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Warum der IS die Weltordnung nicht gefährdet

 

 

Heute gibt es in „Radikale Ansichten“ eine Premiere, nämlich einen Gastbeitrag. Im September habe ich in Herzliya, Israel, auf einer Terrorismuskonferenz über die Finanzen des „Islamischen Staates“ gesprochen; anschließend lernte ich bei der Veranstaltung die Juristin Daphné Richemond-Barak kennen. Aus unserem Austausch über die Frage, ob das „Kalifat“ des IS ein Staat ist, ein Protostaat oder eine Entität, die sich verhält wie ein Staat, ergab sich Daphnés Angebot, diesen Beitrag hier im Blog zu veröffentlichen, in dem sie diese Frage und ihre Implikationen aus dem Blickwinkel des Internationalen Rechts betrachtet. 

 

Warum der IS die Weltordnung nicht gefährdet

Von Daphné Richemond-Barak und Daniel J. Schuster*

Der “Islamische Staat” steht der westlichen Ideologie überaus feindselig gegenüber. Diese Feindseligkeit wird oft als Herausforderung oder Schwächung der Fundamente der bestehenden Weltordnung – Grenzen, Souveränität und Staatlichkeit – interpretiert. Doch auch wenn der IS üblicherweise als Bedrohung des Systems aus Nationalstaaten betrachtet wird, welches sich aus dem Westfälischen Frieden heraus entwickelt hat, kommen wir zu einem anderem Schluss: Nämlich dass der IS dieses System sogar stärkt, indem er ähnliche Methoden wie herkömmliche Staaten zur Anwendung bringt, um Autorität und Legitimität zu erzielen. Und indem er die Schlüsseleigenschaften von Staatlichkeit anstrebt, wenn auch mit fließenden und auf Expansion angelegten Grenzen, verstärkt der IS jenes System, das er zu zerstören versucht.

Seit der IS im Sommer 2014 ein weltweites islamisches Kalifat proklamiert hat, wurde er von vielen Kommentatoren in nahezu apokalyptischer Tonlage beschrieben – mal als Herausforderung der “Grundlage”1, der “Organisationsprinzipien”2 oder der “Legitimität der bestehenden Ordnung”3 bis hin einem Versuch, “das (Westfälische) Modell vollständig zu überwinden”.4

Tatsächlich scheint es, als ob der IS und die auf dem Westfälischen Frieden beruhende Rechtsordnung nicht unterschiedlicher sein könnten. Für den IS hat Religion die größte Bedeutung, wenn es darum geht, das Weltsystem zu definieren, zu konzeptionalisieren und zu interpretieren, oder wenn es darum geht, Macht und Autorität zu legitimieren. Das areligiöse internationale Recht hingegen weist gerade der Religion genau deswegen eine unbedeutende Rolle zu. Der IS strebt danach, alle anderen Staaten und staatsähnlichen Gebilde zu erobern, während das internationale Recht danach trachtet, zur friedlichen Koexistenz und Machtbalance zwischen solchen Staaten und Gebilden beizutragen.

Der IS steht für ein hierarchisches Weltsystem, an dessen Spitze der Kalif Gesetze definiert und dabei für einen Ansatz des Von-Oben-Nach-Unten steht, während internationales Recht die Gleichberechtigung von Staaten vertritt, zwischen welchen (und nicht über welchen) Gesetze existieren. Der IS betrachtet das Kalifat als Werkzeug der Weltherrschaft, wohingegen internationales Recht den Nationalstaat als Mittel der Koexistenz von Gleichberechtigten ansieht. Die Kluft zwischen diesen Vorstellungen ist so tief, dass es manchmal heißt, der IS wolle die Grenzen des Sykes-Picot-Abkommens genau so abschaffen wie das System souveräner Staaten insgesamt.5

Diese “apokalyptische” Analyse ist zwar akkurat, was die Interpretation der Ziele und Erklärungen des IS angeht; allerdings gibt sie die Folgen, die das Auftreten des IS für unsere Konzeption der Weltordnung hat, nicht angemessen wider. Das liegt daran, dass sie die wachsende Ähnlichkeit zwischen dem IS und dem Modell eines westlichen Staates à la Weber übersieht, der durch eine Kombination aus Herrschaft des Rechts, Kapitalismus und Bürokratie charakterisiert wird. Anders gesagt: Die verbreitete Analyse, derzufolge der IS eine Herausforderung für Staatlichkeit und Souveränität bedeute, gewichtet die weitreichenden Intentionen des IS viel stärker als die Methoden, die der IS anwendet, um seine Macht zu sichern.

In den Gebieten, die er kontrolliert, versucht der IS aktiv staatliche Strukturen aufzubauen und zu erhalten, die jenen moderner Staaten ähneln. Wenn sie Gebiete neue erobern, zerstören IS-Kämpfer Berichten zufolge zum Beispiel keine staatlichen, zivilen oder der Verwaltung dienenden Institutionen. Stattdessen werden diese Einrichtungen genutzt, um die Infrastruktur eines modernen, bürokratischen Staates aufzubauen. Was der IS hingegen zerschlägt, sind Widerstand sowie religiöse Symbole, die er als unislamisch ansieht – aber keine Objekte von ziviler oder militärischer Funktion.

Die Anatomie des IS entwickelte hierarchische Strukturen im Inneren, mit deren Hilfe die Gruppe versucht, Gebiete zu verwalten. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet im Irak und in Syrien nicht nur einer Reihe von Gouverneuren übertragen, er hat darüber hinaus eine Reihe von Komittees eingerichtet, die für zivile oder verwaltungstechnische Aufgaben zuständig sind. Diese hierarchischen Strukturen eines bürokratischen Staates ähneln stark unseren Ministerien. Vielleicht noch wichtiger ist, dass der IS einen Anschein von Ordnung in bestimmten Teilen Syriens und des Irak geschaffen hat. Ganz so, wie Hassan Hassan es in der New York Times beschrieb: “Sie fühlen sich, als gebe es einen funktionierenden Staat”.6

Der IS hat seine eigene Währung eingeführt und nutzt ein existierendes Netz von Banken, um beispielsweise Gewinne aus dem Ölgeschäft zu verbuchen oder seinen Kämpfern Monatsgehälter auszuzahlen. Die Financial Times berichtet, dass der IS Steuervergünstigungen für “Start Up”-Unternehmen fördert und bereitstellt. Es gibt sogar eine Verbraucherschuztzbehörde. Während der IS das bestehende ökonomische System abschaffen will, schafft er also zugleich sein eigenes.

Das Gewicht, dass der IS auf Normen legt sowie auf Institutionen, die die Einhaltung dieser Normen garantieren sollen, deutet daraufhin, dass der IS ein System angenommen hat, von dem er gleichzeitig behauptet, dass er es abschafft. Auch das Konzept von Recht ist für IS-Strukturen und IS-Operationen fundamental. In der ersten Ausgabe seines Magazins “Dabiq” attackierte der IS Tyrannen, “die durch menschengemachtes Recht herrschen”, und rief alle Muslime dazu auf, “die Symbole unserer Religion zu schützen und die Scharia umzusetzen.” Einmal abgesehen von den grausamen Aspekten einiger dieser Gesetze (die jüngsten Versuche, Strafen für Vergewaltigungen zu kodifizieren sind besonders krass): Die Umsetzung der Scharia führt zu einem gewissen Grad an Vorhersagbarkeit, Kalkulierbarkeit und Rationalisierung, alles Dinge, die jedem normativen System innewohnen.

Der IS-Führer Al-Baghdadi rief sehr früh Richter und islamische Rechtsgelehrte dazu auf, sich dem Kalifat anzuschließen. Der IS richtet Gerichte ein und bestellt dort Juristen und Scharia-Richter. Der IS hat eine Art Strafgesetzbuch veröffentlich, in dem er etwa Verbrechen auflistet, die mit Amputationen, Steinigung oder Kreuzigung bestraft werden. Außer im Bericht des Rechts und der Rechtsprechung sucht der IS zudem nach Expertise im Ingenieurswesen und in Medizin, was darauf hindeutet, dass der IS eine institutionalisierte, hierarchische, bürokratische und spezialisierte Organisation kreieren will. Der Scharia-Rat ist für das Aufrechterhalten der öffentlichen Ordnung zuständig, die mächtigste Institution des IS, welche Disziplin garantiert und Polizei und Gerichte des IS kontrolliert.

In der Tat ist das Recht ein effektives Werkzeug, um politische Macht zu legitimieren und zu erhalten – und der IS weiß das. Die Gruppe legitimiert ihren Einsatz von Gewalt, indem sie sich an eine hergebrachte Sammlung von Regeln und Prozeduren hält, im Gegensatz etwa zu einem vollkommen willkürlichen Einsatz von Gewalt. Solche Beschränkungen zusammen mit einem Gerichtswesen, das über ihre Einhaltung wacht, helfen dabei, Disziplin und Zusammenhalt in den eigenen Reihen aufrecht zu erhalten. Es gibt wenig Grund daran zu zweifeln, dass die Betonung des Rechts eine bedeutende Rolle dabei gespielt, dem IS politische Legitimität, neue Anhänger und, letzten Endes, größere Kontrolle über Menschen und Gebiete zu verschaffen.

Das bedeutet nicht, dass wir die Werte, auf denen das autoritative Herrschaftssystem des IS basiert, unterstützen, oder dass die entwickelte Bürokratie des IS tatsächlich funktioniert. Ebenso wenig vertreten wir die Ansicht, dass der IS ein Staat im Sinne des internationalen Rechts ist oder werden wird. Aber wir würden gerne der Vorstellung etwas entgegensetzen, dass der IS die Stützfeiler der internationalen Ordnung bedroht.

Auf welche Weise das internationale Recht Herausforderungen noch stets rationalisiert hat, bestätigt unsere Schlussfolgerung. Das internationales Recht hat schon vor langer Zeit die Vorstellung verworfen, dass die Verletzung einer Norm diese Norm zwangsläufig schwächt. Das Verbot, Gewalt anzuwenden, ist wahrscheinlich die am häufigsten verletzte internationale Norm. Schwächen diese wiederholten Verletzungen diese Norm? Nach Ansicht des Internationalen Gerichtshofes ist das nicht der Fall: “Wenn ein Staat auf eine Weise agiert, die prima facie nicht mit anerkannten Regeln vereinbar ist, dann besteht die Bedeutung dieser Haltung darin, dass sie diese Regel eher bestätigt, als sie zu schwächen, ganz gleich, ob das Verhalten dieses Staates zu rechtfertigen ist.”7

Verletzungen schwächen Normen also so lange nicht, wie sie innerhalb des Konstrukts des internationalen Rechts aufgefasst werden – und zwar unabhängig von der Gültigkeit des fraglichen Anspruchs im Sinne des internationalen Rechts oder der Akzeptanz des internationalen Rechtssystems durch diesen Staat im generelleren Sinne.

Der IS muss deshalb, anders gesagt, die Existenz eines normativen Systems nicht anerkennen, um es unwillentlich zu stärken. Wenn “Fälle, in denen staatliches Verhalten mit einer bestimmten Regeln unvereinbar” in der Regel als “Bruch dieser Regel betrachtet” werden, dann hat entsprechendes abweichendes Verhalten tatsächlich den Effekt, eine Regel zu verstärken.8

Die Tatsache, dass der IS sich Konzepte und Methoden von Staatlichkeit aneignet – ganz gleich, in wie fehlerhafter oder verlogener Weise – bekräftigt daher diese Konzepte im Sinne des internationalen Rechts. Die intuitive Analyse, derzufolge der IS eine Bedrohung der Souveränität und Weltordnung darstellt widerspricht der Art und Weise, auf die das internationale Recht selbst abweichendes Verhalten betrachtet. In dem Maße, in dem der IS als ein Weberscher bürokratischer Staat erscheint, wird er nicht nur “noch viel mehr wie ein realer Staat aussehen”9 , sondern die Wurzeln und die Kraft der Konzepte vom Nationalstaat, von Grenzen und von Souveränität als funamentale Prinzipien des internationalen Rechts stärken10.

 

 

*Dr. Daphné Richemond-Barak ist Assistant Professor an der Lauder School of Government, Policy and Strategy am IDC Herzliya in Israel, und leitet den International Humanitarian Law Desk am International Institute for Counter-Terrorism (ICT).

Daniel James Schuster hat seinen Bachelor in Philosophie an der Karl-Franzens-Universität in Graz gemacht und schließt derzeit seinen Master-Studiengang am IDC in Herzliya, Israel, ab.

 

(Übersetzung aus dem Englischen von Yassin Musharbash)

 

1 Mohammed Nuruzzaman, The Challenge of the Islamic State, 1 Global Affairs 1(2015), at 1.

2 Id.

3 Andrew Phillips, The Islamic State’s Challenge to International Order, 68 Australian Journal of International Affairs 495 (2014), at 496.

4 Moritz Mihatsch, Welcome to the Post-Westphalia Dystopia, Mada Masr (21 August 2014).

5 Matsumoto Futoshi, The World Order and a New “Behemoth”, 22 Asia- Pacific Review 177 (2015), at 181.

6 Tim Arango, Isis Transforming into Functioning State that Uses Terror as Tool, New York Times (21 July 2015).

7 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment. I.C.J. Reports 1986, p. 14, para. 186.

8 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment. I.C.J. Reports 1986, p. 14, para. 186.

9Aymenn al-Tamimi, The Evolution in Islamic State Administration: The Documentary Evidence, 9 Perspectives on Terrorism 117 (2015), at 124.

10 Rein Müllerson, The Interplay of Objective and Subjective Elements in Customary Law, in International Law: Theory and Practice: Essays in Honor of Eric Suy 162, 173(Karen Wellens, ed.) (Martinus Nijohff, 1998).