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Vier Anschläge, viele Fragen

 

Vier Terroranschläge in vier Ländern haben sich innerhalb kürzester Zeit ereignet, in zwei Fällen steht nahezu außer Frage, dass die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ verantwortlich ist. Es ist viel zu früh für Festlegungen und eine wirklich haltbare Analyse. Aber es ist möglich, ein paar Aussagen zu treffen, die bei der ersten Einschätzung hilfreich sein können.

1. Kobani

Der verheerendste Anschlag fand im syrischen Kobani statt, einer Stadt nahe der türkischen Grenze, die erst vor Kurzem weltweit in den Schlagzeilen war, weil es kurdischen Kämpfern gelang, sie nach langer Schlacht dem IS wieder zu entwinden. Nun haben offenbar einige IS-Kämpfer die Stadt infiltriert und seit gestern mindestens drei Sprengsätze gezündet, und auf diese Weise und mit anderen Methoden mindestens 145 Zivilisten ermordet. Warum gerade Kobani? Weil der IS offenbar demonstrieren will, dass er die Stadt nicht dauerhaft aufgegeben hat.

 

2. Sousse

Hier haben noch unbekannte Attentäter zwei Touristenhotels angegriffen. Aktuell (Stand Freitag, 17 Uhr 50) ist von um die 30 Toten die Rede, darunter sind nach tunesischen Regierungsangaben ausländische Urlauber und Deutsche. Anscheinend wurde ein Angreifer von Sicherheitskräften erschossen. Wie viele es insgesamt waren, ist nicht sicher. Nach bisherigen Informationen drang mindestens ein Mann in die Ferienanlagen ein und schoss mit einem Sturmgewehr um sich. Bilder aus Sousse zeigen Opfer, die offenbar am Strand getötet wurden.

Die Täterschaft des IS ist alles andere als sicher, aber Anhänger und selbst erklärte Mitglieder hat der „Islamische Staat“ in Tunesien. Es gab bereits einen IS-Anschlag in Tunesien, im März. Und die IS-Führung hat Tunesiens gewählte Regierung mehrfach mit Anschlägen im Land gedroht.

Warum eine Touristenanlage? Es gehört seit Jahren zur Strategie von dschihadistischen Terrorgruppen, ausländische Touristen in Ländern des Nahen Ostens zu attackieren – Ägypten, Tunesien, Marokko, der Jemen: Die Liste ist lang. Touristen sind aus Sicht dieser Gruppen ein gutes Ziel: Der Tourismus leidet und damit das Einkommen in diesen Staaten, was zur erwünschten Destabilisierung beiträgt. Aber auch die Bürger der betroffenen westlichen Staaten werden verunsichert.

 

3. Kuwait

In der gleichnamigen Hauptstadt des Kleinstaats Kuwait hat ein Attentäter des IS sich während des Freitagsgebets in einer schiitischen Moschee in die Luft gesprengt. In dem Bekennerschreiben, das mir vorliegt und das nach allen Kriterien, die man heranziehen kann, authentisch zu sein scheint, wird mit weiteren Attacken gedroht; unterzeichnet ist das Schreiben von der „Provinz al-Nadschd“. Al-Nadschd ist die Bezeichnung der Landschaft im Inneren der Arabischen Halbinsel. Solche Begriffe nutzt der IS gerne, weil er so die Namen existierender Staaten nicht in den Mund zu nehmen braucht. Mehrere Dschihadistengruppen, die sich dem IS angeschlossen haben, aber nicht in Syrien oder dem Irak existieren, also außerhalb des „Kalifats“, bezeichnen sich als „Provinzen“.

Warum ein Angriff auf eine Moschee? Der IS betrachtet Schiiten als Verräter und Ungläubige. Schon seine Vorläuferorganisationen haben durch Attacken auf Schiiten versucht, einen Bürgerkrieg im Irak anzuzetteln. Warum Kuwait? Kuwait gilt den Dschihadisten nicht nur als Staat ohne Existenzberechtigung, sondern ist zudem Neuland für den IS: Hier hat er bisher noch nicht zugeschlagen; dass er es nun fertiggebracht hat, dokumentiert aus seiner Sicht seine wachsenden Kapazitäten.

 

4. Frankreich 

In Frankreich hat ein offenbar seit Längerem als radikaler Islamist bekannter Mann mutmaßlich einen Geschäftsmann enthauptet. Ein mutmaßlicher Mittäter wurde in Haft genommen. In der Nähe des Fundortes der Leiche liegt eine Gasfabrik, dort war es zu einer Explosion gekommen. Was genau dort geschah, ist noch unklar.

Neben der Leiche des Mordopfers, so berichten Medien, sei eine Flagge gefunden worden, die womöglich jener gleicht, die der IS verwendet. Bilder habe ich aber noch nicht gesehen.

Ist es denkbar, dass es sich auch bei dieser Attacke um einen IS-Anschlag handelt? Ja. Aber bewiesen ist noch gar nichts, und weitere Möglichkeiten bleiben vorstellbar – inklusive der, dass der Täter verwirrt war oder nur wollte, dass es wie ein IS-Anschlag aussah. Wahrscheinlicher als ein vom IS aus dem Nahen Osten heraus gesteuerter Abschlagsplan ist allerdings, dass der Täter seinen Angriff alleine plante, aber mit der Idee, im Namen des IS zu handeln. Der IS hat solche Anschläge mehrfach gefordert. Und die meisten Anschläge mit IS-Bezug, die in den vergangenen Monaten im Westen geplant oder verübt wurden, fallen in genau diese Kategorie. Aber das ist zu diesem Zeitpunkt reine Spekulation.

 

5. Hängt alles mit allem zusammen? 

Das ist völlig offen. Ich halte es für vorstellbar, dass die Anschläge in Tunesien und Kuwait zeitlich koordiniert waren. Im März hat der IS so etwas schon einmal vorgemacht, als er innerhalb von 48 Stunden im Jemen und in Tunesien zuschlug. Damals waren sogar die Bekennerschreiben fast wortgleich gewesen, was ein starkes Indiz für eine Absprache ist. Aber wie gesagt: Noch fehlt eine Bekennung zu dem Anschlag in Tunesien.

Ein Zusammenhang zu dem Anschlag in Kobani ist ebenfalls offen, aber nach meiner ersten Einschätzung etwas weniger wahrscheinlich. In Kobani hat der IS selbst zugeschlagen, in Kuwait – und möglicherweise in Tunesien – wohl eher selbst ernannte Mitglieder ohne direkte Verbindungen zur IS-Zentrale. Planungen für Anschläge im Ausland unterliegen anderen Planungskategorien als solche in umkämpften Bürgerkriegsgebieten vor der eigenen Haustür.

Was den Anschlag in Frankreich angeht, so wissen wir noch viel zu wenig, um darüber auch nur begründet spekulieren zu können.

 

6. Eine Anmerkung

Erst in der vergangenen Woche hatte sich der Sprecher des IS, Al-Adnani, zu Wort gemeldet und zu Attacken auf „die Ungläubigen“ im derzeit laufenden Fastenmonat Ramadan aufgerufen. Ich warne aber davor, diese Rede als Ursache oder Auslöser der vier hier behandelten Anschläge zu betrachten. Denn Al-Adnani hat zwar einige Staaten benannt, in denen er gerne Anschläge sähe – aber er nannte weder Kuwait, noch Tunesien, noch Frankreich, stattdessen Jordanien, Saudi-Arabien und den Libanon.

 

7. Fazit

Dieser Blogpost ist nichts als ein allererster Versuch der Einordnung beziehungsweise der Einschätzung des bisher Bekannten. Es ist gut möglich, dass sich diese Einschätzung noch deutlich verschiebt. In dem Fall werde ich das hier nachtragen und begründen.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes habe ich den Namen des IS-Sprechers Al-Adnani irrtümlich mit dem des Jabhat-al-Nusra-Chefs Al-Jawlani verwechselt. Ich bitte, den Fehler zu entschuldigen!