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Der Teufel steckt im (Wahlrechts-)Detail

Zur Mehrheit fehlt Rot-Grün in NRW ein einziger Sitz. Rot-Grün-Rot wird es nicht geben. Also bleibt den Sozialdemokratinnen dort wohl nur der (schwere) Gang in die Große Koalition. Wie die Kollegen von wahlrecht.de zeigen, hängt die Sitzverteilung dabei nicht vom gewählten Zuteilungsverfahren ab. Ob Sainte-Laguë, Hare/Niemeyer oder D’Hondt – das Ergebnis ist identisch. Zumindest solange man die Sitzzahl bei 181 belässt.
Gleichwohl könnte man sich bei Rot und Grün mit Blick auf das Wahlsystem die Haare raufen – kleine Veränderungen der Regeln hätten mitunter große Wirkung gehabt: So hätte es für Rot-Grün etwa gereicht, wenn der nordrhein-westfälische Landtag nur aus 159 Sitzen bestehen würde (und die Sitze nach Hare/Niemeyer zugeteilt worden wären): Die SPD hätte dann nämlich 59 Sitze erhalten (wie die Union auch), die Grünen 21 – und 80 rot-grüne Sitze wären eine Mehrheit gewesen. Analog wäre es bei Sitzzahlen von 3, 5, 7, 19, 21, 35, 59, 73, 75, 87, 89, 91 und 105 gewesen… aber bei 181 eben nicht.

 

Mehr direkte Demokratie wagen?

Wie in früheren Bundestagswahljahren erscheinen auch 2009 zahlreiche Bücher zu politischen Themen. Einen publikumswirksamen Startschuss gab Gabor Steingart mit dem Band „Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers“ ab. In seiner Philippika rechnet der Spiegel-Journalist mit den Parteien ab und fordert zum kalkulierten Wahlboykott auf. In einem jüngst erschienenen Band wirbt Beatrice von Weizsäcker unter dem provokanten Titel „Warum ich mich nicht für Politik interessiere“ für politisches Engagement. So unterschiedlich beide Autoren und Bücher sein mögen, eint sie das Plädoyer für mehr direktdemokratische Verfahren in Deutschland, und zwar auch auf der Bundesebene. Davon versprechen sich Steingart wie von Weizsäcker nicht zuletzt eine Steigerung des politischen Interesses und Engagements, aber auch eine Stärkung des politischen Verantwortungsgefühls der Bürger.

Ihre Argumente für die Ausweitung direktdemokratischer Elemente klingen auf den ersten Blick bestechend. Wenn die Bürger erst einmal mehr zu entscheiden hätten, würden sie sich besser über politische Fragen informieren, intensiver mit Politik auseinandersetzen und dann ebenso kompetente wie verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen. Nicht zuletzt entkräftet diese Argumentation den beliebten Einwand, Umfrageergebnisse zeigten, dass Deutschland unter den Bedingungen direkter Demokratie nicht Nato-Mitglied geworden wäre und längst wieder die Todesstrafe eingeführt hätte. Denn verändern direktdemokratische Verfahren tatsächlich die Haltung der Bürger zur Politik, dann lassen sich aus vorliegenden demoskopischen Befunden gerade keine Rückschlüsse auf die Ergebnisse direktdemokratischer Prozesse ableiten.

Auch plausible Argumente können sich jedoch als empirisch falsch erweisen. Um das zu klären, lohnt sich ein Blick über den Tellerrand. Denn die internationale Abstimmungsforschung hat einige Befunde zur Frage zusammengetragen, wie sich direktdemokratische Elemente auf politisches Interesse und Engagement der Bürger auswirken. Diese Untersuchungen, in erster Linie gestützt auf Material aus den USA und der Schweiz, legen den Schluss nahe, dass direktdemokratische Elemente kein Wundermittel zur Stimulierung des politischen Engagements der Bürger sind. Das politische Wissen der Bürger scheint infolge direktdemokratischer Verfahren ebenso allenfalls leicht zuzunehmen wie das Gefühl der Bürger, politisch kompetent zu sein. Auch lassen direktdemokratische Elemente das Gefühl der Bürger, das politische System reagiere auf ihre Wünsche und Forderungen, kaum intensiver werden. Auf die Wahlbeteiligung lassen sich in den USA leichte Mobilisierungseffekte nachweisen, während in der Schweiz eher umgekehrte Effekte aufzutreten scheinen.

Selbst wenn man berücksichtigt, dass Befunde nicht ohne weiteres von Land zu Land übertragen werden können, hieße es wohl, die empirische Evidenz allzu sehr zu strapazieren, interpretierte man sie als Beleg dafür, dass nach der Einführung direktdemokratischer Verfahren ein sprunghafter Anstieg des politischen Interesses und Engagements in Deutschland zu erwarten wäre. Steingart und von Weizsäcker scheinen sich von direktdemokratischen Verfahren also mehr zu versprechen, als diese zu leisten vermögen. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht andere gute Gründe geben könnte, ernsthaft über die Einführung direktdemokratischer Elemente auch auf Bundesebene nachzudenken.

 

Die SPD und die Überhangmandate

Die Überhangmandate lassen die Abgeordneten des Bundestags bis zum Ende der Legislaturperiode nicht los. Am kommenden Freitag wird ein Gesetzentwurf der Grünen zur Vermeidung von Überhangmandaten bei der kommenden Bundestagswahl beraten. Diese Frage, die sonst eher nur Wahlrechtsfeinschmecker interessieren würde, darf diesmal mit erheblichem öffentlichem Interesse rechnen. Denn bei der Wahl am 27. September könnten laut Simulationen Überhangmandate dafür sorgen, dass eine schwarz-gelbe Koalition im Bundestag über eine Mandatsmehrheit verfügt, die sie andernfalls nicht erhielte (siehe auch meinen früheren Beitrag sowie Beiträge von Thomas Gschwend und Thorsten Faas). Anders als bei früheren Wahlen könnte man die Überhangmandate nicht mehr als wahlsystemisches Kuriosum ohne praktisch-politische Bedeutung betrachten. Vielmehr könnte diese vom Bundesverfassungsgericht monierte Regelung zu einem echten Machtfaktor werden.

Die Meinungsbildungsprozesse in Parteien und Fraktionen sind in vollem Gange. Die Linke signalisierte bereits Unterstützung für den Vorschlag der Grünen. Union und FDP sprachen sich – vermutlich aus nahe liegenden Gründen – gegen den Entwurf aus. Die Rolle des Züngleins an der Waage fällt damit den sozialdemokratischen Abgeordneten zu. Die SPD hat sich Zeit genommen für einen längeren Abwägungsprozess. Nachdem aus der Fraktion Signale zugunsten des Grünen-Vorschlags ausgesandt wurden, scheint die SPD-Führung nun eher dazu zu neigen, nicht für den Entwurf der Grünen zu votieren. Doch damit muss das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Unabhängig davon, wie sich die SPD letztlich entscheiden wird, dürfte der sorgfältige Abwägungsprozess der Sozialdemokraten damit zusammenhängen, dass sie sich in einer interessanten Situation befinden. Würden die Sozialdemokraten für den Gesetzentwurf der Grünen votieren, würde das vielen Beobachtern angesichts der vermutlichen Auswirkungen der Überhangmandate auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag durchaus einleuchten. Allerdings entbehrte ein solches Votum nicht einer gewissen Pikanterie, und zwar aus zwei Gründen. Entschieden sich die Sozialdemokraten für den Entwurf der Grünen, würden SPD, Grüne und die Linke in einer politisch brisanten Frage gemeinsam abstimmen. Mancher politische Gegner dürfte das wohl als Indiz oder gar Beweis dafür werten, dass die Sozialdemokraten ihre Schwüre, auf Bundesebene keine sogenannte rot-rot-grüne Koalition zu bilden, vergäßen, sobald ein Bündnis mit der Linken den Sozialdemokraten eine Machtperspektive eröffnete. Aus der Wahlrechtsfrage könnte also Wahlkampfmunition werden.

Eine zweite Komplikation ergibt sich aus der vermutlichen Wirkung der angestrebten Wahlrechtsänderung. Die Vermeidung von Überhangmandaten würde dazu führen, dass eine Koalition aus Union und FDP weniger wahrscheinlich eine Mehrheit im Bundestag erhält. Nimmt man zusätzlich an, dass die Koalitionsaussagen der Parteien auch nach dem 27. September noch gelten, heißt das, dass eine Fortsetzung der Großen Koalition wahrscheinlicher würde. Das Klima in dieser Koalition dürfte allerdings nicht dadurch verbessert werden, dass ein Partner kurz vor dem Wahltag die eherne Koalitionsregel, dass die Bündnispartner einheitlich abstimmen, bricht. Mit anderen Worten: Die Große Koalition würde wahrscheinlicher, ihre Arbeit aber wohl nicht einfacher.

 

Battleground-Wahlkreise? Zur aktuellen Diskussion um Überhangmandate

Die These einer Amerikanisierung von deutschen Wahlkämpfen hat mittlerweile einen langen Bart. Im Zuge der aktuellen Diskussion um mögliche Überhangmandate könnte allerdings ein neues, bislang wenig diskutiertes Element hinzukommen: Battleground-Wahlkreise.

„Battleground states“ sind in den USA jene Bundesstaaten, in denen es sowohl für Demokraten als auch Republikaner möglich erscheint, die (relative) Mehrheit zu erreichen. Und wer die relative Mehrheit gewinnt, der gewinnt – bei Präsidentschaftswahlen – alle Wahlmännerstimmen dieses Bundesstaates: „the winner takes it all“. Diese Bundesstaaten liefern also eine potenziell große Prämie für eine Partei, weshalb dort die Wahlkampfschlacht besonders heftig tobt – battleground state eben.

Was das mit Überhangmandaten zu tun hat? Die Gewinner der 299 Wahlkreise bei der Bundestagswahl werden ebenfalls per relativer Mehrheitswahl gefunden: Wer die meisten Stimmen in einem Wahlkreis bekommt, zieht als direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter in den Bundestag ein. Im bundesdeutschen Wahlsystem ist dies – eigentlich – eine Nebensächlichkeit (siehe hierzu auch den Beitrag von Thomas Gschwend). Über die Machtverteilung im Bundestag wird anders entschieden. Nämlich über die Verteilung der Zweitstimmen. Wenn die Union 35 Prozent der Zweitstimmen erhält, erhält sie auch ungefähr 35 Prozent der Sitze im Deutschen Bundestag (bzw. etwas mehr, weil ja Parteien, die an der 5%-Hürde scheitern, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werden).

Bei 598 Sitzen im Bundestag und einem angenommenen Stimmenanteil von 35 Prozent sind dies also rund 210 Sitze. Diese werden in einem zweiten Schritt auf die Bundesländer (und die dortigen Listen der Union) verteilt. In Baden-Württemberg etwa leben rund 12 Prozent der deutschen Wahlberechtigten, also wird die Union dort in etwa 25 Sitze (12 Prozent von 210) gewinnen. Sagen wir, die Union erhält dort 30 Sitze, weil die CDU ja dort immer gut abschneidet. Baden-Württemberg hat aber zugleich bei der Bundestagswahl im Herbst 38 Wahlkreise. Und hier kommt die zu ergatternde Prämie aus Sicht der Parteien ins Spiel: Wenn die Union alle 38 Wahlkreise in Baden-Württemberg gewinnt, wird sie auch mit 38 Abgeordneten aus Baden-Württemberg in den Bundestag einziehen – die Differenz zwischen den 38 Direktmandaten und den 25 bis 30 ihr „zustehenden“ Sitzen ist die Extra-Prämie, die zu holen ist, das sind die Überhangmandate. Und bei knappem Wahlausgang kann das in der Tat den machtpolitischen Ausgang der Wahl bestimmen.

Dass Ähnliches eintritt, ist sehr wahrscheinlich – darauf hat Joachim Behnke mit seinen Analysen eindrucksvoll hingewiesen. Allerdings darf man eines nicht vergessen: Die anderen Parteien – allen voran die SPD -, mit denen die Union im Kampf um Direktmandate konkurriert, können (und werden) auf diese Szenarien reagieren. Die SPD sollte (und wird) alles daran ansetzen, um etwa in Baden-Württemberg (und anderen Ländern mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für Überhangmandate) in ihren (relativen) Hochburgen die Mehrheit zu gewinnen (Mannheim wäre ein solches Beispiel). Denn jedes einzelne Direktmandat, das die Union nicht gewinnt, bedeutet ein Überhangmandat weniger (und lässt die Prämie der Überhangmandate wieder abschmelzen). Die SPD sollte also gezielt in diesen Wahlkreisen besonders aktiv sein. Das möchte aber die Union überhaupt nicht, also wird auch sie in diesen Wahlkreisen ihre Aktivitäten intensivieren. Und so entsteht ein Battleground-Wahlkreis.

 

Nur eine Petitesse des Wahlrechts? Überhangmandate bei der nächsten Bundestagswahl

Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem bundesweiten Verhältnis der Zweitstimmen eigentlich zustünden. Solche Überhangmandate sind zwar, um es lax auszudrücken, unschön, stören aber nicht weiter, solange sich damit keine anderen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ergeben. Wenn aber CDU, CSU und SPD, die ja im Wesentlichen die Direktmandate gewinnen, eigentlich viel weniger Sitze zustehen, als sie schon mit Direktmandaten gewinnen, kann es zu deutlichen Verzerrungen kommen.

Mein Kollege Joachim Behnke von der Zeppelin University in Friedrichshafen hat nun eine überzeugende Simulationsstudie vorgelegt, die zu alarmierenden Ergebnissen kommt, wie er gestern in Spiegel Online berichtet. In einer Simulationsstudie wie dieser werden systematisch bestimmte Szenarien eines möglichen Wahlausgangs durchgespielt. Dazu müssen immer Annahmen gemacht werden, die angreifbar sind, worauf Joachim Behnke selbst immer wieder hinweist.

In seiner Studie wird von den 299 Wahlkreisergebnissen der letzten Bundestagswahl 2005 ausgegangen und angenommen, dass sich die Erststimmen der Parteien in jedem Wahlkreis gleichmäßig verbessern bzw. verschlechtern, wie es die derzeitigen Umfragewerte der Zweitstimmen widerspiegeln. Zu diesen Werten werden noch die zu erwartenden Stimmensplitter (in der Größenordnung der letzten Bundestagswahl) der Wunschkoalitionspartner FDP und der Grünen für die WahlkreiskandidatInnen der CDU, CSU und SPD pro Wahlkreis hinzugezählt. Somit können die Gewinner der Direktmandate mit dem jeweiligen Zweitstimmenergebnis (sofern die jetzigen Umfragen stimmen) der Parteien verglichen und die Anzahl der Überhangmandate berechnet werden. Da die Umfragen zu diesem Zeitpunkt bestenfalls ungefähr das Endergebnis widerspiegeln, werden mehrere leicht schwankende Zweitstimmenergebnisse der Parteien als Berechnungsgrundlage herangezogen. Daher bekommt man nicht eine bestimmte prognostizierte Anzahl der Überhangmandate für CDU, CSU bzw. SPD, sondern eine ganze Verteilung solcher Werte.

Behnkes Ergebnisse verdeutlichen die Größe des zu erwartenden Vorsprungs der CDU/CSU gegenüber der SPD. Der Sitzvorsprung der CDU/CSU vor der SPD, nur basierend auf Überhangmandaten, beträgt im Mittel mehr als 21 Sitze. In praktisch allen Simulationen hat die CDU/CSU einen deutlichen Vorsprung an Überhangmandaten, oft sogar einen rekordverdächtigen. Eine auf diese Weise künstlich vergrößerte CDU/CSU Fraktion im Bundestag hätte auch erheblich mehr strategisches Machtpotential in Koalitionsverhandlungen mit der FDP (oder natürlich auch den Grünen bzw. der SPD) nach der Bundestagswahl.

So dramatisch wird es vermutlich aber nicht kommen. Ich nehme nicht an, dass die jetzigen Umfragen wirklich gut das Stimmungsbild am Wahlabend wiedergeben. Der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD wird sich noch verkleinern. Potentielle Wahlkreissieger der CDU/CSU gemäß Behnkes Simulationsstudie werden dann doch nicht das Direktmandat gewinnen, sondern es an die SPD-KandidatIn verlieren, was sofort zu einer Verringerung von Überhangmandaten führen würde. Außerdem wären die Wahlkampfstrategen der Parteien töricht, wenn sie ihre Direktmandatsstrategien nicht entsprechend auf diese Umstände anpassten (siehe hierzu auch den Beitrag von Thorsten Faas).

 

Wahl-Forensik im Iran

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin ein Fan des iranischen Kino. Der Gegensatz von Moderne und Tradition, der oft neben beeindrucken Bildern das inhaltliche Leitthema bildet, fasziniert mich seit einiger Zeit. Ich spreche aber weder die Sprache, noch kann ich die Schrift entziffern. Ehrlich gesagt habe ich echte Mühe, mehr als fünf iranische Städte beim Namen zu nennen. Ich bin also genauso auf die übliche Berichterstattung angewiesen.

Das böse Wort „Wahlfälschung“ macht die Runde, wenn von den Präsidentschaftswahlen im Iran vom 12. Juni die Rede ist. Leider scheinen unsere Nachrichten lieber an irgendwelche selbst gedrehten Amateurvideos von Protesten interessiert zu sein und den ewigen Bildern vom Teheraner Nachthimmel, als einmal den Versuch zu unternehmen herauszufinden, was an den Wahlbetrugsvorwürfen den nun wirklich dran ist. Für viele westliche Beobachter der Iranischen Politik scheint dieser Vorwurf bereits zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden, der man nicht weiter nachgehen muss. Gerne werden Geschichten zitiert, die zur eigenen Überzeugung passen, während andere übergangen werden.

Wie lassen sich aber Wahlbetrugsvorwürfe von Außen überprüfen? Mittlerweile kursieren im Internet Hinweise auf Links zum Iranischen Innenministerium, von denen man (ich nehme an „vorläufige“) Wahlergebnisse der Provinzen und Wahlkreisen herunterladen kann. Fördern diese Zahlen den Glauben oder eher die Skepsis an den Vorwürfen? Für Interessierte und Wahl-Forensiken ohne besondere Kenntnisse der Iranischen Politik bleiben im Wesentlichen zwei mögliche Herangehensweisen.

Zum einen lassen sich die absoluten Stimmergebnisse dahingehend analysieren, ob sie bestimmte zu erwartende Gesetzmäßigkeiten (das sogenannte „Newcomb-Benford-Gesetz“) in den Ziffernstrukturen der publizierten Wahlergebnisse aufweisen. So weiß man, dass Ziffern innerhalb solcher Datensätze nicht gleich oft vorkommen (die grüne Linie in der unten stehenden Graphik), sondern bestimmten Regelmäßigkeiten (der roten Linie) folgen: Je niedriger der zahlenmäßige Wert einer Ziffer an einer bestimmten Stelle einer Zahl ist, umso häufiger tritt sie auf. So tritt beispielsweise die ‚1‘ als erste Ziffer viel häufiger als alle anderen Ziffern. Am seltensten sollte die ‚9‘ als erste Ziffer in Wahlergebnissen zu finden sein. Machen Sie doch einmal zum Spaß die Probe im Excel-Sheet zu den Einträgen Ihrer letzten Steuererklärung!

Das Newcomb-Benford-Gesetz

Quelle: Wikipedia

Statistiker und Informatiker haben diese Idee weiter vorangetrieben und Software zur automatischen Aufdeckung von Datenfälschung entwickelt. Als besonders aufschlussreich erweisen sich im Zusammenhang mit Wahlergebnissen die Vergleiche der Häufigkeiten der zweiten Ziffern in einzelnen veröffentlichten Wahlergebnissen mit der nach dem Newcomb-Benford-Gesetz erwartenden Häufigkeiten. Weichen diese (beobachtenden und erwarteten) Häufigkeiten systematisch voneinander ab, dann wird dies als ein starkes Indiz für aufgetretene Unregelmäßigkeiten in den veröffentlichten Wahlergebnissen gewertet.

Eine zweite Methode um möglichen Wahlfälschungen auf die Spur zu kommen sind statistische Verfahren, die versuchen die beobachteten Wahlergebnisse durch frühere Wahlergebnisse und andere Informationen auf Wahlkreisebene systematisch vorherzusagen. Dabei kommt es zwangsläufig zu Prognosefehlern. Sind diese Fehler für viele Wahlkreise (a) sehr groß, d.h. lassen sich die Wahlergebnisse in diesen Wahlkreisen nur schlecht vorhersagen, und (b) werden die Stimmanteile für bestimmte Kandidaten oder Parteien systematisch unterschätzt (oder überschätzt), dann spricht das eher für eine Wahl mit Unregelmäßigkeiten als für eine faire Wahl.

Was genau bei den Iranischen Präsidentschaftswahlen passiert sein mag, kann natürlich keine dieser Methoden abschließend erklären. Die korrekte Anwendung dieser beiden Methoden kann aber wenigstens Anhaltspunkte für Wahlprüfungsexperten liefern, um mit der Überprüfung zu beginnen.

Der führende Experte auf dem Gebiet der Wahl-Forensik ist Walter Mebane. Der Professor für Politikwissenschaft an der University of Michigan hat schon einige Untersuchungen zu Wahlunregelmäßigkeiten in den USA, Mexico und Russland vorgelegt. Mebane wendet diese beiden Methoden auf die wenigen bisher zur Verfügung stehenden Daten zur jüngsten Präsidentschaftswahl im Iran an. Walter Mebane ist sicherlich kein Zeitgenosse, der vorschnelle statistische Analysen als Pseudo-Evidenz für oder gegen Wahlunregelmässigkeiten veröffentlicht. Im Gegenteil, Interessierte können seine Ergebnisse hier herunterladen. Zudem veröffentlicht er sogar Daten und Protokolle seiner statistischen Analysen, damit sie nachprüfbar bleiben und verbessert werden können. Seine bisherigen Analysen (Stand: 22. Juni 2009) lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen:

Während Mebane nur zufällige Abweichungen der zweiten Ziffern in den ihm vorliegenden Wahlergebnissen für Mussawi von der zu erwartenden Verteilung der zweiten Ziffern findet, erhält er systematische Abweichungen von den erwarteten Häufigkeiten bei drei weiteren Kandidaten, darunter auch den Stimmenergebnissen von Amtsinhaber Ahmadinedschad. Zudem findet er eine große Anzahl von Wahlkreisen, in denen Ahmadinedschad systematisch besser abschneidet als durch weitere statistische Verfahren vorhergesagt werden kann. Das deutet zumindest auch auf die Möglichkeit von Unregelmäßigkeiten bei der jüngsten Präsidentschaftswahl hin. Natürlich könnte es theoretisch auch andere Gründe geben, mit denen man die Stimmergebnisse in allen Wahlkreisen sehr gut vorhersagen könnte. Mehr Informationen über das Wahlverhalten der Iraner sind dazu erforderlich. Allerdings deutet die hohe Anzahl dieser schlechten Vorhersagen in Kombination mit den systematischen Abweichungen der Verteilungen der zweiten Ziffern in den Wahlergebnissen mehreren Präsidentschaftskandidaten eher auf Unregelmäßigkeiten bei dieser Wahl hin.

 

Bayern gegen Bremen

Duelle zwischen Bayern und Bremen kennt man vor allem im Fußball. Doch auch bei der Europawahl gibt es dieses Duell, vor allem im Unionslager. Während alle anderen Parteien mit bundesweit einheitlichen Listen zur Europawahl antreten, tritt die Union mit Landeslisten (also einer eigenen Kandidatenliste pro Bundesland) an. Dieser Umstand ist der CSU geschuldet – da sie in Bayern (und nur dort) antritt, muss auch die CDU in jedem einzelnen der übrigen 15 Länder mit einer eigenen Liste antreten.

Die Vergabe der Sitze erfolgt am Sonntag zweistufig: Zunächst auf die CDU insgesamt, dann – nach der Anzahl der pro Bundesland erhaltenen Stimmen – auf die einzelnen Landeslisten der CDU. Nun wird die CDU, das dürfte eine nicht allzu kühne Prognose sein – rund 35 der 99 deutschen Sitze am kommenden Sonntag gewinnen können. Dass einer davon von einem bremischen Kandidaten besetzt werden wird, ist aber nahezu ausgeschlossen. Zu klein ist der Anteil Bremens an der deutschen Bevölkerung (und damit auch innerhalb der CDU-Wählerschaft), nur 0,8 Prozent der Wahlberechtigten leben dort. Die CDU-Liste Bremens wird nicht zum Zuge gekommen, selbst ihr Spitzenkandidat wird nicht ins EP einziehen. Und das alles nur (ein wenig überspitzt formuliert) wegen der CSU. Bayern gegen Bremen – manchmal auch abseits des Platzes.

 

Europawahlen ohne Unionsbürger?

Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) wurde – zusätzlich zur Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes – die Unionsbürgerschaft eingeführt. Ein wichtiges Element dieser EU-Staatsbürgerschaft ist das Wohnortprinzip bei Kommunal- und Europawahlen. Es bedeutet, dass EU-Bürger auch in demjenigen Mitgliedsstaat der EU wahlberechtigt sind (und auch für das Europaparlament bzw. das lokale Parlament kandidieren können), in dem sie ihren Hauptwohnsitz haben. So können seit 1995 auch in Deutschland Unionsbürger an kommunalen und Europawahlen teilnehmen.
Inwieweit Unionsbürger von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen, wissen wir nicht genau. Für Kommunalwahlen gibt es zumindest aus einigen Städten (Berlin, Hamburg, Bremen, Stuttgart) verlässliche Zahlen. Sie zeigen, dass dort seit 1995 zwischen 15 und 27 Prozent der Unionsbürger die lokalen Parlamente mitgewählt haben. Es gibt jahres- und ortsabhängige Schwankungen, aber keinen klaren Trend einer Zu- oder Abnahme der Wahlbeteiligung von Unionsbürgern bei deutschen Kommunalwahlen. Über die Beteiligung der Unionsbürger an Europawahlen in Deutschland wissen wir noch weniger. Sicher ist jedoch, dass die Beteiligung erheblich geringer ist als bei Kommunalwahlen.
Dies hat mit einem unterschiedlichen Verfahren der Registrierung zu tun. Sind Unionsbürger bei Kommunalwahlen automatisch wahlberechtigt, so müssen sie sich für Europawahlen mindestens 21 Tage vor der Wahl registrieren lassen. Diese Frist ermöglicht es, diejenigen Unionsbürger, die in Deutschland ihre Stimme abgeben möchten, aus dem Wahlregister desjenigen Landes, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen (und dort automatisch wahlberechtigt sind), auszutragen. So soll verhindert werden, dass Unionsbürger zwei Stimmen abgeben – im Land des Wohnsitzes und im „Heimatland“.
Eine Registrierung aber ist eine erhebliche Hürde für die Beteiligung an einer Wahl und unterstreicht, dass Wahlbeteiligungsraten in Ländern mit grundsätzlicher Registrierung (z.B. USA) nicht ohne weiteres mit denjenigen in Ländern ohne Registrierung verglichen werden sollten. Für Unionsbürger und Europawahlen in Deutschland hat diese institutionelle Hürde Folgen: 1999 ließen sich in Deutschland 34.000 Unionsbürger ins Wählerverzeichnis für die Europawahl eintragen. Dies sind angesichts des damaligen Anteils von Unionsbürgern an der Bevölkerung (1,6 Mio.) gerade einmal 2%. Gemessen an allen Wahlberechtigten in Deutschland machten 1999 die Unionsbürger nur 0,05% aus. Im Jahr 2004 gab es eine Steigerung auf 133.000 (7% von 2 Mio.), die dann 0,2% der Wähler ausmachten.
Obwohl für 2009 noch keine bundesweiten Zahlen vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass auch diese Europawahl in Deutschland weitgehend ohne Unionsbürger stattfinden wird. Dennoch wählen etliche Unionsbürger bei Europawahlen; es scheint jedoch, dass weit mehr von ihnen in einem Konsulat oder der Botschaft ihres Heimatlandes wählen als ins „deutsche“ Wahllokal zu gehen. Wissenschaftliche Untersuchungen hierzu liegen nicht vor; auf der Grundlage journalistischer Reportagen kann man jedoch die Hypothese formulieren, dass die Europawahl im Konsulat als eine Art ethnisch-kulturelles Happening verstanden wird. So wird die Europawahl von vielen Unionsbürgern zwar in Deutschland, aber dennoch exterritorial begangen. Die Erfinder der Unionsbürgerschaft hatten sich dies anders vorgestellt. Auf dem Hintergrund dieser Praktiken sollte man vielleicht ernsthafter als bisher über europaweite Partei- und Kandidatenlisten nachdenken. Diese ließen sich, wie das Bundestagswahlsystem zeigt, durchaus mit regionalen oder lokalen Kandidatenlisten kombinieren. So könnte zum Beispiel eine in München lebende Griechin in einem Münchner Wahllokal sowohl für das europaweite Parteienbündnis ihrer in Griechenland präferierten Partei als auch für einen bayerischen Kandidaten stimmen. Der Gang ins Konsulat wäre dann nicht mehr notwendig – die Option, die Europawahl nach der Stimmabgabe als ethnisch-kulturelles Ereignis im griechischen Konsulat zu begehen, bliebe indes erhalten.

 

Mehr Demokratie wagen? Nein, wir haben schon genug…

Diese Forderungen sind populär und es verwundert nicht, dass auch Horst Köhler direkt nach seiner Wiederwahl in dieses Horn stößt: Man solle doch bitte schön den Bürger (noch) mehr entscheiden lassen: Der Bundespräsident solle demnächst direkt gewählt werden und die Bürger sollten bitte schön auch in anderen Fragen direkt entscheiden dürfen – ein Plädoyer für Volksbegehren, Volksentscheide und dergleichen.

Warum eigentlich? Unsere parlamentarische Demokratie bietet den Bürgern viele Möglichkeiten der Partizipation. Auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten können sie am politischen Prozess teilhaben: regional, lokal und europäisch sowie auf unterschiedliche Themen und Formate bezogen. In den letzten Jahren ist es der Politik jedoch immer weniger gelungen, Bürger hierfür zu begeistern. Austritte aus den Parteien und wenig Wahlbeteiligung – insbesondere auch auf kommunaler Ebene – waren die Folgen. Wie es in knapp zwei Wochen um die Wahlbeteiligung in Europa stehen wird, werden wir sehen.

Dies hat jedoch nichts mit einer mangelnden Engagement-Bereitschaft der Bürger zu tun. Aus der Sozialkapitalforschung wissen wir, dass Bürger durchaus bereit sind, sich zu engagieren – etwa im Sportverein, im Chor oder im Kindergarten. Schon einige wenige Zahlen verdeutlichen die Partizipationsbereitschaft der Deutschen: 6,5 Millionen Mitglieder zählt allein schon der Deutsche Fußball-Bund, knapp 500.000 Menschen sind ehrenamtlich im katholischen Wohlfahrtsverband der Caritas tätig und eine Allensbach-Umfrage aus dem letzten Jahr schätzt, dass ca. jeder fünfte Deutsche ehrenamtlich tätig ist.

Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist nicht ein Mangel an Partizipationsmöglichkeiten. Es muss vielmehr die Aufgabe der Politik in den nächsten Jahren sein, das vorhandene Partizpationspotential auszuschöpfen. Die Bürger müssen den Weg vom Fußballplatz zurück in die Politik finden und verstehen, was das eine mit dem anderen zu tun hat…

 

Ein verfassungswidriges Zünglein an der Waage?

Wahlsystemfragen gelingt es nur selten, über einen eng umgrenzten Spezialistenzirkel hinaus öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Die Überhangmandatsklausel bildet dazu keine Ausnahme. Vermutlich hat mancher Beobachter sogar den Eindruck gewonnen, sie diene vor allem dazu, Institutionen der politischen Bildung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen und Examenskandidaten verschiedener Studienfächer in Verlegenheit zu bringen. Im Juli 2008 jedoch bündelte diese Regelung das Interesse der Öffentlichkeit. Denn das Bundesverfassungsgericht verwarf das gültige Bundestagswahlsystem wegen des mit den Überhangmandaten zusammenhängenden Problems des so genannten „negativen Stimmgewichts“. Allerdings forderte es nicht eine umgehende Änderung des Wahlsystems, sondern gab dem Gesetzgeber dafür bis Ende 2011 Zeit. Diese Entscheidung begründete es vor allem mit der Komplexität der zu regelnden Materie.

Diese Entscheidung dürfte den Verfassungsrichtern umso leichter gefallen sein, als Überhangmandate bisher die Machtverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit, also die zentrale Machtfrage in der parlamentarischen Demokratie, im Kern unberührt ließen. Aus der Tatsache, dass bislang noch keine Regierung ihre Mehrheit Überhangmandaten zu verdanken hatte, folgt freilich nicht, dass dies im Jahr 2009 ebenfalls so sein wird. Die Zukunft ist nicht notwendigerweise eine Fortschreibung der Vergangenheit. Dies gilt nicht nur für Aktien, die nach jahrzehntelang aufsteigender Tendenz binnen kurzer Zeit dramatisch an Wert verlieren, sondern auch in der Politik können sich die Verhältnisse grundlegend verändern.

Nimmt man – bei aller methodenbedingter Vorsicht – etwa momentane Umfrageergebnisse zum Maßstab, erscheint es beispielsweise nicht ausgeschlossen, dass bei der Bundestagswahl 2009 Union und FDP zwar auf der Grundlage ihrer Zweitstimmenergebnisse keine parlamentarische Mehrheit erhalten, aber Überhangmandate für die Union eine christlich-liberale Mehrheit im Bundestag ermöglichen. Die neue Bundesregierung könnte somit ihre parlamentarische Mehrheit einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärten Regel verdanken. Es ist eine offene Frage, ob eine solche Regierung – getreu dem in verschiedenen parteipolitischen Konstellationen bewährten Grundsatz „Mehrheit ist Mehrheit“ – gebildet würde, wie es um ihr Ansehen und ihre Durchsetzungsfähigkeit bestellt wäre und ob auf juristischem Wege gegen sie vorgegangen würde. In jedem Fall hat das Bundesverfassungsgericht eine politisch delikate Konstellation geschaffen, die Anlass für manche Diskussion bieten dürfte.