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Ein Werbeprospekt fürs Kalifat

 

Die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), die kürzlich ein Kalifat ausgerufen hat, nimmt Rücksicht auf die vermuteten Wissenslücken ihrer Sympathisanten im Westen – und hat ein Hochglanz-Magazin produziert, das auf Englisch erklärt, was es mit diesem neuen Staatswesen so auf sich hat. Es ist, im Grunde, eine Werbebroschüre für die Auswanderung in den Irak oder nach Syrien. Es ist aber auch Beispiel dafür, wie niedrigschwellig die Rekrutierungsangebote der Dschihadisten geworden sind.

Früher mussten sich Freiwillige aus dem Westen selbst bemühen, etwa Arabisch lernen, um mitreden zu können und ernst genommen zu werden; heute bemühen sich die Terroristen – und bauen ihnen Brücken, erklären ihnen die Regeln, ermöglichen ihnen, Teil der Debatte zu werden. Natürlich leidet das Niveau ein wenig darunter – besonders tiefsinnig ist die Publikation nicht. Aber ich fürchte, auch angesichts der Tatsache, in welcher Zahl die Download-Links zu diesem Material herumgereicht werden, dass das nicht ohne Effekt ist. 

In dem aktuellen Magazin (eine Nullnummer; es soll aber weitere, regelmäßige Ausgaben geben) geht es vor allem um die Bedeutung der Gründung dieses Terror-Kalifats. Ausführlich wird noch einmal aus den zwei maßgeblichen Reden zitiert: der des offiziellen IS-Sprechers Al-Adnani, der das Kalifat ausrief; und der des „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi, der sich anschließend ausführlich ausließ. Es sind vor allem Passagen ausgewählt worden, die Sympathisanten im Westen ansprechen sollen. Aus der Rede Al-Baghdadis etwa diese Stelle:

„Schon bald, mit Allahs Erlaubnis, wird der Tag kommen, an dem ein Muslim überall als Meister auftreten wird, mit Ehre ausgestattet, verehrt, mit erhobenem Haupt und unversehrter Würde. Jeder, der ihn beleidigt, wird bestraft werden. Eine Hand, die nach ihm langt, wird abgeschlagen. Lasst die Welt wissen, dass wir in einer neuen Ära leben.“

Von Al-Adnani gibt es zum Beispiel diesen Auszug zu lesen:

„Die Zeit ist gekommen, dass jene Generationen, die in einem Ozean der Schande zu ertrinken drohten, die mit der Milch der Erniedrigung genährt wurden, die von den liederlichsten aller Menschen regiert wurden, nach einem langen Schlummer sich nun endlich erheben werden … Die Sonne des Dschihad ist aufgegangen!“

Ich zitiere das nur deshalb so ausführlich, um zu verdeutlichen, dass die Macher genau wissen, was sie hier tun. Sie appellieren an Gefühle, die viele radikalisierte Muslime im Westen empfinden: Erniedrigung, Diskriminierung, Ausgrenzung, Machtlosigkeit. Diese Redeauszüge sind Angebote an sie, eine neue Identität anzunehmen – als virtuelle oder tatsächliche „Staatsbürger“ dieses „Kalifats“, das sie angeblich mit Ehre und Würde auszustatten in der Lage sind und aus Opfern Gestalter werden lässt.

Das ist ein starkes Narrativ. In Varianten beschwören Dschihadisten es schon lange; aber tatsächlich glaube ich, dass die Kalifatsidee, durch die unmittelbare Verknüpfung mit der als ideal verherrlichten islamischen Frühgeschichte, diese Gedankenwelt noch einmal stärker konturiert. Jedenfalls für jene, die dafür anfällig sind.

Ganz allmählich wird die Propaganda in dem Onlinemagazin dann konkreter, wechselt vom Hocherhabenen ins Alltägliche: Ingenieure brauche das Kalifat, Spezialisten, die mit anfassen, wird den Lesern mitgeteilt. Sprich: Auch für dich gibt es hier eine Rolle zu spielen.

Die folgenden Seiten beschreiben dann (natürlich extrem geschönt, wenn nicht erfunden), wie IS-Kader dort, wo sie das Sagen haben, vorgehen. Indem sie etwa Listen von Waisen erstellen, um denen die vorgeschriebene Wohltätigkeitsabgabe der frommen Muslime zukommen zu lassen. Indem sie jene zur Umkehr und Reue aufrufen, die auf der Gegenseite gekämpft haben („bevor sie festgenommen werden“, was freilich nur Code ist für: getötet werden).

Dann folgt eine Art Grundkurs über Herrschaftslehren in der islamischen Theologie (wie gesagt: Das Niveau ist hier nicht gerade das einer islamischen Hochschule; alles ist arg verknappt, unterschlägt wichtige Argumente der islamischen Theologie, mit der Dschihadisten nicht einverstanden sind, etc.). Schließlich folgen Geschichten über „Reuige“, die sich dem IS angeschlossen haben und „Nachrichten“ aus den Provinzen des „Kalifats“.

Man muss zugeben, das ist gut gemacht. Erschreckend gut gemacht sogar. Der Islamische Staat arbeitet daran, Dschihadisten cool und lässig erscheinen zu lassen. Und er verfügt offensichtlich über (aus dem Westen stammende?) Kader, die sich das zum Projekt gemacht haben. Wenn ich mir einen anradikalisierten, jungen, wütenden Islamisten in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland vorstelle, dann kann ich mir durchaus denken, dass er so etwas attraktiver findet als die zwar unglaublich wichtigen, aber leider deutlich weniger glamourösen islamischen Gelehrten auf der gesamten Welt, die sich mittlerweile aus einer Vielzahl theologischer, humanitärer und moralischer Gründe gegen IS und deren Terror-Kalifat gestellt haben. Im Kampf um die Hearts and Minds geht es leider nicht nur um Argumente, es geht auch um Oberfläche. Diesen Faktor darf man nicht ignorieren: Propaganda funktioniert.