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All the news that’s fit to print? Die Verständlichkeit der Berichterstattung zur Bundestagswahl 2009 in ausgewählten Print- und Online-Medien

Jan KercherDie Verständlichkeit der politischen Medienberichterstattung ist eine zentrale Voraussetzung für das Funktionieren und die Legitimität moderner Demokratien. Dieser Zusammenhang wurde von Toni Amstad im Rahmen seiner Verständlichkeitsanalyse von Schweizer Tageszeitungen bereits Ende der 1970er Jahre treffend auf den Punkt gebracht: „Was nützt Entscheidungsfreiheit, wenn über Dinge entschieden werden soll, über die ein erheblicher Teil der Bürger nicht in verständlicher Weise – und damit nur schlecht oder überhaupt nicht – informiert ist?“

Das Problem stellt sich dabei als umso relevanter dar, je wichtiger die betreffende Berichterstattung für die Wahlentscheidung der Bürger ist. Eine Studie der Universität Hohenheim hat deshalb nun die Verständlichkeit der Berichterstattung von drei wichtigen Meinungsführermedien (BILD, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung) in den vier Wochen vor der letzten Bundestagswahl analysiert. Hierbei wurden nicht nur die Print-, sondern auch die jeweiligen Online-Ausgaben der drei Medien untersucht.

Betrachtet man die Ergebnisse der Hohenheimer Studie, so lässt sich zunächst feststellen, dass die BILD-Zeitung erwartungsgemäß verständlicher abschneidet als die beiden anderen Medien. So erreichen die BILD-Artikel auf einer Skala von 0 (kaum verständlich) bis 100 (sehr verständlich) im Durchschnitt einen Wert von 61 Punkten, die übrigen Artikel hingegen einen Wert von 54 (Spiegel) bzw. 53 (Süddeutsche). Auch die hiermit verbundenen Bildungsvoraussetzungen wurden von den Hohenheimer Forschern prognostiziert: Demnach dürfte etwa ein Viertel der Artikel aus Spiegel und Süddeutscher Zeitung für Hauptschul-Absolventen eine Überforderung darstellen, bei der BILD-Zeitung hingegen nur fünf Prozent der Artikel.

Ähnliche Befunde ergeben sich für die Online-Portale der drei Medien. Auch hier schneidet die bild.de (57 Punkte) verständlicher ab als spiegel.de (51) und sueddeutsche.de (53). Entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Forscher fiel die Verständlichkeit von zwei der drei Online-Portale damit jedoch geringer aus als die ihrer jeweiligen Print-Varianten. So lag selbst bei bild.de der Anteil an Artikeln, für deren Verständnis die Hohenheimer Forscher eine Mittlere Reife als Mindestvoraussetzung ansehen, bei 12 Prozent, bei spiegel.de sogar bei einem Drittel.

Einen wichtigen Grund für die teilweise geringe Verständlichkeit der untersuchten Artikel sehen die Forscher in unnötig komplexen Satzstrukturen. So lag die mittlere Satzlänge bei Spiegel und Süddeutscher Zeitung bei etwa 15 Wörtern pro Satz. Die Empfehlung der dpa für eine optimale Verständlichkeit liegt jedoch bei nur neun Wörtern pro Satz. Es lässt sich zudem nachweisen, dass Leser in einer Verarbeitungseinheit maximal neun Wörter aufnehmen können. Sätze, die diese Länge überschreiten, müssen demnach zwischengespeichert werden und führen so zu einer höheren kognitiven Belastung, insbesondere bei komplexen Themen wie Politik.

„All the news that’s fit to print”? Überträgt man das Leitmotiv der New York Times auf die hier betrachteten deutschen Medien, so lässt sich festhalten: Für einen nicht unbedeutenden Teil der deutschen Wahlbevölkerung dürfte die Berichterstatttung zur Bundestagswahl teilweise überwindbare Verständlichkeitshürden enthalten haben. Dass sich dieser Befund nicht nur auf Spiegel und Süddeutsche Zeitung beschränkt, sondern in abgeschwächter Form auch für die BILD-Zeitung gilt, sollte deren Machern zu denken geben.

Weiterführende Links

PolitMonitor: http://www.polit-monitor.de

Homepage des Hohenheimer Fachgebiets: http://komm.uni-hohenheim.de

 

„Stuttgart 21“ in den Programmen der baden-württembergischen Parteien seit 1992: Kein zentrales Thema der Grünen

Durch das Vermittlungsverfahren zum Großbauprojekt „Stuttgart 21“ hat sich – wohl auch aufgrund des (zumindest zeitweise) rollenden Castor-Transports – die Lage am Hauptbahnhof in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wieder etwas beruhigt. Dennoch bleibt das Thema auf der Agenda und wird eine, wenn nicht die zentrale Rolle im Landtagswahlkampf im kommenden Frühjahr 2011 spielen. Ein Aspekt, der in der Debatte um das Ausmaß der Demonstrationen immer wieder aufkam, war die Behauptung, dass die das Projekt befürwortenden Parteien und die Landesregierung von Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten ihre Haltungen zu „Stuttgart 21“ nicht deutlich genug kommuniziert hätten und daraus die momentanen Verwerfungen zwischen einem Teil der (Stuttgarter) Bürgerinnen und Bürger einerseits und CDU, FDP sowie der SPD andererseits entstanden sind. Haben Christ-, Sozial- und Freidemokraten im Südwesten wirklich dieses Thema in den letzten Jahren derart missachtet und ihre Haltungen nicht deutlich genug gemacht? Sind wirklich die Bündnisgrünen die einzige Partei, die ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Bauprojekt über einen langen Zeitraum hinweg deutlich gemacht hat?

Ein Blick in die Wahlprogramme der Parteien seit 1992 sowie in die Koalitionsabkommen der Landesregierungen kann ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Man kann relativ einfach über die Häufigkeit der Wörter, die sich auf „Stuttgart 21“ explizit bzw. auf Infrastrukturmaßnahmen im baden-württembergischen Schienennetz allgemein beziehen, die Bedeutung dieses Themas für die Parteien bzw. – wenn man das Koalitionsabkommen heranzieht – für die Landesregierungen messen. Dabei zeigen sich erstaunliche Ergebnisse: so sind die Grünen in Baden-Württemberg mitnichten die Partei, die dieses Themengebiet am häufigsten in ihren Programmen nennt. Bei der Landtagswahl 1992 waren dies vor allem FDP und SPD: 1,6 bzw. 1,4% der Wörter in den Wahlprogrammen beider Parteien bezogen sich auf den Ausbau des Schienennetzes und dabei die – aus der Sicht dieser Parteien bestehende – Notwendigkeit, Stuttgart und den Stuttgarter Flughafen besser an den Bahn-Fernverkehr anzubinden. Auch 0,7% des Wahlprogramms der Union gingen inhaltlich in diese Richtung. Hingegen bezogen sich nur 0,1% der Wörter im Wahlprogramm der Grünen 1992 auf das Thema von Aus- und Neubau von Schienenstrecken. Zwar widmeten die südwestdeutschen Grünen zu den Landtagswahlen 1996 und 2001 diesem Thema mehr Raum in ihren Wahlprogrammen, allerdings war der Anteil inhaltlicher Aussagen zu „Stuttgart 21“ 1996 bei SPD und FDP sowie fünf Jahre später bei den Sozialdemokraten noch immer deutlich höher als in den Dokumenten der Grünen. Zur Wahl des Landesparlaments 2006 ging der Anteil an Wörtern, die sich auf Bahnbauprojekte in Baden-Württemberg bezogen, bei den Grünen im Vergleich zu 2001 sogar von 1% auf 0,6% zurück, wohingegen neben der SPD auch die CDU dieses Issue in höherem Ausmaß ansprachen.

Es gilt somit festzuhalten, dass die Grünen in Baden-Württemberg auf keinen Fall die Partei bei den vergangenen Landtagswahlen waren, die dieses Thema in ihren Wahlprogrammen in besonders hervorgehobener Weise angesprochen und problematisiert hatten. Dies taten auch – und noch dazu in zum Teil deutlich größerem Ausmaß – SPD, Liberale und die Christdemokraten. Zudem widmet sich ein nicht unerheblicher Teil der Koalitionsabkommen den Themengebieten „Schienennetz“ und „Stuttgart 21“ in sehr expliziter Form. Letzteres gilt insbesondere für den „schwarz-roten“ Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1992, aber auch für das zweite christlich-liberale Koalitionsabkommen von 2001. Somit mögen zwar von Seiten der Landesregierung und der sie tragenden Parteien das Thema „Stuttgart 21“ und seine Implikationen nicht in ausreichender Form während der Legislaturperiode der Wählerschaft kommuniziert worden sein. Allerdings haben alle Parteien – insbesondere SPD, FDP und auch die CDU – ihre inhaltlichen Positionen zu diesem Thema im Durchschnitt seit 1992 mehr Gewicht in den Wahlprogrammen beigemessen als es die Grünen taten. Es scheint daher so, als ob die Grünen die wahlstrategische Bedeutung von „Stuttgart 21“ erst mit der Kommunalwahl 2009 entdeckt haben und nun versuchen, durch die explizite Herausstellung dieses Themas bei der Landtagswahl 2011 auf Stimmenfang zu gehen. Ob sich die Abkehr der SPD von Stuttgart 21 – „für die rasche Realisierung der Schnellbahntrasse Stuttgart/Ulm“ (SPD-Wahlprogramm 1992); „Mit „Baden-Württemberg 21“ das Land zum Treffpunkt Europas machen“ (SPD-Wahlprogramm 2001) – auszahlen wird, kann eher bezweifelt werden. Wähler mögen es in der Regel nicht, wenn Parteien inhaltliche Positionen auf einmal ins Gegenteil verkehren.

 

Der vergangene Freitag in Stuttgart aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, oder: „Gut, dass mer gschwätzt hän“

AndreaDemokratien werden in den Sozialwissenschaften an (mindestens) zwei Kriterien gemessen: An ihrer Effizienz und an ihrer Responsivität. Das Regieren ist heutzutage durch trans- und suprantionale Zusammenschlüsse geprägt und steht unter dem Eindruck von Internationalisierung und Globalisierung. Die Themen und Problemlagen gewinnen dadurch an Komplexität. So ist der Aspekt der Effizienz in jüngerer Vergangenheit verstärkt in den Vordergrund gerückt: Wie können Staaten mit Blick auf die genannte Komplexität einerseits und ihre begrenzten Ressourcen andererseits die Ziele erreichen, die sie sich setzen? Darüber hinaus haben wir nun aber am vergangenen Freitag erlebt, wie wichtig auch die Responsivität nach wie vor ist: Ist der Staat in der Lage, Forderungen und Kritik seiner Bürger aufzunehmen und seine Entscheidungen klar zu kommunizieren? Lange wurde dieser Prozess als Kernaufgabe der Parteien verstanden. Der offene Dialog zu Stuttgart 21 zeigt nun aber neue Wege auf, wie man auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen kann.

Fassen wir den Freitag kurz einmal zusammen: Im Ergebnis nichts Neues, aber eine Art von Befriedung. Auf gut schwäbisch: „Es isch nix rauskomme, aber gut, dass mer gschätzt hän“! Positiv formuliert bedeutet dies, dass wohl in Zukunft kein Großprojekt mehr durchgeführt werden kann, ohne dass Bürgerinnen und Bürger in der Planungsphase ernsthaft und nachhaltig eingebunden werden.

Die konkrete Ausgestaltung dieser Prozesse muss kontinuierlich diskutiert und verbessert werden. Das Verfahren in Stuttgart ist vermutlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Für die Frage, wie solche Verfahren dauerhaft in die politische Entscheidungsfindung eingebunden werden können, lohnt der Blick in die Schweiz. Und zwar nicht auf die derzeit sehr populären Volksentscheide, die auch in Zusammenhang mit Stuttgart 21 immer wieder als Beispiel bemüht werden. Eher sollten wir von den Erfahrungen der Schweizer mit einem anderen festen Bestandteil ihrer Demokratie lernen: Das sogenannte Vernehmlassungsverfahren ist – Nuancen und Details beiseite gelassen – die Vorab-Prüfung eines Großprojektes durch alle relevanten Gruppen, Befürworter wie Gegner. In der Sprache der Schweizer Bundesbehörden geht es um „Vorhaben des Bundes von erheblicher politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und kultureller Tragweite“, die „auf ihre Akzeptanz, auf ihre sachliche Richtigkeit und auf ihre Vollzugstauglichkeit hin geprüft werden.“

Bürgerinnen und Bürger werden also schon bei der Ausgestaltung eines Projektes mit an Bord geholt – quasi in einer institutionalisierten Form der Bürgerbeteiligung. Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem bei uns gültigen Planfeststellungsvefahren. Dies ist ein Verwaltungsverfahren, welches für Bauvorhaben vorgesehen ist. Die Bürger haben zwar die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Anhörungsbehörde einzuschalten – allerdings nicht schon bei der Ausgestaltung des Plans, sondern erst nach der Veröffentlichung des Vorhabens. Dies ist ein erheblicher Unterschied.

Gehen wir also noch einmal zurück zum Freitag in Stuttgart: Ging es wirklich um Responsivität oder war das mehr eine kleine Demokratie-Show? Vermutlich beides. Man sollte jedoch zugestehen, dass sich momentan alle Beteiligten in einem Lernprozess befinden. Und dadurch ergibt sich eine spannende Situation, welche die Politik ansonsten so gut es geht zu vermeiden sucht: Unsicherheit. Natürlich haben der Ministerpräsident und viele andere stets betont, dass der Umbau des Bahnhofes im Kern nicht verhandelbar sei. Allerdings können das nicht einmal die zentralen Akteure wirklich einschätzen, weil sie schlichtweg zu wenig Erfahrung mit solchen Verfahren haben und somit auch nicht wissen können, welche Dynamiken sich im Zuge eines solchen „joint fact finding“ ergeben können – von der nächsten Stufe des Prozesses (über die ja bisher nur wenig bekannt ist) einmal ganz zu schweigen.

Insofern ist die Botschaft „Gut, dass mer gschwätzt hän“ gar nicht so gering, wie sie sich zunächst anhören mag. Denn solange geredet wird, können sich die Prozesse entwickeln – und werden uns vielleicht noch ein ums andere mal überraschen…

 

Nach der Wahl ist vor der Wahl? Die Parteien-Kommunikation vor und nach der Bundestagswahl 2009

Jan KercherModerne Wahlkämpfe finden unter Vielkanalbedingungen statt. Im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen hat insbesondere die Verbreitung des Internets zu einer Vervielfachung der Kommunikationskanäle zwischen Parteien und Wählern beigetragen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern sich die Qualität und die Inhalte heutiger Parteien-Kommunikation in der Wahlkampfphase verändern. Können die Anforderungen eines professionellen Themenmanagements von den Parteien angesichts des enormen Aufwands einer Wahlkampfkommunikation unter Vielkanalbedingungen erfüllt werden? Oder allgemeiner: Wie beeinflusst der Wahlkampf die Themensetzung und die Qualität der Parteienkommunikation?

Dieser Frage sind Wahlkampfforscher der Universität Hohenheim nun erstmals nachgegangen. Hierfür wurden alle Pressemitteilungen und Homepage-News der sechs Bundestagsparteien von Juni 2009 bis März 2010 einer Themen- und Lesbarkeitsanalyse unterzogen. Für den Vergleich zwischen Wahlkampfphase und „Normalphase“ wurde hierbei jedoch die zweimonatige „Übergangsphase“ nach dem Wahltermin (in die Regierungsbildung, Koalitionsvertrag und die Aufnahme der Regierungsgeschäfte fielen) ausgeklammert, um kommunikative Nachwirkungen des Wahlkampfs in der Nachwahlzeit möglichst gut ausklammern zu können.

Die Ergebnisse der Hohenheimer Forscher sprechen dafür, dass die Parteien im Bundestagswahlkampf 2009 gegen zentrale Regeln des Themenmanagements im Wahlkampf verstießen. So zeigte sich zunächst, dass bei keiner der untersuchten Parteien eine verstärkte Konzentration und Fokussierung auf wenige Kernthemen zu beobachten war. Im Gegenteil: Betrachtet man die Kommunikation über inhaltliche Themen (und klammert den beträchtlichen Anteil der Wahlkampfkommunikation zum Thema „Wahlkampf“ selbst aus), so verteilt sich die Parteienkommunikation im Wahlkampf bei allen Parteien ausgewogener über die unterschiedlichen Themenkategorien als in der Vergleichsphase nach der Bundestagswahl. Und auch unter Einbeziehung des Themas „Wahlkampf“ in die Analyse kommt es bei keiner Partei zu einer stärkeren Themenfokussierung vor der Wahl (der Fokussierungsgrad vor und nach der Wahl fällt dann sehr ähnlich aus).

Auch die Verständlichkeit der Parteienkommunikation ist im Wahlkampf nicht höher als sonst. Lediglich bei der SPD zeigten sich in der Wahlkampfphase etwas höhere Ausprägungen der Werte des sog. Hohenheimer Verständlichkeitsindexes, der auf der Grundlage der durchgeführten Lesbarkeitsanalyse berechnet wurde. Bei allen anderen Parteien wurden die jeweils dominanten Themen im Wahlkampf ähnlich verständlich oder sogar unverständlicher dargestellt als nach der Wahl. Auch bei ihren „Kernkompetenz-Themen“ schneiden nicht alle Parteien verständlicher ab als die Konkurrenz. So belegen die beiden Unionsparteien die letzten beiden Plätze beim Thema Wirtschaftspolitik, die SPD den vorletzten Platz beim Thema Sozialpolitik. Lediglich der Linkspartei bzw. der FDP gelingt es beim Thema Sozialpolitik bzw. Wirtschaftspolitik den Spitzenplatz im Ranking des Hohenheimer Verständlichkeitsindexes zu ergattern.

Nur in einem Punkt wurden die ursprünglichen Erwartungen der Hohenheimer Forscher bestätigt: Mit Ausnahme der CDU kommunizieren alle Parteien im Wahlkampf häufiger als sonst über eines ihrer Kernkompetenz-Themen. Besonders deutlich zeigte sich dieser Effekt bei der CSU (Wirtschaftspolitik) und der SPD (Bildungspolitik), schwächer auch bei FDP (Steuerpolitik), Grünen (Umweltpolitik) und Linken (Sozialpolitik). Gewisse Richtlinien des Themenmanagements scheinen den Parteien also durchaus bekannt zu sein. Sie täten jedoch gut daran, bis zur nächsten Bundestagswahl auch die übrigen Regeln zu lernen.

P.S.: Die Daten zur Hohenheimer Studie stammen alle aus dem öffentlich zugänglichen Langzeit-Projekt „PolitMonitor“ , das die Parteienkommunikation auf monatlicher Basis erhebt und auf Themen, Verständlichkeit und Vokabular analysiert.

 

Potenziale politischer Paritizipation: Was wir von Google Street View lernen können

Drei Zahlen:

Nun folgt daraus – natürlich – keineswegs, dass sich – analog zu Google Street View – nur 3 Prozent der Deutschen (oder auch nur 3 Prozent der deutschen Haushalte) auch tatsächlich an direktdemokratischen Abstimmungen beteiligen würden. Aber kurz innehalten sollte man doch. In der Sozialpsychologie ist die Diskussion um eine „Attitude-Behavior-Gap“ ein alter Hut. Nicht jeder – noch dazu in einer Umfrage geäußerten – Meinung folgt ein entsprechendes Verhalten. Wenn also derzeit allseits der Eindruck entsteht (oder erweckt wird), direktdemokratische Verfahren seien ein Allheilmittel, dann wird vielleicht ein wenig vorschnell geschossen – bei Google Street View hätte man schließlich nur ein Formular ausfüllen müssen, um Meinungen auch Taten folgen zu lassen. Drei Prozent haben das getan.

 

Paradoxes Wählerverhalten in Wien: Warum punktet eine rechtsextremistische Kampagne bei Wählern mit Migrationshintergrund?

Gastbeitrag von Felix Lill

„Eigentlich hab‘ ich ja nichts gegen Ausländer, aber…“ In Wien ist dieser Satz nicht selten zu hören. Dann werden die klassischen Argumente aufgezählt, obwohl keine empirische Evidenz für sie spricht: „Die nehmen unsere Arbeitsplätze weg“, „die fressen unsere Renten auf“, „die sind kriminell“, „jetzt dürfen sie auch noch in den Gemeindebauten wohnen, die wir von unseren Steuern bezahlen“…

Bei den Wiener Gemeinderatswahlen am 10. Oktober hat die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nicht durch Zufall über 26% gewonnen. Eigentlich ist das Ergebnis nichts Neues: Erst vor zwei Jahren, bei den österreichweiten Nationalratswahlen, gewannen die rechtspopulistischen Parteien, FPÖ und die Splitterpartei BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich), zusammen sogar leicht über 28%. Zu Lebzeiten Jörg Haiders, dessen Tod erst zwei Jahre her ist, war Rechtspopulismus ohnehin salonfähig. Haider konnte vor knapp zehn Jahren sogar mit der konservativen ÖVP auf Bundesebene koalieren. Aber nach Jörg Haiders Tod glaubten viele, das Thema sei so langsam vom Tisch.

Der jüngste Wahlkampf, den der FPÖ-Spitzenkandidat Heinz Christian Strache geführt hat, ist der bisher wohl rechtsextremistischste gewesen. Wahlslogans lauteten: „Mehr Mut für unser Wiener Blut – Zu viel Fremdes tut niemandem gut“ oder „Sarrazin statt Muezzin“. So weit ging es, dass Neonazis auf Websites ihr Gefallen an Strache bekundeten, der ihnen sonst immer zu milde gewesen war. Aber auch in breiten Teilen der österreichischen Bevölkerung, beobachtet das Nachrichtenmagazin „profil“ in seiner aktuellen Ausgabe, herrscht ein durch Tatsachen nicht zu begründendes Gefühl der ständigen Benachteiligung vor. Ein beliebter Sündenbock sind immer wieder „die Ausländer.“

Laut einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts SORA und des Instituts für Strategieanalysen ISA war für 68% der FPÖ-Wähler der Anti-Zuwanderung-Standpunkt ein zentraler Grund für ihre Stimmentscheidung; über ein Drittel nannten auch explizit die islamophobe Haltung der Partei.

Interessant ist aber, dass von den wahlberechtigten Wienern mit Migrationshintergrund, die rund ein Viertel aller Wahlberechtigten ausmachten, immerhin 16% die FPÖ wählten – das sind 3% Stimmenanteil mehr als die Grünen und 2% mehr als die ÖVP von dieser Gruppe erhielten. Das ist zwar weniger als bei einigen vorigen Wahlen, aber angesichts des eindimensionalen und extrem ausländerfeindlichen Wahlkampfes der FPÖ auf den ersten Blick erstaunlich.

Werden Wähler mit Migrationshintergrund auf ein solches Stimmverhalten angesprochen, begründen sie dies typischerweise mit Selbstschutz: Weitere Zuwanderung vermeiden, mit harter Hand gegen die Klischees straffälliger Migranten angehen, nicht in einen Topf mit den Fremden, den Zuwanderern geworfen werden. Definiert man Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund als eine Wählergruppe, ist hier bei einem beträchtlichen Anteil ein adverses Verhalten beobachtbar: Anstatt sich gegen die Hetze von Straches FPÖ stark zu machen, wollen jene 16% lieber zum (österreichischen) Kern der Gesellschaft gehören. Im Resultat dürfte das auf Kosten aller Wiener Bürger mit Migrationshintergrund gehen, denn das Gros der FPÖ-Wähler wird nicht wissen oder gar unterscheiden, welcher Türke oder Serbe nun sein Kreuz für die FPÖ gemacht hat. Rechtsextremismus, von dem jene Wiener mit Migrationshintergrund am wenigsten profitieren, könnte so durch eigenes Zuarbeiten aufflammen.

Zwar bleibt Michael Häupl (SPÖ) Wiener Bürgermeister, aber mehr als ein Viertel der Wiener wird nun von der FPÖ repräsentiert. Womöglich werden bald auch von einigen Türken, Polen, und Abstämmigen des ehemaligen Jugoslawiens diese Sprüche zu hören sein: „Ich hab‘ ja nichts gegen Ausländer. Aber…“

Felix Lill hat Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Philosophie der Sozialwissenschaften an der London School of Economics studiert und absolviert derzeit ein Master-Programm an der Hertie School of Governance in Berlin. Seit mehreren Jahren arbeitet er als freier Journalist, u.a. für Die Presse, Tages-Anzeiger, taz und Spiegel Online. In diesem Jahr wurde er mit dem österreichischen Sportjournalistenpreis in der Kategorie „Print“ ausgezeichnet.

 

Eine kulturelle Konfliktlinie

Spätestens seit dem Regierungsantritt der Großen Koalition im Jahr 2005 hatte die CDU/CSU ihre bis dato ausländerkritische Haltung zugunsten einer Integrationsoffensive (Integrationsgipfel, Islamkonferenz) zurückgestellt. Die beiden Unionsparteien schienen (endlich) in der Realität der „Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland“ (Klaus Bade) angekommen zu sein, die sie mehrheitlich fast eine ganze Generation lang negiert hatten. Als „Anerkennung und Eingliederung anstatt Ignoranz und Ausgrenzung“ könnte man diese Phase der unionsgeführten Migrationspolitik überschreiben. Das vorläufige Ende dieser Phase wurde vom neuen Bundespräsidenten Christian Wulff eingeläutet, indem er bei Amtsantritt nicht nur – wie vor ihm bereits Johannes Rau – erklärte, Präsident aller in Deutschland lebenden Personen zu sein, sondern dadurch, dass er am Tag der Deutschen Einheit darüber hinaus feststellte, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre.

Dass diese – in der Beschreibung korrekte – Äußerung nun zu einer Art „Backlash“ in den Reihen der Union, einer reflexartigen Gegenpositionierung hinter eine vor allem von der CDU mühevoll errungene, realitätsnähere Politikposition führt, hat situative, strategische, aber auch im Parteienwettbewerb fest verankerte Gründe. Die situativen Gründe sind offenbar: Die Regierung hatte einen katastrophalen Start, von dem sie sich – für viele Beobachter überraschend -, bislang nicht erholen kann. Mit der Steuer-, Atom- und Gesundheitspolitik macht sich Schwarz-Gelb bislang wenig Freunde, und mit Stuttgart 21 hat sich auch noch eine „baugleiche“ Landesregierung ins Taumeln geprügelt. Selbst Stammwähler von Union und FDP geraten derzeit ins Grübeln darüber, ob sie diese Politik unter Anwendung dieser Mittel noch gutheißen können.

Aus strategischer Sicht spiegelte der Wandel der Union zu einer grundsätzlich zuwanderungsoffenen, in jedem Fall aber integrationsbejahenden Inländer-Partei auch den Wunsch wider, für Deutsche mit Migrationshintergrund, die inzwischen ein erhebliches Wählerpotenzial darstellen, wählbar zu werden. Die wenigen Analysen, die sich 1999-2002 mit dem Wahlverhalten von Migranten in Deutschland beschäftigt haben, kommen zum Schluss, dass die Union zwar unter den Aussiedlern und Spätaussiedlern hohe Stimmenanteile (über 60 Prozent) erhalten hat, dass sie jedoch unter ehemaligen ausländischen Arbeitnehmern und insbesondere unter türkeistämmigen Wählern chancenlos ist (rund 10 Prozent). Während die Zahl der wahlberechtigten Spätaussiedler stagniert, nimmt die Zahl der wahlberechtigten Türkeistämmigen zu. Und neueste Untersuchungen zur Bundestagswahl 2009 (in Vorbereitung) geben Grund zur Annahme, dass die hohe Zustimmung für die CDU/CSU bei Russlanddeutschen deutlich nachlässt, während Gewinne der Union bei den Türkeistämmigen marginal sind. Die Tatsache, dass die leicht veränderte Migrationspolitik an der Wahlurne keine Früchte trägt, ist ein möglicher Grund für die erneute Positionsänderung der Union. Der andere, wahrscheinlich gewichtigere Grund ist der vermeintlich „rechte“ Rand der Bevölkerung, den man zusätzlich zu Teilen der politischen Mitte nicht auch noch verlieren möchte. Die Union fürchtet nicht nur den alten Bahnhof, sondern auch einen deutschen Geert Wilders und vor allem den Verlust von Regierungsmehrheiten bei Landtagswahlen, der auch Auswirkungen auf die Regierungsstabilität im Bund haben würde.

Doch der eigentliche Konflikt, der zunächst in den Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten offenbar wurde, sitzt deutlich tiefer. Den Unionsparteien ist es bislang gelungen, die Vorstellung einer ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft mit ihrem Parteinamen exklusiv und gleichzeitig wählbar zu verbinden. So erstaunt es nicht, dass eine Analyse der Einstellungen der Bundestagskandidatinnen und -kandidaten des Jahres 2005 ergab, dass die Parteizugehörigkeit zur CSU einerseits und zu den Grünen andererseits, Extrempositionen in der Frage des Zuzugs von Einwanderern aus demographischen und ökonomischen Gründen darstellen. Während also Grünen-Politiker aufgrund des Arbeitsmarktes und der demographischen Entwicklung häufig die Notwendigkeit von Zuwanderungsregelungen sehen, sind CSU-Politiker selten dieser Ansicht. Insofern sagt Horst Seehofer nur das, was in seiner Partei gedacht wird. Und auch bei der Frage nach kultureller Anpassung von Einwanderern an die deutsche Gesellschaft nehmen die Kandidatinnen und Kandidaten von CSU und Grünen gegensätzliche Positionen ein, werden allerdings von den Politikern einer jeweils anderen Partei überboten: CDU und Linkspartei. Folglich überrascht es nicht, dass sich große Teile der CDU gegen die Vorstellung aussprechen, kulturelle Differenz sei Teil des christlichen Abendlandes (und müsste folglich mehr oder minder akzeptiert werden). Aus der wertfreien Perspektive eines Parteienwettbewerbs, der unterschiedliche Politikangebote machen sollte, ist gegen solch klare Positionen überhaupt nichts einzuwenden – im Gegenteil: Die Bürger wollen wissen, wofür und wogegen die Parteien stehen.

Langfristig betrachtet handeln CDU und CSU im wahrsten Sinne konservierend: Sie sind Wächter und Anbieter der gesellschaftlichen Vorstellung einer deutschen Nicht-Einwanderungsgesellschaft. Damit können sie den Großteil ihrer Stammwähler wahrscheinlich halten, sofern diese ihnen der Exkurs auf den Integrationsgipfel nicht nachtragen. Doch zu welchem Preis? Die mittel- und langfristigen Kosten eines solchen ethnisch-kulturellen Reflexes sind hoch, denn die Gesellschaft ist längst nicht mehr monokulturell oder gar monoethnisch (sie war es auch nie). Und für viele Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund wird es schwierig bleiben, einer Partei mit einem im Kern monoethnischen Gesellschaftsbild die Stimme zu geben. Für Muslime wird es nochmals schwieriger, denn es handelt sich auch noch um explizit christliche Parteien.

Die vielleicht interessantesten Reaktionen auf diese neuerliche Migrationsdebatte kommen von der FDP. Der Generalsekretär distanziert sich heute in der FAZ von ethnisch-religiösen Argumentationslinien und fordert „Eine republikanische Offensive“. Dazu gehöre sowohl eine Entkoppelung christlicher Konfessionen vom Staat (u.a. mit Blick auf die Kirchensteuer) als auch die Wahrnehmung kultureller Vielfalt als Freiheitsgewinn. Und Wirtschaftsminister Brüderle legt nach, indem er das bereits intensiv diskutierte, aber nicht eingeführte Punktesystem für (Arbeits)Migration wiederbelebt. Ein wenig hat es den Anschein, als versuche die FDP, sich in einem Politikfeld zu profilieren, in dem ihre Politiker bislang Mittelpositionen einnahmen und folglich kaum wahrgenommen wurden. Fakt ist aber auch, dass die FDP bei Integrationsfragen in der Regierung Kohl wiederholt kleinbei gab und damit ihre eigenen Ausländerbeauftragten beschädigte. Ein wenig sieht es schließlich aus, als wollten sich die Regierungsparteien gezielt unterschiedlich positionieren, um verschiedene Wählerklientele besser ansprechen zu können. Mitentscheidend wird dabei sein, wie authentisch sie dies tun werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Migrationspolitik im Sinne einer Konzeptualisierung von diesen vermeintlich politischen Manövern profitieren wird.

Literatur:
Wüst, Andreas M.: Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte B52/2003, S. 29-38.
Wüst, Andreas M.: Bundestagskandidaten und Einwanderungspolitik: Eine Analyse zentraler Policy-Aspekte, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 19 (1), 2009, S. 77-105.

 

„Warum erst jetzt?“ – Stuttgart 21 stand schon vor der großen Protestwelle auf wackeligen Beinen

AndreaIn einigen Beiträgen zu Stuttgart 21 klingt an, dass die Ausbau-Gegner derzeit massiv mobilisieren und dadurch die politische Stimmung nachhaltig beeinflussen – manche Kommentatoren verknüpfen damit sogar die Schicksale von Politikern und Regierungen. Beispielsweise erregte eine Umfrage des „Stern“ große Aufmerksamkeit, die sowohl in Stuttgart als auch in ganz Baden-Württemberg Bevölkerungsmehrheiten gegen das Projekt ermittelte. Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass diese Änderung des Stimmungsbildes im Zuge der Proteste erfolgt sei – und dies wiederum wirft die Frage auf, warum die Gegner des Projektes erst seit kurzer Zeit so präsent sind, obwohl das Projekt doch schon seit 15 Jahren auf der öffentlichen Agenda steht.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die diversen Umfragedaten zu Stuttgart 21 zu werfen: In der Bürgerumfrage „Leben in Stuttgart“, die vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart im Frühjahr 1995 durchgeführt wurde, standen 51% der Stuttgarterinnen und Stuttgarter hinter dem Großprojekt – 30% der Befragten hielten Stuttgart 21 für eine „sehr gute“, immerhin 21% für eine „gute“ Maßnahme. Andererseits sahen rund 30% das Projekt skeptisch (21% fanden es „sehr schlecht“, weitere 9% „schlecht“) und immerhin 18% waren unentschieden. Schon damals konnte man also nicht gerade von einer breiten Unterstützung für das Projekt sprechen.

Dieses uneinheitliche Stimmungsbild verschlechterte sich schrittweise über die Jahre hinweg. Im Jahr 2007 – also noch vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die möglicherweise eine allgemein skeptische Stimmung hätte verursachen können – hatten einer groß angelegten Stuttgarter Bürgerumfrage zufolge nur noch 31% der Stuttgarter eine „gute“ oder „sehr gute“ Meinung über das Projekt. Ihnen standen 48% gegenüber, die eine „schlechte“ oder „sehr schlechte“ Meinung hatten. In einer weiteren Bürgerumfrage im Sommer 2009 manifestierte sich dieser Trend, der Anteil der „guten“ und „sehr guten“ Meinungen zu S21 ging noch einmal leicht zurück, auf 29%, der Anteil „schlechter“ und „sehr schlechter“ Meinungen lag fast unverändert bei 47%.

Vergleicht man diese Zahlen mit dem Ergebnis der Stern-Umfrage (51% aller Baden-Württemberger bzw. 67% der Stuttgarter stimmten dort gegen S21, 26% der Baden-Württemberger und 30% der Stuttgarter dafür*), so wird deutlich, dass die Proteste der vergangenen Monate zwar die vorhandene Skepsis gegenüber S21 sichtbar gemacht haben. Die Überzeugung von Befürwortern oder Unentschiedenen hielt sich jedoch in Grenzen: Mobilisierung ja, Konvertierung nein.

Anders gesagt war die Gruppe der Skeptiker schon seit längerer Zeit beachtlich, sie hat es aber nicht geschafft, im politischen Prozess Gehör zu finden. Auch die meisten Parteien haben das Vorhaben unterstützt. Erst als der Protest auf die Straße verlegt wurde, wurden aber auch die Kritiker von Stuttgart 21 wahrgenommen.

Was bedeutet dies nun für die aktuelle Debatte? Der eingangs dargelegte Gedanke, dass das Projekt bereits seit 15 Jahren diskutiert werde, ist Grundlage des zentralen Arguments der Ausbau-Befürworter: Sie sagen, dass der Planungsprozess über die Jahre hinweg bereits alle Gruppen angehört und alle demokratischen Instanzen durchlaufen habe, daher dürfe er nun nicht einer Stimmungsdemokratie geopfert werden. Faktisch gab es aber offensichtlich nur unzureichende Möglichkeiten für die Ausbau-Gegner, ihre Argumente vorzutragen. Das politische System war nicht in der Lage, diese Stimmen und Stimmungen einzufangen.

Diese Beobachtung alleine ist noch kein Grund, das bisherige (zweifellos demokratisch legitimierte) Verfahren in Frage zu stellen. Sie gibt allerdings Anlass dazu, sich nicht allzu sehr an die gefassten Beschlüsse zu klammern, sondern das Schlichtungsverfahren ergebnisoffen zu gestalten.

*Vielen Dank für die Hinweise auf den Zahlendreher, die Passage wurde korrigiert.

 

Ist das (erhebliche) Protest-Potenzial einer (möglichen) Sarrazin-Partei valide?

Ich habe kürzlich hier in diesem Blog das Potenzial einer (möglichen) „Sarrazin“-Partei auf 26 Prozent geschätzt. Die Zahl und die Methode haben eine lebhafte Diskussion hervorgerufen – über 100 Kommentare, zahlreiche E-Mails bislang.

Das an sich ist eine gute Sache: Viel zu selten werden Zahlen und vor allem die ihnen zugrunde liegenden Verfahren in der Öffentlichkeit diskutiert und hinterfragt. Das war übrigens eines der Motive, dieses Blog zu starten, damit es nicht immer nur heißt: „Eine Studie ergab, dass das Potenzial einer Sarrazin-Partei bei 26 Prozent liegt.“ Ende, aus, fertig.

Dass die Methode, die ich zur Potenzialbestimmung verwendet habe, tatsächlich gültige und zuverlässige Ergebnisse liefert, folgt nicht nur aus ihrer Logik. Es lässt sich auch (indirekt) zeigen, indem man weitere Fragen, die wir gestellt haben, hinzuzieht. Schon gezeigt hatte ich, dass das Potenzial für eine Sarrazin-Partei bei Nichtwählern der Wahl 2009 besonders hoch ist. Darüber hinaus haben wir allen 1000 Befragten auch folgende Frage gestellt:

„Und was halten Sie – ganz allgemein gesprochen – von den folgenden Politikern in Deutschland. Benutzen Sie dafür bitte ein Thermometer von +5 bis -5. +5 bedeutet, dass Sie sehr viel von dem Politiker halten; -5 bedeutet, dass Sie überhaupt nichts von dem Politiker halten.“

Unter anderem sollten die Befragten auch Thilo Sarrazin auf diesem Thermometer einstufen. Unterstellen wir für den Moment, dass die Antworten auf diese Frage nicht durch soziale Erwünschtheit (oder andere Störfaktoren) beeinflusst sind. Dann sollte gelten: Wer Sarrazin positiv bewertet, sollte eine von ihm angeführte Partei auch eher zu wählen bereit sein. Wer Sarrazin dagegen negativ bewertet, der sollte auch weniger willens sein, einer „Sarrazin“-Partei seine Stimme zu geben. In der Logik der Studie (siehe zur Methode meinen vorherigen Beitrag) sollte also gelten: Für Sarrazin-Befürworter sollte der zu beobachtende Unterschied in der mittleren Zahl wählbarer Parteien deutlich größer ausfallen als in der Sarrazin-skeptischen Gruppe.

Und genau so ist es, wie die folgende Abbildung zeigt:

In der Gruppe derer, die Thilo Sarrazin (sehr) positiv bewerten, ergibt sich ein Potenzial von 46 Prozent – dies gegenüber einem Potenzial von 19 bzw. 12 Prozent bei Personen, die ihm (vermeintlich) neutral bis negativ gegenüberstehen. Die Methode besteht demnach diesen Test problemlos.

(Die Daten wurde von YouGovPsychonomics im Zeitraum vom 20. bis zum 22. September erhoben, befragt wurden 1000 Personen.)