kommen für die Jahre 2005 bis 2009 weitere rund 50.000 Spätaussiedler (Annäherung, da addierte Zuzugszahlen). Dies sind gerade einmal knapp 450.000. Bei informierter Schätzung der Wahlberechtigten unter diesen 450.000 (exakte Zahlen liegen mir nicht vor) komme ich auf knapp 400.000 Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, die seit 1999 nach Deutschland gekommen sind und nicht mehr formal eingebürgert wurden. Demnach kalkuliere ich auf der Basis des MZ 2005 rund 3,9 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, zu denen ich noch diejenigen Deutschen hinzugerechnet habe, die nicht eingebürgert wurden, aber eine eigene Migrationserfahrung haben und aus binationalen Ehen stammen (199.000). Dies ergibt zusammen die von mir genannten 4,1 Millionen.

Alles nur definitorisches Klein-Klein oder lässt sich auch etwas schlussfolgern? Meiner Ansicht nach gibt es auf Grundlage des Mikrozensus 2005 mindestens 4,1 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, für die diese Bezeichnung auch treffend ist. Berücksichtigt man die vom Bundeswahlleiter genannten Erstwähler auf der Grundlage des Mikrozensus 2007, dann haben nun möglicherweise 4,5 bis 4,6 Millionen Wahlberechtigte einen Migrationshintergrund. Dies ist eine konservative Schätzung – weniger Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund wird es wohl nicht geben.

Ich will aber nicht ausschließen, dass die Zahl der Wähler mit Migrationshintergrund insgesamt höher ist und bis zu 5,6 Millionen – wie vom Bundeswahlleiter beziffert – beträgt. Als Wissenschaftler, der sich schon länger mit dem Thema beschäftigt, wären diese höheren Zahlen sogar eine hervorragende Nachricht und unterstrichen die Bedeutung dieses Forschungsbereichs. Andererseits ist mir, gerade als Wissenschaftler, die Definition der Gruppe „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung“ mit zu vielen Unwägbarkeiten behaftet, als dass ich bislang von der Validität dieser Gruppengröße überzeugt wäre. Es bedarf weiterer Informationen und wahrscheinlich eines Einblicks in die Daten des Mikrozensus (am besten, sobald dann die 2009er Daten vorliegen), um zu einer abschließenden Beurteilung zu kommen.

Letztlich ist es aber begrüßenswert, dass sich nun auch der Bundeswahlleiter der (wahlberechtigten) Bürger mit Migrationshintergrund angenommen hat. Dies könnte der Auftakt zu einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Wählergruppe (siehe z.B. Skandinavien) sein. Ich würde sehr begrüßen, wenn es bald einmal Wahlbeteiligungsanalysen für diese Gruppe auf der Grundlage einer erweiterten Repräsentativen Wahlstatistik gäbe, denn über die Wahlbeteiligung in der Gruppe der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund wissen wir in Deutschland immer noch viel zu wenig.

 

Afghanistan – wieder ein außenpolitisches Thema zur heißen Wahlkampfphase?

Andrea Römmele In Wahlkämpfen, so die Forschung, spielen vor allem innenpolitische Themen und Positionen eine Rolle. Seit 1972, als die Ostpolitik Willy Brandts im Zentrum stand, gab es kaum einen Wahlkampf mehr, in dem ein außenpolitisches Thema heiß diskutiert wurde. Die einzige Ausnahme aus der jüngeren Vergangenheit war die Auseinandersetzung über den bevorstehenden Irak-Krieg im Jahr 2002. Gerhard Schröders SPD gelang es damals, sich als Stützpfeiler der „Friedensmacht“ Deutschland (so der Titel eines SPD-Plakates) zu präsentieren und damit zugleich die Wähler von der außenpolitischen Kompetenz der Partei zu überzeugen. Angesichts der heftigen Kritik, die die Regierung zuvor etwa für ihre Haltung im Kosovo-Krieg einstecken musste, war dieser außenpolitische Rückenwind nicht unbedingt zu erwarten. Die Umfragedaten von damals zeigen aber deutlich, welchen Stellenwert der bevorstehende Krieg im Irak im deutschen Wahlkampf hatte: Laut ARD-Deutschlandtrend vom September 2002 war für 47 Prozent der Befragten die Außen- und Sicherheitspolitik ein wichtiges Thema, 74 Prozent lehnten einen US-Militärschlag im Irak ab. Schröders Nein hat diese Wähler mobilisiert und SPD und Grünen die entscheidenden Stimmen für die Fortsetzung der Koalition eingebracht.

Und jetzt? Haben wir mit dem unglaublich bedauerlichen Zwischenfall in Afghanistan wieder einen solchen Fall im Wahlkampf? Wohl kaum. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der ebenfalls noch während der Zeit der rot-grünen Regierung beschlossen wurde, wird nur von der Linken offen abgelehnt. Alle anderen Parteien tragen diesen Einsatz mit, der Spielraum für grundsätzliche Auseinandersetzungen ist damit weit weniger groß als 2002. Das Reden von einer „Exit-Strategie“ für die Bundeswehr in Afghanistan ist weder realpolitisch noch emotional mit einem Nein zum Irak-Krieg gleichzusetzen.

Dennoch ist der Afghanistan-Einsatz ein Thema, das nicht ignoriert werden darf. Eine klare Mehrheit von 69 Prozent der Deutschen war schon im Juli für einen schnellen Abzug, die Tendenz ist steigend. Wenn der Bevölkerung also nicht vermittelt werden kann, warum dieser Einsatz wichtig und notwendig ist, werden sowohl die Partei der Kanzlerin als auch die des Außenministers Einbußen hinnehmen müssen. Es gibt daher gerade für Union und SPD zwar nur wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Die Aufarbeitung der jüngsten Geschehnisse in Afghanistan ist somit nicht Teil der außenpolitischen Kür der Regierung, sondern einfach ihre Pflicht.

 

Wer versteht die Bundesregierung? Die Webseiten der Bundesregierung im Verständlichkeitstest

Dass die Bedeutung der politischen Online-Kommunikation von Parteien und Politikern stetig zunimmt, dürfte heute als Konsens bezeichnet werden können. Dass diese Online-Kommunikation gerade in Wahlkampfzeiten aber besonders wichtig ist, hat nicht zuletzt der beeindruckende Wahlkampf und Wahlerfolg von Barack Obama in den USA gezeigt. Auch die deutschen Parteien haben auf diese Entwicklung reagiert und zur Bundestagswahl ausnahmslos aufwändige Kampagnen-Portale gestartet. Und die amtierende deutsche Bundeskanzlerin ist die erste Regierungschefin der Bundesrepublik, die einen regelmäßigen Video-Blog im Internet betreibt. Zweifellos scheint die Chance der direkten und ungefilterten Ansprache der Wähler über das Internet von der deutschen Politik erkannt worden zu sein. Doch schlägt sich diese Erkenntnis auch in einer angemessenen Ansprache der Zielgruppe nieder? Gelingt es der Politik, die Übersetzungsleistung der Medien zu kompensieren und sich bei der direkten Ansprache ihrer Wählerschaft verständlich zu machen?

Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim sind dieser Frage nun erstmals nachgegangen. Als Forschungsobjekt haben sie hierbei die Online-Auftritte der Bundesregierung unter die Lupe genommen. Denn: Keine andere politische Institution in Deutschland verfügt über mehr Ressourcen, um einen angemessenen Online-Auftritt zu realisieren, als Kanzleramt und Bundesministerien. Trotzdem stießen die Forscher bei ihrer Recherche schnell auf Wort- und Satzungetüme, die darauf schließen lassen, dass eine institutionalisierte Verständlichkeitsprüfung der veröffentlichten Webseiten-Texte in den meisten Berliner Ministerien keinesfalls Gang und Gäbe ist. Ein Beispiel gefällig? „Das Bundeskabinett hat heute den Entwurf einer Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag zur Ausweitung der Schutzklausel bei der Rentenanpassung beschlossen.“ Nominalstil in Reinkultur, entnommen aus dem Info-Text „Schutz vor Rentenkürzungen“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Dass es auch anders geht, bewiesen die Hohenheimer Forscher ebenfalls: Alle untersuchten Texte wurden in ihrer Verständlichkeit optimiert. Aus dem obigen Satzbeispiel wurde so beispielsweise: „Die Bundesregierung hat heute den Entwurf zu einem Gesetz beschlossen, das die Höhe der Rente schützen soll.“ Diese optimierten Text-Versionen wurden ebenso wie die Original-Texte zwei Gruppen von Probanden zur Bewertung und zum anschließenden Ausfüllen von Verständnistests vorgelegt. Das Ergebnis dieses Experiments: Bei allen optimierten Texten konnte die subjektive Verständlichkeitsbewertung sowie das objektive Verständnis signifikant verbessert werden. Der Optimierungseffekt betrug hierbei teilweise bis zu 56 Prozent.

Quelle: Universität Hohenheim. Die Graphik kann durch Anklicken vergrößert werden.

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung sollte die Verantwortlichen in den Ministerien besonders hellhörig werden lassen: Alle untersuchten Wählergruppen, ob mit hoher oder niedriger Bildung, mit hohem oder niedrigem politischen Wissen, profitierten in ähnlicher Weise von den verbesserten Texten. Selbst die Stärke der Parteiidentifikation wirkte sich nicht systematisch und in der erwarteten Richtung auf den Optimierungseffekt aus. Im Gegenteil: Der Optimierungseffekt lag bei den stark Parteigebundenen in vielen Fällen sogar höher als bei den schwachen Parteianhängern und den Parteilosen. Eine Verständlichkeitsoptimierung politischer Webseiten wäre demnach keineswegs eine Nischen-Strategie für bestimmte Teilgruppen der User, sondern würde mit hoher Wahrscheinlichkeit der gesamten Nutzer-Gemeinde zugute kommen; eine Perspektive, die sicher nicht nur Demokratietheoretiker interessieren dürfte.