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Mehr als 50 Deutsche kämpfen in Syrien

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat seine Schätzungen über die Zahl deutscher Teilnehmer am syrischen Bürgerkrieg aktualisiert: „Es liegen derzeit Erkenntnisse zu mehr als fünfzig deutschen Islamisten bzw. Islamisten aus Deutschland vor, die in Richtung Syrien ausgereist sind, um dort beispielsweise an Kampfhandlungen teilzunehmen oder den Widerstand gegen das Assad-Regime in sonstiger Weise zu unterstützen“, heißt es in einem aktuellen Statement des Amtes, das ZEIT ONLINE vorliegt. „Aufgrund der dynamischen Lageentwicklung vor Ort unterliegt diese Zahl tagesaktuellen Veränderungen mit derzeit eher steigender Tendenz.“ Das Bundeskriminalamt (BKA) und das BfV tauschten sich hinsichtlich der Erkenntnisse zu solchen Ausreisen laufend aus, heißt es darin weiter.

Diese Schätzungen sind nicht vollkommen überraschend, wohl aber präziser und höher als bisherige Angaben. Ende April hatte BKA-Chef Jörg Ziercke laut Bild.de von 40 bis 60 islamistischen Kämpfern aus dem europäischen Raum gesprochen, unter denen auch etliche Deutsche seien.

Ebenfalls Ende April hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Spiegel Online gesagt: „Wir wissen, dass auch Dschihadisten aus Deutschland, die wir hierzulande bereits im Visier hatten, sich in Syrien aufhalten und dort an der Seite der Rebellen kämpfen.“

Bereits Anfang April hatte ZEIT ONLINE über europäische Kämpfer in Syrien berichtet: Laut einer Studie des International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) in London sind in den vergangenen 15 Monaten zwischen 140 und 600 Kämpfer aus europäischen Staaten in das Land gereist. Die meisten von ihnen stammen aus den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich und Belgien.

Der oberste Terrorismusexperte der Europäischen Union, Gilles de Kerchove, ging im vergangenen Monat davon aus, dass sich bis zu 500 radikale Islamisten aus Europa den Kämpfern gegen Assad angeschlossen hätten.

Was die deutschen beziehungsweise aus Deutschland stammenden Kämpfer angeht, zu denen sich das BfV nun äußerte, muss ergänzt werden, dass keinesfalls immer klar ist, welchen Fraktionen der bewaffneten Rebellen sie sich jeweils angeschlossen haben. Diese umfassen ein breites Spektrum, das von der Freien Syrischen Armee bis zur Al-Kaida-nahen „Jabhat al-Nusra“ reicht. Ebenso ist nicht immer erkenntlich, ob diese Kämpfer dauerhaft in Syrien sind oder jeweils für wenige Wochen oder Monate einreisen und dann wieder in ihr gewohntes Leben in Deutschland zurückkehren.

 

Mich interessieren die Attentäter!

Ich mag es, wenn ich gezwungen werde, meine Gedanken zu schärfen – und mit seinem aktuellen Text auf seinem Blog tut mein Kollege Jörg Lau genau das. Es geht um den Anschlag von Boston und die mutmaßlichen Attentäter, die Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew. Aber eigentlich geht es um alle Anschläge und alle Attentäter, denn Jörg Lau schreibt: „Ich (habe) es… satt, mich mit solchen Typen weiter zu beschäftigen.“ Und: „Mir reicht’s. Ich weiß genug – mehr als ich je wissen wollte – über die Attas, die Merahs, die Al-Awlakis, und jetzt eben über die Zarnajews. Ich muss sagen, es kommt nichts menschlich Interessantes dabei heraus.“

Hat Jörg Lau Recht? Beschäftigen wir uns zu intensiv und ohne echte Erkenntnisse mit diesen Lebensläufen? Suchen wir nach Erklärungen, wo es nur Anekdoten gibt – dazu noch stets dieselben oder jedenfalls vergleichbare? „Immer wieder beugen wir uns über ihre Familiengeschichten, ihre Identitätsprobleme, ihre Zerrissenheit, ihre verbrecherischen Mentoren und ihren kaputten Glauben, um zu verstehen, ach zu verstehen, warum, warum nur, sie tun was sie tun“, klagt der Kollege.

In Wahrheit geht es hier natürlich nicht ums Rechthaben. Jede und Jeder darf das alles satt haben. Niemanden muss es interessieren, dass Dschochar als Bademeister gejobbt und Tamerlan einmal seine Freundin geschlagen hat.

Aber mich interessiert es. Ich will alles wissen, was ich über die beiden in Erfahrung bringen kann. Und zwar nicht aus Voyeurismus – ich hege keinerlei Faszination für Attentäter an und für sich; sondern weil ich, anders als offenbar Jörg Lau, manchmal Entwicklungen erkenne, wenn ich diese Lebensläufe studiere.

Selbstverständlich haben islamistisch motivierte Attentäter viel gemeinsam. Geschenkt. Aber genau deshalb sind die Unterschiede ja umso bedeutsamer.

Ein Beispiel: Der deutsche Konvertit und spätere Terrorist Eric Breininger, der im April 2010 von pakistanischen Soldaten erschossen wurde, hinterließ eine Art Autobiografie. Der größte Teil war reine Propaganda. Aber da gab es auch diese Passage: „Ich war erst vier Monate im Islam. Dennoch kannte ich meine Pflicht, ich wollte in den Dschihad…“ Der Fall Breininger machte mit voller Wucht auf ein damals neues Phänomen aufmerksam, dem wir seither immer häufiger begegnet sind: Die mitunter rasend schnelle Radikalisierung späterer Terroristen.

Wie wenn nicht durch die Beschäftigung mit Breininger hätte ich das erkennen können? Dass neben das Altbekannte etwas Neues getreten ist? Breininger war eben gerade nicht wie Mohammed Atta – der sich über Jahre radikalisierte, allmählich und zielstrebig zum Terroristen aufgebaut wurde. (Breininger, das nur am Rande, ist übrigens eines von etlichen Beispielen dafür, dass die Terroristen, über die wir hier reden, keineswegs allesamt „mörderischen Loser von den Rändern der islamischen Welt“ sind, wie Jörg Lau schreibt. Loser? Ja. Aber Breininger kam aus dem Saarland.)

Es gibt andere Beispiele, die jeweils zu ihrer Zeit gezeigt haben: Achtung – der mäandernde Fluss des globalen Dschihadismus entwickelt gerade einen neuen Nebenlauf. Der erste aus Guantanamo entlassene Gefangene, der nach dem Durchlaufen des saudischen Rehabilitationsprogramms im Irak einen Selbstmordanschlag ausübte. Der erste aus Deutschland stammende Dschihadist, der sich einer Terrorgruppe in Waziristan anschloss und dort aufstieg. Der erste Attentäter im Westen, der durch das Al-Kaida-Magazin Inspire inspiriert wurde.

Die Terrorkarriere der Gebrüder Zarnajew könnte in ähnlicher Weise etwas Neues andeuten. Denn der Anschlag von Boston wirft die Frage auf, ob es so etwas wie einen dschihadistischen Amoklauf gibt. Das familiäre Drama hat nach allem, was man bisher vermuten kann, in einem ungewöhnlich hohen Maße zur Motivation beigetragen. Was, wenn hier eine Mischform entsteht?

„Na und?“, könnte man nun entgegnen. „Interessiert mich nicht. Andere Leute haben auch Probleme. Attentäter werden immer irgendwelche Pseudo-Rechtfertigungen finden.“ Das stimmt. Und auch hier antworte ich: Niemanden muss das interessieren.

Nur: Wer mitreden möchte, wenn aus Terror Politik gemacht wird, wenn Innenminister sich äußern und der Verfassungsschutz Konzepte vorstellt, wenn „Islamkritiker“ oder dubiose Imame sich aufpumpen, Bezirksbürgermeister Vorschläge machen und die Polizeigewerkschaft mehr Polizisten fordert, der sollte wissen dass Atta nicht Breininger ist und Breiniger nicht Dschochar Zarnajew. Methoden, die zum rechtzeitigen Aufspüren Mohammed Attas hätten führen können, hätten bei Dschochar Zarnajew vermutlich nicht geholfen. Dafür wäre Dschochar Zarnajew möglicherweise für ein kluges Präventionsprogramm ansprechbar gewesen, Mohammed Atta sicher nicht. Es sind also mitunter relevante Schlussfolgerungen, die man aus scheinbar sehr ähnlichen Attentäter-Profilen destillieren kann.

Ich verstehe trotzdem den Unmut des Kollegen Lau. Ich teile ihn oft sogar – es ist ermüdend, in diese Biografien einzutauchen, traurig, anstrengend, frustrierend. Trotzdem glaube ich, dass es notwendig ist. Nicht um Attentäter verstehen zu lernen. Das halte ich ohnehin für fast unmöglich. Sondern um zu erkennen, wenn neue Typen von Attentätern auftauchen.

„Der Terrorismus der radikalen Verlierer wird weitergehen“, schreibt Jörg Lau. Ich fürchte, dass er Recht hat. „Ich habe das dumpfe Gefühl, die nächsten radikalen Verlierer schon zu kennen, die Tamerlan und Dschochar nacheifern werden“, schließt er seinen Text. Da bin ich mir nicht so sicher.

 

Im Twitterversum

Helden und Hetzer, Experten und Verschwörungstheoretiker, Opfer – am Ende gar vermeintliche Täter: Der Anschlag von Boston und die Suche nach den beiden mutmaßlichen Terroristen hat auf Twitter das Beste und das Schlimmste zugleich hervorgebracht. Ein Erfahrungsbericht aus vier Tagen „Twitter-Gewitter“.

Ich bin müde, denn ich habe seit Montag nur wenig geschlafen. Ich war dafür sehr ausgiebig auf  Twitter unterwegs. „Du twitterst so intensiv und spätnachts, da dachte ich, Du bist auf der Boylston Street (in Boston) unterwegs“, schreibt mir gerade ein ZEIT-Kollege aus den USA. Ich war die ganze Zeit in Berlin, nicht in Boston – und ich hoffe, dass ich nicht ernsthaft das Gefühl erweckt habe, ich sei vor Ort; das wäre anmaßend und schräg.

Aber Twitter ist auf seine ganz eigene Art durchaus ein Dabeisein-Medium. Wobei das „Dabei“ weniger einen tatsächlichen Ort beschreibt als vielmehr eine öffentliche Diskussion über einen realen Ort und ein echtes Geschehnis. Ich suche aus, wessen Mitteilungen über dieses Ereignis ich wahrnehmen will.  Ich setze mich absichtsvoll einem ungefilterten Strom an wahren und falschen und halbwahren Informationen aus. Wenn man sich dieser Einschränkungen bewusst ist, kann Twitter ein grandioses Medium sein.

Freilich auch ein irritierendes. Ein skurriler Höhepunkt in den vier Tagen „Twitter-Gewitter“, in das ich mich wegen der Bostoner Anschläge begeben habe, fand am Freitagnachmittag statt, als plötzlich Nachrichten aus dem abgehörten Funkverkehr der Bostoner Polizei über Twitter liefen. Wenig später bat die Polizei, natürlich auf  Twitter, das zu unterlassen. Denn es bestand die Sorge, dass der Flüchtige via Twitter Wissen über Polizeipläne erhalten könnte.

Mehr Echtzeit geht nicht. In Twitter steckt echtes Potenzial, im Schlechten wie auch im Guten. Bostoner Bürger haben Betroffenen nach den Explosionen am Montag nicht zuletzt über Twitter Hilfe und Unterkunft angeboten.

Twitter ist kein Journalismus-Ersatz. Die meisten Twitterer plappern einfach vor sich hin, so wie es Menschen in der analogen Welt auch tun: „Hast du schon gehört?“ – Was dann folgt, ist oft genug ein Gerücht, unvollständig, halbfalsch. Aber es kann in Sekundenfrist tausendfach verbreitet werden und mit jeder Verbreitung echter wirken. Auch das geschah im Fall Boston, in übelster Weise. So galten in Teilen des Twitterversums über Stunden hinweg erst ein Saudi-Araber und dann ein indischer Student als Täter. Sie waren nicht einmal verdächtig. Kaum jemand entschuldigte sich für diese Falschmeldungen, und manche störten sich auch nicht daran, dass sie gefährlichen Blödsinn um die Welt geschickt hatten. Im Gegenteil. Sie wollten nur, dass andere es glaubten. Twitter ist wie jedes Medium auch ein Werkzeug von Hetzern, Rassisten, Terroristen.

Andererseits ist Twitter großartig, um auf dem Stand zu bleiben, wenn es um echten Journalismus geht. Es ist unmöglich, durch Googeln so schnell an so viele Links zu aktuellen Artikeln aus aller Welt zu kommen. Wer jedoch die Leute, denen er auf Twitter folgt, geschickt aussucht, hat seinen eigenen digitalen Schnipseldienst schnell zusammen. Lesen und bewerten muss jeder selber – aber es hilft zum Beispiel, wenn ein Experte, den man kennt und dem man traut, einen Link zu einem Text herumschickt und erkennen lässt, dass er ihn schon gelesen hat und für wichtig hält.

Wer stattdessen nur CNN geschaut hat (was ich stundenweise parallel getan habe) war oft schlechter und langsamer informiert. Und warum soll ich warten, bis ein Journalist anderswo eine Meldung aufbereitet und produziert und online gestellt hat, wenn ich der Bostoner Polizei, dem Polizeipräsidenten, dem zuständigen Staatsanwalt und dem FBI auf Twitter folgen kann, wo ich ihre Kommuniqués als Erster bekomme?

Und dann gibt es noch die hyperreale Seite an Twitter, die manchmal fast wieder irreal wirkt: Wenn ich auf Twitter lesen kann, wie Bostoner Einwohner beschreiben, was sie in dieser Sekunde sehen, wenn sie aus dem Fenster schauen. Wenn sie sogar noch die Fotos dazu schicken, aus einer Zone, zu der Journalisten keinen Zugang haben, weil sie abgeriegelt ist. Oder wenn, ein weiterer Höhepunkt und besonders gespenstisch, plötzlich der Twitter-Account des Flüchtigen entdeckt wird und seine eigenen Worte von vor einigen Tagen oder Wochen nachzulesen sind. Die dann wieder von Menschen kommentiert werden – unter ihnen solche, die ihn kannten. (Oder es behaupten – wie gesagt: Das Prüfen muss man schon selbst übernehmen!)

Twitter ist sehr unmittelbar und schnell. Doch das bedeutet nicht, dass man nicht auch an kluge Gedanken geraten kann. (Für Journalisten können natürlich auch die nicht klugen Gedanken interessant sein, weil sie trotzdem etwas aussagen.) Ich beschäftige mich seit Jahren mit Terrorismus und folge darum vielen Terrorexperten, die ich zu einem guten Teil auch aus der realen Welt kenne, von Konferenzen, aus Interviews und so weiter. Ich weiß, dass sie sich auch für den Anschlag interessieren und ich lege Wert auf das, was sie zu sagen haben (die Klügsten unter ihnen unterlassen freilich das freihändige Spekulieren, sie weisen stattdessen auf hilfreiche Ressourcen hin, die den Kontext erweitern). Auf Twitter habe ich eine Dauer-Konversation mit ihnen, ohne dass ich sie anrufen muss, einen nach dem anderen. Einer dieser Experten twitterte am dritten Tag die auf den ersten Blick erstaunliche Theorie, dass Twitter sogar helfen könne, den Nachrichtenzyklus zu entschleunigen.

Das wirkt verrückt. Andererseits: Einzelne TV-Sender berichteten zwischenzeitlich deutlich weniger besonnen als Twitterer. Eine interessante Frage: Fühlten sie sich von Twitter getrieben? Oder hätte Twitter ihnen helfen können, besser zu berichten? (Aber das ist eine andere Diskussion.)

Twitter hilft jedenfalls eher beim Informieren als beim Nachdenken. Es ist nicht logisch, nicht geordnet, nicht strukturiert. Twitter allein ist auch sicher keine gute Grundlage für die Beschreibung oder Deutung der realen Welt, und so nutze ich es auch nicht. Aber es ist nah, direkt, laut. Und interaktiv: Mini-Debatten inmitten eines großen, globalen Palavers. Ernsthaftes und Wichtiges und Nachdenkliches versteckt in einem unablässigen, oft auch redundanten Strom – das ich aber anders vielleicht gar nicht entdeckt hätte.

Twitter ist anstrengend. Ich mache jetzt eine Pause.