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Fünf Vorschläge für eine vernünftige Islamdebatte

Alle paar Monate bricht in Deutschland eine „Islamdebatte“ los. Stets verläuft sie unerquicklich. Wie könnte es besser gehen?

Von Yassin Musharbash 

Manchmal habe ich einen Traum. Ich träume davon, dass es gelingt, eine „Islamdebatte“ zu führen, in der nicht jeder gleich für einen Terroristenversteher gehalten wird, der nicht an die unaufhaltsame Islamisierung Deutschlands glaubt. In der aber auch nicht jeder, der sich wegen steigender Zuwandererzahlen aus muslimischen Ländern sorgt, sofort ausgelacht wird.

In der selbst ernannte Experten ausnahmsweise mal darauf verzichten, jede von einem 17-jährigen Marokkaner begangene Straftat mit einem Koran-Zitat zu kommentieren. Und in der bestimmte Politiker sich an der Lösung realer Probleme versuchen, anstatt diffuse Stimmungen zu bedienen. In der Fakten eine größere Rolle spielen als gefühlte Wahrheiten. Und in der nicht ständig Integration, Islam und Terror durcheinandergeworfen werden, bis man das eine Thema nicht mehr vom anderen unterscheiden kann – oder erinnern Sie sich an auch nur eine TV-Talkshow zu einem dieser drei Themen, in der es nicht sofort auch um die beiden anderen ging?

Jaja, sicher: Alles hat immer mit allem zu tun, und nichts kommt von gar nichts.

Aber teilen Sie nicht auch manchmal meinen Eindruck, dass wir seit 20 Jahren dieselbe Debatte führen? Und dabei kaum vorankommen?

Halten Sie mich meinetwegen für naiv, aber ich will den Glauben nicht aufgeben, dass es auch besser gehen könnte. Konstruktiver und ohne Hysterie. Ich habe eine gewisse Erfahrung mit der Islamdebatte. Hier sind ein paar Vorschläge, wie sie vielleicht fruchtbarer werden könnte.

 

1. Sagen Sie, was Sie meinen 

„Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ – mit diesem Satz hat der neue Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vergangene Woche der Debatte einen Neustart verschafft. Seitdem wird wieder gestritten.

Aber worüber eigentlich?

Horst Seehofer und die CSU-Führung erläuterten die umstrittene Aussage mit zwei Ergänzungen: Natürlich gehörten die hier lebenden Muslime zu Deutschland. Und es stehe außer Frage, dass Deutschland nicht durch den Islam, sondern durch das Christentum geprägt sei.

Interessant – denn kein vernünftiger Mensch würde diese beiden Sätze für falsch erklären. Doch Seehofer & Co haben nicht einfach nur diese beiden Sätze gesagt. Sie haben mit der Formulierung „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ eine Botschaft ausgesandt, die hier lebende Muslime fast zwangsweise als ausgrenzend empfinden müssen. Man kann den Satz deshalb als Beleg dafür betrachten, dass ihr Ziel gerade keine vernünftige Islamdebatte war.

Dabei wäre es so simpel: Sagen Sie einfach, was Sie meinen!

Also zum Beispiel:

„Deutschland ist ein christlich geprägtes und kein muslimisch geprägtes Land. Aber hier leben 4,5 Millionen Muslime, die auch zu Deutschland gehören.“

Das ist inhaltlich voll identisch mit allem, was die CSU nach eigenem Bekunden mit dem Satz sagen wollte. Nur ist es viel weniger spektakulär.

Sollte die CSU hingegen in Wahrheit etwas anderes gemeint haben, hat sie es bisher jedenfalls nicht gesagt. Dann wäre es dankenswert, wenn sie es nachtrüge. Die Regel „Sagen Sie, was Sie meinen“ gilt nämlich auch für extremere Positionen. Alles ist besser als rumzuschwurbeln oder zu raunen.

„Der Islam ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar“, ist zum Beispiel eine legitime Meinung, auch wenn ich persönlich sie für falsch halte. Sobald sie ausgesprochen ist, kann man Fakten herbeiziehen und über sie diskutieren.

Die Behauptung „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ eignet sich dafür nicht. Man merkt das daran, dass viele Diskussionsteilnehmer, auch Journalisten, die den Satz verteidigen, meistens zuerst sagen: Was wir eigentlich meinen, ist, dass eine bestimmte Art von Islam nicht zu Deutschland gehört. Und dann wird aufgezählt: Islamismus, Antisemitismus, Terror, Burka, etc.

Es wäre so viel sinnvoller, einfach die Probleme aufzuzählen und Lösungsvorschläge zu machen oder zu fordern. Alles reale Probleme, die eine ernsthafte Debatte verdienten! Und keine Scheindebatte, die man in einem unpassenden und viel zu großen Rahmen aufzuspannen versucht.

 

2. Können wir uns die Tabu-Rhetorik sparen, bitte? 

Es wäre unsinnig, die Probleme zu leugnen, die mit dem Islamverständnis einiger hier lebender Muslime zu tun haben, siehe oben. Aber es ist ebenso unsinnig, dabei jedes Mal so zu tun, als bestünden unüberwindbare Tabus, die irgendjemanden daran hinderten, diese Probleme anzusprechen.

Insbesondere selbst ernannte Islamkritiker beharren beständig darauf, dass man sie diskreditiere, nicht zu Wort kommen lasse, totschweige und ignoriere … Woher ich das weiß? Weil ich ihre Beschwerden und Anklagen in der Zeitung nachlesen, im Fernsehen anschauen, im Radio hören, im Bundestag zu Kenntnis nehmen und als Buch kaufen kann.

Mir fällt keine denkbare islamkritische Position ein, die nicht schon seit Jahren dauerhaft auf dem Markt der Meinungen vertreten wäre, rassistische Positionen eingeschlossen.

Wirklich: Es gibt keine Tabus! Glauben Sie niemandem, der sagt: „Aber das darf man ja nicht sagen!“ – was derjenige meistens meint, das ist: dass er gerne mehr Zustimmung ernten würde. Dass er gerne sähe, wie Politik, veröffentlichte Meinung, die Gesellschaft sich in seine Richtung bewegen. Darauf hat er aber keinen Anspruch. (Es passiert trotzdem gerade, weswegen ich noch weniger verstehe, warum die Islamkritiker darauf beharren, Tabubrecher zu sein; aber vielleicht übersehe ich da auch ein Kalkül.)

Als ich vor 20 Jahren mein Studium aufnahm, da ging es in den Politikseminaren, die mich besonderes interessierten, schon um genau die Probleme, die angeblich bis heute nicht angesprochen werden dürfen: Dass viele Muslime ihre religiösen Werte über die hier geltenden Regeln stellen; dass muslimische Privatrichter den Rechtsstaat unterlaufen; dass wir Zuwanderung nicht bewusst steuern; dass mitten in Deutschland Frauen und Mädchen aufgrund muslimischer Wertvorstellungen diskriminiert werden; dass in Moscheen auf deutschem Boden antideutsche und antisemitische Hasspredigten gehalten werden; dass „der Islam“ ein Aufklärungsdefizit habe; dass ausländische Staaten radikale Moscheegemeinden finanzieren; dass wir einen „Euro-Islam“ brauchen, etc.

Das Problem ist also in Wahrheit, dass die Probleme nicht gelöst worden sind.

Das wäre ein sinnvoller Ausgangspunkt für eine vernünftige Islamdebatte: Reden wir über konkrete Maßnahmen für konkrete Probleme.

 

3. Der Koran ist keine Bedienungsanleitung

Gar nicht so selten ereignet sich auf Podiumsdiskussionen oder ähnlichen Veranstaltungen ein Schauspiel, das ich „Suren-Vier-Gewinnt“ nenne: Jemand meldet sich zu Wort und zitiert eine Passage aus dem Koran, die beweisen soll, dass jemand, der an dieses Buch glaubt, unmöglich ein rechtstreuer Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen sein kann. Es sind immer dieselben Stellen, die vorgelesen werden: Tötet die Nicht-Muslime, Frauen dürfen geschlagen werden, Ungläubige sollen belogen werden, usw.

Dann entgegnet jemand mit anderen Koran-Passagen: Es gibt keinen Zwang im Glauben, die Buch-Religionen Christentum und Judentum werden vom Islam akzeptiert, wenn jemand einen Menschen tötet, ist es, als töte er die gesamte Menschheit, Frieden, Barmherzigkeit, etc.

Es gewinnt nie jemand.

Das liegt daran, dass der Koran eine schwer zu lesende Schrift ist, in Teilen ein Regelwerk, in anderen eher Poesie, über weite Strecken auf den ersten und oft sogar zweiten Blick gar nicht klar verständlich, man könnte auch sagen: widersprüchlich. Aus all diesen Gründen ist der Koran keine Bedienungsanleitung für Muslime.

Natürlich ist der Koran für Muslime wichtig. Aber die wenigsten haben ihn studiert oder auch nur vollständig gelesen. Genau wie die meisten Christen in Deutschland die Bibel nicht in Gänze gelesen haben dürften.

Wer wissen will, was Muslime glauben, muss deshalb mit ihnen reden. Den Koran zu lesen, hilft da nur bedingt. Zumal man jedem heiligen Text Gewalt antut, wenn man im Vorbeigehen aus ihm zitiert. Ebenso wie das Judentum und das Christentum hat der Islam eine reiche theologische Tradition. Ohne Kenntnis darüber, was Theologen zur Auslegung und Bedeutung einzelner Passagen sagen, gelangt man nicht an den Wesenskern einer Religion. Und deshalb sind Koran-Zitate auch nicht als Munition in der Islamdebatte geeignet. Sie sind nicht vorhaltbar, man kann nicht einfach zu einem Muslim sagen: Hier, schau mal, da steht doch, was du glaubst, schwarz auf weiß! Der Glaube ist kompliziert, nicht nur der muslimische. Es besteht immer ein Spannungsfeld zwischen heiligem Text und gelebtem Glauben. (Vielleicht sollte man noch ergänzen, dass die einzige muslimische Gruppe, die einfach bloß gewaltverherrlichende Passagen aus dem Koran zitiert, ohne den Großteil der islamischen Theologie zu beachten, die Dschihadisten sind.)

Darf man als Nicht-Muslim also nur über Muslime reden, aber nicht über ihre Religion? Keine Sorge, man darf. Aber vorzugsweise mit einem Minimum an Respekt, das sich zum Beispiel darin zeigt, dass man sich vorher mit der Materie beschäftigt. Wer glaubt, die Scharia sei ein Buch mit Regeln und Strafen darin, weil es halt immer irgendwie danach klingt, sollte sich lieber noch einmal informieren. Wer nicht weiß, was Salafisten sind, sollte sich bei dem Thema zurückhalten.

Ebenso wenig zielführend ist es, wenn Nicht-Muslime sich quasi selbst zu muslimischen Theologen ernennen und Reformideen für eine Weltreligion aus dem Ärmel schütteln. So wünschenswert es sein mag, dass sich in der muslimischen Theologie eine historisch-kritische Lesart des Korans durchsetzt: Das sind Entwicklungen, die von außen nicht sinnvoll beeinflusst werden können. Vernünftig ist es, dafür zu sorgen, dass Deutschland ein Land ist, in dem muslimische Reformer angstfrei forschen und lehren können. Vernünftig ist es zu sagen: Wer meint, aufgrund seiner Auslegung des Korans oder anderer wichtiger Texte gegen hier geltende und nicht zur Diskussion stehende Rechte (Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, etc.) verstoßen zu können, der irrt und wird von uns daran gehindert werden. Jeder kann denken, was er will; aber nicht immer tun, was er möchte.

In der Islamdebatte gibt es eine weitere sich häufig wiederholende rhetorische Figur. Nach einem dschihadistisch motivierten Anschlag zum Beispiel. Dann sagt das eine Lager: Das hat mit dem Islam nichts zu tun, Islam ist Frieden! Und das andere Lager wartet nur darauf, um flugs ironisch zu erwidern: Ja klar, das hat mit dem Islam natürlich rein gar nichts zu tun! Komisch nur, dass die Täter laufend eure heilige Schrift zitieren!

Und wieder geht es nicht voran. Vergeudete Zeit! Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Selbstverständlich hat der Dschihadismus etwas mit dem Islam zu tun. Die Täter sind keine Marsmenschen und auch keine Nihilisten. Sie sehen sich selbst, unbestreitbar, als Muslime. Zugleich sollte es jedoch nicht schwer fallen zu akzeptieren, dass fast alle Muslime auf der Welt den Dschihadismus als Perversion ihres Glaubens empfinden.

Nachdem man sich darauf geeinigt hat, bleibt genug Stoff für eine vernünftige Diskussion übrig. Zum Beispiel hierüber:

  • Wie lässt sich verhindern, dass Dschihadisten Nachwuchs rekrutieren?  (Hat die Anfälligkeit junger Menschen manchmal vielleicht gar nicht so viel mit Religion zu tun, sondern auch etwas mit ihren Lebensumständen oder ihrem subjektiven Gefühl, Opfer von Diskriminierung zu sein?)
  • Welche Rolle sollten Moscheegemeinden und Imame dabei spielen? (Sie stehen selbstverständlich in der Pflicht, weil islamistische Extremisten naheliegenderweise vor allem unter Muslimen zu rekrutieren versuchen.)

Wir sollten uns in der Islamdebatte nicht am Koran als heiligem Text abarbeiten. Wichtiger ist, was Muslime in diesem Land sagen und tun. Die meisten sagen und tun überhaupt nichts, was problematisch ist. Wer Hasspredigten hält, Andersgläubige bepöbelt, Menschen radikalisiert oder gar Terroranschläge plant, bei dem müssen die entsprechenden Gesetze angewandt werden. Punkt.

 

4. Trennen, was nicht zusammengehört

Nicht immer, wenn ein Muslim etwas macht, tut er es, weil er Muslim ist. Wir alle sind durch mehr als unsere Religionszugehörigkeit geprägt; es ist niemals sinnvoll, jemanden alleine darauf zu reduzieren.

Für die Islamdebatte bedeutet das: trennen, was nicht zusammengehört.

Ein Beispiel: In der Silvesternacht 2015/16 kam es in Köln zu zahlreichen, teils schweren sexuellen Übergriffen an Frauen. Viele der Täter und Tatverdächtigen waren „Nafris“, Polizeijargon für Nordafrikaner. Wir haben damals in einer Rekonstruktion jener Nacht im ZEIT-Magazin mit zahlreichen jungen Männern aus Nordafrika gesprochen, die dabei gewesen waren.

Wir wissen, dass die meisten betrunken oder berauscht waren. Dass viele von ihnen im Sommer 2015 nach Deutschland gekommen waren, als es hieß: Die lassen jeden rein! Es bleibt unerklärlich und unentschuldbar, dass viele von ihnen in jener Nacht Frauen angriffen. Aber in keinem Fall haben wir Grund zu der Annahme gefunden, das alles könnte irgendetwas mit der Tatsache zu tun haben, dass die Täter Muslime sind. Die meisten, mit denen wir sprachen, waren religionsfern aufgewachsen, Muslime eher nur nominell. Sie sind aber in Zuständen aufgewachsen, in denen Frauenrechte kein großes Thema waren. Das erklärt mehr als der Rückgriff auf „den Islam“. Trotzdem löste die Kölner Silvesternacht damals nicht nur eine Flüchtlings-, sondern auch eine Islamdebatte aus.

Ich habe dieses Beispiel nicht angeführt, um es aus jeder Diskussion herauzuhalten – im Gegenteil, all das muss auf den Tisch. Aber im richtigen Rahmen. Im Fall der Kölner Nafris geht es vorrangig um ein ausländerrechtliches Problem – Abschiebungen von nicht anerkannten Asylbewerbern nach Nordafrika – und nicht um „den Islam“.

Im Idealfall würde man die Debatten um die drei großen Is, um Islam, Integration und Innere Sicherheit, so weit es geht unabhängig voneinander führen. Schon weil weder alle Terroristen Muslime sind noch alle, die integriert werden müssen, Muslime sind. Im besten Fall würden durch eine solche Differenzierung sogar mehr Probleme ernsthafter angegangen: Antisemitismus, zum Beispiel, ist nicht nur ein Thema bei muslimischen Einwanderern (und oft ist der Antisemitismus den Menschen aus politischen Gründen anerzogen worden, nicht aus religiösen). Ebenso wenig ist die Geringerachtung von Frauen und Mädchen ein exklusives Problem von Menschen muslimischen Glaubens.

Ich glaube, dass eine solche Entzerrung zu einer Enthysterisierung beitragen könnte. Und konstruktiver ist.

 

5. Die Moschee in Saudi-Arabien lassen 

Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, eines der höchsten. Dazu gehört, dass Muslime hier, genau wie alle anderen, ihren Glauben praktizieren können. Wie sie es tun, wo es womöglich Grenzen gibt, darüber wird unentwegt gestritten, manchmal auch vor Gericht – und dagegen ist gar nichts zu sagen. Kopftuch, Beschneidung, rituelle Schächtung: Keine dieser Fragen ist abschließend geklärt. Ein normaler Vorgang.

Wenig konstruktiv ist es allerdings, wenn folgendes Argument aufgeboten wird: Über Minarette in Deutschland können wir ja reden, wenn in Saudi-Arabien Kirchen gebaut werden dürfen!

Diese Vermischung ist Unfug. Anders gesagt: Es ist widerspruchsfrei möglich, für Religionsfreiheit in Saudi-Arabien und nicht gegen Minarette in Deutschland zu sein. Saudi-Arabien ist eine De-facto-Diktatur, die auf einer fundamentalistischen Islamauslegung basiert. Warum sollten wir uns mit einem solchen Staat auch nur vergleichen wollen? Abgesehen davon haben die hier lebenden Muslime überhaupt keinen Einfluss auf die saudische Politik.

 

Zum Schluss

Was mich selbst jetzt schon nervt an diesem Beitrag: Dass er bei allem Bemühen darum, eine Debatte konstruktiver zu gestalten, zugleich schon wieder so klingt, als gebe es keine größere Herausforderung in diesem Land. Deshalb eine Schlussbemerkung: eine bessere, klügere, faktenreichere Islamdebatte würde selbstverständlich auch die Verhältnismäßigkeit zu allen anderen Problemen in diesem Land berücksichtigen.

 

Wie Deradikalisierung in Deutschland funktioniert

Es ist die erste systematische Untersuchung über den Stand der Deradikalisierung in Deutschland: Anfang der Woche hat die Beratungsstelle Radikalisierung im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Studie veröffentlicht, die das Beratungsangebot des BaMF und der angeschlossenen zivilgesellschaftlichen Partnerorganisationen evaluiert. Über die wichtigsten Ergebnisse habe ich mit Milena Uhlmann, der Verfasserin der Studie, und Florian Endres, dem Leiter der Beratungsstelle, gesprochen. Uhlmann ist Politikwissenschaftlerin und hat insgesamt 16 Monate an der Evaluation gearbeitet. Einen Überblick über die zivilgesellschaftlichen Partner, die mit dem BaMF zusammenarbeiten, und weitere Informationen über dieses Netzwerk gibt es hier.

 

 

YM: Wenn in Deutschland jemand das Gefühl hat, sein Kind, der Nachbarsohn oder die Schülerin radikalisiert sich unter islamistischen Vorzeichen, dann kann er seit einigen Jahren die Hotline der Beratungsstelle Radikalisierung beim BAMF anrufen. Jetzt haben Sie Ihre eigene Tätigkeit und die Ihrer zivilgesellschaftlichen Kooperationspartner erstmals evaluiert. Wie viele Anrufe gab es denn bisher bei der Hotline – und was ist das Prozedere, das darauf folgt?

ENDRES: Wir haben am letzten Freitag den 4000. Anruf seit Gründung der Beratungsstelle am 1. Januar 2012 entgegengenommen. Wir erfragen dann jeweils im Gespräch, ob eine Radikalisierungsgefahr besteht oder ein Radikalisierungsprozess erkennbar ist. Das findet standardisiert durch unsere geschulten Mitarbeiter an der Telefonhotline statt. Gibt es solche Anzeichen, geben wir zumeist je nach regionaler Zuständigkeit die Betreuung in die Hände eines unserer zivilgesellschaftlichen Partner.

YM: Die meisten Menschen haben keine Vorstellung von dieser Arbeit. Womit ist Ihr Werkzeugkoffer gefüllt, was können Sie tun?

UHLMANN: Wenn die Erstanalyse bei der Beratungsstelle die Gefahr der Radikalisierung bestätigt, nimmt der entsprechende Kooperationspartner persönlichen Kontakt zu den Beratungssuchenden auf und macht eine Lageanalyse: Was ist passiert? Wer ist beteiligt? Welche Ansatzpunkte gibt es, um ein Gegengewicht zum salafistischen Umfeld aufzubauen? Auf dieser Grundlage werden dann Ziele für den weiteren Beratungsprozess vereinbart und eine Strategie entwickelt.

YM: Kann man das konkreter beschreiben? Was bedeutet Deradikalisierung, und welche Methoden stehen zur Verfügung?

UHLMANN: Das ist fallbezogen, es muss immer ein individuelles Setting entwickelt werden. Wir müssen jeweils sehen, welche Strategie im konkreten Fall am erfolgsversprechenden ist.

YM: Aber was für Ziele können das denn sein: jemanden aus radikalen Kreisen lösen, eine ideologische Auseinandersetzung suchen, solche Dinge?

UHLMANN: Das alles können Ziele sein. Die Beratenden schauen immer auf die emotionale, auf die pragmatische und die ideologische Dimension. Innerhalb dieses Dreiecks sucht man Ansatzpunkte.

ENDRES: Zum Beispiel schilderten uns Eltern 2013/14 häufiger, dass Ihre Kinder planen, sich beispielsweise dem Islamischen Staat anzuschließen. Primäres Ziel hierbei war, mögliche Ausreisen nach Syrien oder in den Irak zu verhindern.

YM: In wie vielen Fällen sind denn die eigentlich Betroffenen gar nicht bereit, mitzuarbeiten?

UHLMANN: Der Ansatz des Netzwerks ist die Arbeit über das soziale Umfeld. Es kommt zwar durchaus vor, dass mit Radikalisierten direkt gearbeitet wird, etwa wenn sie sich an uns wenden oder sich das im Rahmen der Beratung ergibt. Aber die Beratenden ertüchtigen vor allem die Angehörigen im Umgang mit den Radikalisierten.

YM: Wir sieht die Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden aus? Wie sind die Regeln?

ENDRES: Die Kooperation hat sich sehr positiv und professionell entwickelt. In den Ländern setzen sich die Behörden intensiv mit dem Thema Deradikalisierung auseinander und unterstützen unsere Arbeit. Mittlerweile gelangen auch Fälle über Polizeibeamte zu uns, weil die Beamten den Familien raten, sich an uns zu wenden. Grundsätzlich ist es so, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die zivilgesellschaftlichen Träger selbstverständlich die Sicherheitsbehörden einschalten müssen, sobald strafbare Handlungen im Raum stehen.

YM: Es gibt aber doch sicher Fälle, in denen betroffene Familien nicht wollen, dass die Sicherheitsbehörden eingeschaltet werden. Sind Sie da transparent?

ENDRES: Ja, wir weisen sofort darauf hin, sobald es relevant wird. Das ist in den fünf Jahren bisher noch nie ein Problem gewesen. Keine einzige Beratung wurde deswegen abgebrochen.

YM: Kann man den Erfolg des Netzwerks messen? Wie viele erfolgreich abgeschlossene Fälle gibt es?

UHLMANN: Um Erfolg messen zu können, braucht man eine Metrik. Diese gilt es perspektivisch zu erarbeiten. Das nächste Ziel ist deshalb zunächst, die Dokumentationsarbeit der Partner stärker zu vereinheitlichen. Und wir müssen uns darauf einigen, was für uns Deradikalisierungsindikatoren sind.

YM: Es gibt also ein funktionierendes Netzwerk, aber noch keine Möglichkeit, den Erfolg zu messen.

UHLMANN: Wir haben natürlich Evidenzen für den Erfolg der Arbeit der Beratungsstelle, die uns klar zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber noch können wir diesen nicht nach streng wissenschaftlichen Kriterien messen.

YM: Ihre zivilgesellschaftlichen Partner unterscheiden sich nicht nur nach regionalem Schwerpunkt, sondern haben auch verschiedene Vorgeschichten und Herangehensweisen. Wie einheitlich ist die Beratungsarbeit?

UHLMANN: Eines der Hauptergebnisse unserer Evaluation ist, dass die grundlegenden Standards relativ ähnlich sind. Es wird noch in diesem Jahr eine gemeinsame Handreichung geben, in der wir sie schriftlich definieren.

YM: Gibt es denn überhaupt abgeschlossene Fälle, wenn man so schwer sagen kann, was Erfolg ausmacht?

ENDRES: Es kommt manchmal vor, dass Familien jahrelang betreut werden. Am Anfang ist der Bedarf oft sehr hoch, dann flaut er erst mal ab. Aber dann tritt vielleicht ein Ereignis ein, ein Schicksalsschlag zum Beispiel, oder die Rückkehr des eigenen Kindes aus Syrien, und dann kann das wieder intensiver werden. In solchen Fällen zahlt es sich aus, wenn das Umfeld durch uns schon vorbereitet worden ist.

UHLMANN: Wir handeln nach der Maßgabe: Wer Beratung wünscht, bekommt sie auch.

YM: Wie verhält sich denn Ihre Arbeit und die Ihrer Partner zu den eigenen Ausstiegs- und Deradikalisierungsinitiativen einiger Sicherheitsbehörden in einigen Bundesländern? Diese sind ja nicht Teil Ihres Netzwerks…

ENDRES: Ich glaube, hier muss man gesamtheitlich denken. Sicherheitsbehörden in NRW und Niedersachen bieten eigene staatliche Programme an, mit diesen sind wir stetig in einem guten Austausch. Ist eine besondere fachliche Komponente gefordert, die die jeweils andere Stelle abdecken kann, werden einzelne Beratungsfälle auch weitergereicht.

UHLMANN: Eines der wichtigsten Ergebnisse der Evaluierung ist, dass Vertrauen zwischen Beratern und Betroffenen auf der einen und zwischen den Netzwerkakteuren auf der anderen Seite extrem hilfreich ist. Da sind wir vorangekommen.

YM: Mitarbeiter Ihrer zivilgesellschaftlichen Partner klagen über hohe Arbeitsbelastung und geringe Löhne, zugleich gibt es keine einheitliche Qualifikation für „Deradikalisierer“.

UHLMANN: Sicherlich ist die Anzahl der Beratungsfälle gestiegen, dafür wurde jedoch auch das Beratungsnetzwerk stetig ausgebaut und Personal bei den zivilgesellschaftlichen Partnern aufgestockt.  Wir stellen gemeinsam mit den beteiligten Akteuren auch gerade zusammen, welche Schulungen und Qualifizierungen wir als sinnvoll erachten. Insgesamt ist das Themenfeld einfach noch relativ jung und vieles in der Entwicklung.

YM: In den Beratungsstellen arbeiten typischerweise Psychologen, Sozialarbeiter und Islamwissenschaftler, aber noch niemand mit einem Abschluss in Deradikalisierung. Wäre so etwas sinnvoll?

ENDRES: Es ist durchaus ein Ziel, solche Zertifizierungen in Kooperation mit Hochschulen zu erreichen. Interne Schulungen gibt es natürlich schon, und im BAMF bieten wir auch Fortbildungen an. Jetzt arbeiten wir an einem einheitlichen Schulungskonzept, von dem das ganze Beratungsnetzwerk profitieren kann.

YM: Konnten Sie den Stand der Deradikalisierung in Deutschland mit dem Stand im Ausland abgleichen?

UHLMANN: Deutschland hat ein Alleinstellungsmerkmal, nämlich die Kombination von behördlicher Anlaufstelle und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Dass das BAMF einen direkten Draht zu den Sicherheitsbehörden hat, ist zudem hilfreich. Das habe ich so in dieser Form im Ausland nicht finden können. Die hohen und stetig ansteigenden Beratungsanfragen werten wir auch als Beweis von Vertrauen in unser Angebot.

YM: Rückkehrer aus Syrien und dem Irak werden in Zukunft ein großes Thema sein. Ist das nicht eine Herausforderung völlig neuer Dimension auch für Sie?

ENDRES: Damit beschäftigen wir uns seit Monaten, und das Netzwerk hat schon seit 2015 mit Rückkehrern zu tun, weil zum Beispiel die Eltern ausgereister Jugendlicher schon beraten wurden. Noch ist die Zahl der betreuten Rückkehrer gering, aber das Thema wird wichtiger, insbesondere das Thema rückkehrende Frauen mit Kindern. Das kommt auf Jugendämter und Sicherheitsbehörden genauso zu. Wir sind ein wichtiger Partner für Beratung und Vernetzung, aber das wird eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Ob man die Rückkehrer deradikalisieren kann, das ist dann natürlich wieder einzelfallabhängig – nämlich davon, ob die das überhaupt wünschen oder sich verweigern.

YM: Sie haben Sie Studie im Auftrag des Innenministeriums durchgeführt, das auch das meiste Geld für das Netzwerk zur Verfügung stellt. Wie unabhängig ist Ihre Studie?

UHLMANN: Hier hat nicht die Beratungsstelle sich selbst evaluiert, sondern das Forschungszentrum des Bundesamts eine andere Abteilung. Das hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben. Die Evaluation wurde nach wissenschaftlichen Kriterien vorgenommen. Sie bietet erstmals einen wissenschaftlich aufbereiteten Einblick in die Strukturen des bundesdeutschen Deradikalisierungsnetzwerks und die Beratungsprozesse. Diese erste Grundlagenforschung durch das Forschungszentrum hat sich auch vor dem Hintergrund der Sensibilität der Thematik angeboten. Als Forscherin des Bundesamts, das mit allen Beteiligten in direktem Austausch steht, konnte ich leichter Zugang zum gesamten Beratungsnetzwerk erhalten. Eine weiterführende Evaluation planen wir nach Schaffung der notwendigen Grundlagen perspektivisch an einen externen universitären Partner zu geben.

 

 

 

Ein Terrorverdächtiger als Polizeispitzel?

Seit April sitzt der Leipziger Imam Hesham Shashaa alias Abu Adam wegen Terrorverdachts in Spanien in U-Haft. Jetzt behauptet sein Anwalt: Die Ermittlungen begannen erst, nachdem Abu Adam ablehnte, der Polizei als Informant zu dienen. Folge 7 unseres Ermittlungsblogs

Von Yassin Musharbash 

 

Der Fall des Leipziger Imams Abu Adam ist etwas Besonderes. Denn der Verdächtige und die Beamten, die gegen ihn ermitteln, widersprechen einander weniger, was die Fakten betrifft – dafür aber diametral, was die Interpretation dieser Fakten angeht.

Die spanische Polizei glaubt, dass Abu Adam, der eigentlich in Leipzig lebt, aber in den letzten Jahren zwischen Deutschland und einem kleinen Ort in Südspanien gependelt ist, ein radikaler Aufrührer ist, der gezielt Extremisten um sich versammelt. Ihn selbst verdächtigen sie sogar, in die Struktur der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ eingebunden zu sein und dem dschihadistischen Terrorismus mit Propaganda und Geld Vorschub geleistet zu haben. Seit April 2017 halten sie ihn deswegen in Untersuchungshaft.

Abu Adam streitet das kategorisch ab: Seine Kontakte zu IS-Verdächtigen und anderen Radikalen dienten alleine dem Zweck, diese zu deradikalisieren, macht er geltend. Er lehne Gewalt ab und habe Zeit und Geld aufgewandt, um den Extremisten des IS und anderer Gruppen den Nachschub an jungen Verführten abzuschneiden.

In bisher sechs Folgen dieses Ermittlungsblogs habe ich den Fall aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Denn die Causa Abu Adam ist auch auf einer weiteren Ebene von Bedeutung: Wie auch immer der Fall ausgeht, er wird die Debatte darüber befeuern, wer qualifiziert ist, Extremisten aus der dschihadistischen Szene zu deradikalisieren – und mit welchen Methoden.

Für die heutige Folge habe ich mit Abu Adams Anwalt in Spanien, Gonzalo Boye, ein Interview geführt*. Nicht zuletzt, um genauer zu erfahren, wie die spanische Justiz funktioniert, was also die nächsten Schritte im Verfahren gegen Abu Adam sein werden. Gonzalo Boye stellt in dem Interview darüber hinaus eine überraschende Behauptung auf: Die spanische Polizei habe Abu Adam als Informant anzuwerben versucht.

„Ich glaube, er braucht eine gute Verteidigung“

ZEIT ONLINE: Herr Boye, Abu Adam sitzt seit fast acht Monaten in Untersuchungshaft. Haben Sie ihn mittlerweile besuchen können? Wie sehen seine Haftbedingungen aus?

Gonzalo Boye: Ich habe ihn in dem Gefängnis Puerto de Santa María besucht, es gilt als das härteste Gefängnis Spaniens und liegt etwa 600 Kilometer von Madrid entfernt. Es hat ziemlich lange gedauert, die Besuchserlaubnis zu bekommen, ich habe den Fall auch erst vor einigen Monaten übernommen. Hesham Shashaa hält sich jeden Tag 20 Stunden in der Zelle und vier Stunden im Patio auf, wobei extreme Sicherheitsvorkehrungen gelten. Es ist das schlimmste Gefängnis Spaniens, weit entfernt vom Gericht und auch von meinem Büro, was es kompliziert macht, ihn regelmäßig zu besuchen.

ZEIT ONLINE: Ich habe Kenntnis von drei Dokumenten der spanischen Ermittler, einer Art Zusammenfassung der Vorwürfe, vom Protokoll einer ersten Vernehmung nach der Festnahme sowie einer „Faktensammlung“ der Ermittler. Die Vorwürfe der spanischen Ermittler wiegen schwer, sie beinhalten unter anderem Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Terrorpropaganda und -finanzierung. Können Sie uns sagen, wie weit fortgeschritten die Ermittlung ist? Und wurde Abu Adam bereits offiziell angeklagt?

Boye: Er wurde noch nicht offiziell angeklagt, das wird später passieren.

ZEIT ONLINE: Wer genau führt eigentlich die Ermittlungen?

Boye: Der Instruction Court Number 6 des Nationalen Gerichtshofes. Aber bisher wurde die gesamte Ermittlung von einer einzigen Polizeieinheit geführt.

ZEIT ONLINE: Wie viel Zeit haben die Behörden, bevor sie Abu Adam formal anklagen müssen?

Boye: Die maximale Dauer der U-Haft beträgt vier Jahre. Aber wir glauben, es ist an der Zeit, dass nun Anklage erhoben wird, denn die Ermittlungen laufen nicht mehr und es gibt bisher auch keine Beweise für fehlerhaftes Verhalten. Wir kämpfen dafür, dass Hesham Shashaa entweder vorläufig auf freien Fuß gesetzt wird oder der Fall ganz geschlossen wird.

ZEIT ONLINE: Die Ermittlungen laufen also derzeit nicht weiter?

Boye: Nicht wirklich. Alles, was in dem Fall vorliegt, sind die Annahmen einer Polizeieinheit, aber keine Beweise und keine weiteren Ermittlungen.

ZEIT ONLINE: Hören die Ermittler Zeugen an?

Boye: Nein. Sie haben ihre eigenen Schlüsse gezogen und scheinen kein Interesse daran zu haben, irgendetwas zu finden, das ihren ersten und unfundierten Annahmen widerspricht.

ZEIT ONLINE: Sie haben Hesham Shashaa geraten, nicht mit den Ermittlern zu sprechen. Ist das richtig?

Boye: Ja, es gibt keinen Grund, mit dem Gericht oder den Ermittlern zu sprechen, weil es keine Fakten oder Beweise gegen ihn gibt, also wissen wir gar nicht, was wir antworten sollen. Wenn der Ermittlungsrichter, der Staatsanwalt oder die Polizei uns etwas Neues präsentieren, werden wir antworten – aber nicht jetzt.

ZEIT ONLINE: Hesham Shashaas Familie sagt, sie versuche, Gegenbeweise zusammenzutragen, um zu demonstrieren, dass die Vorwürfe der Ermittler entweder auf Missverständnissen beruhen oder falsch sind. Die Familie sagt auch, dass sei schwierig, weil die Ermittler die meisten Dokumenten beschlagnahmt hätten, als Shashaa festgenommen wurde. Halten Sie es für möglich, dass es der Familie gelingt, Belege vorzubringen, die die Vorwürfe der Ermittler schwächen?

Boye: Wir werden jedes einzelne und alle möglichen Elemente finden, die seine Aktivitäten, seine Arbeit und seinen Lebenswandel demonstrieren können. Es ist nicht leicht, weil die Polizei seine Computer und Dokumente an sich genommen hat. Aber wir werden einen Weg finden.

ZEIT ONLINE: Die spanischen Ermittlungsakten zeigen, dass die Ermittler Shashaas Telefon abgehört haben, Gespräche mit seinem Anwalt in Deutschland eingeschlossen. Ist das nach spanischem Gesetz legal?

Boye: In diesem Fall ist der Großteil der Ermittlungen illegal und das werden wir beweisen.

ZEIT ONLINE: Es wird aus den Akten überhaupt nicht klar, wieso die Ermittlungen gegen Hesham Shashaa eingeleitet wurden. Kennen Sie den Grund?

Boye: Einfach nur, weil er nicht als Informant für die spanische Polizei arbeiten wollte. Er ist kein Spitzel, sondern ein verantwortungsbewusster Mann, der ernsthaft daran arbeitet, Menschen zu deradikalisieren; da kann er nicht gleichzeitig für die Polizei arbeiten.

ZEIT ONLINE: Sie sagen, er wurde vor Beginn der Ermittlungen gefragt, ob er als Informant arbeiten würde?

Boye: Ja. Und nachdem er Nein sagte, begannen die Ermittlungen gegen ihn.

ZEIT ONLINE: Ich muss der Klarheit halber noch mal nachhaken: Hat Hesham Shashaa Ihnen erzählt, dass er gefragt wurde, ob er als Informant für die spanische Polizei arbeiten würde – oder gibt es für diese Information eine weitere Quelle?

Boye: Er hat es mir gesagt. Und ich habe es durch weitere Quellen geprüft.

ZEIT ONLINE: Die Familie hat mir berichtet, dass Hesham Shashaa regelmäßig Besuch von einer Mitarbeiterin einer spanischen Sicherheitsbehörde erhielt. Wissen Sie etwas darüber?

Boye: Ja, das ist wahr, aber sie (diese Institution, YM) war an der Festnahme nicht beteiligt. Der ganze Fall wurde von der Polizei aufgemacht, nachdem er sich weigerte, als Informant zu arbeiten.

ZEIT ONLINE: Wenn deutsche Ermittler die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nachweisen wollen, suchen sie für gewöhnlich nach einem Treueeid, den der Verdächtige abgelegt hat, oder schauen, ob er in einem Propagandavideo auftaucht und dadurch deutlich macht, dass er dazugehört. Wie funktioniert das in Spanien?

Boye: Nach dem Gesetz sollte es in Spanien ähnlich ablaufen. Aber in diesem Fall läuft alles verkehrt.

ZEIT ONLINE: In einem Fall hat Hesham Shashaa anscheinend versucht, einer Marokkanerin und ihren Kindern, die zuvor auf dem Gebiet des IS gelebt hatten, dabei zu helfen, nach Spanien zurückzugelangen. Laut den Ermittlern bestand ein internationaler Haftbefehl gegen diese Frau. Wie schätzen Sie das ein?

Boye: Nun, das sagt die Polizei. Aber woher sollte Shashaa wissen, dass es dieses Dokument gab? In jedem Fall ist es kein Verbrechen, ihr dabei zu helfen, zurückzukehren.

ZEIT ONLINE: Hesham Shashaa hatte Kontakt zu verschiedenen Personen, die ihrerseits Beziehungen zu Menschen im IS hatten. Er sagt, er habe diese Kontakte unterhalten, um Menschen zu deradikalisieren und davon abzuhalten, sich dem IS anzuschließen. Die spanischen Ermittler scheinen das nicht zu glauben. Sie glauben offenbar, Abu Adam habe das Gegenteil getan und vielmehr ein Netzwerk von Radikalen um sich herum aufgezogen. Glauben Sie, es wird Ihnen möglich sein, das zu beweisen?

Boye: Wir werden das zweifelsfrei beweisen. Es wird dauern. Aber wir werden nachweisen, dass es sich um falsche Anschuldigungen handelt.

ZEIT ONLINE: Von allen Vorwürfen, die gegen Shashaa erhoben werden: welcher ist aus rechtlichem Blickwinkel der schwerwiegendste oder derjenige mit den weitreichendsten potenziellen Konsequenzen?

Boye: Ich habe bisher keine Beweise gegen ihn gesehen, zumindest nichts, was man als Beweis betrachten kann. Die Polizei sagt, Shashaa tue möglicherweise x, y oder z – aber nie, dass er es getan habe. Weil er nichts Falsches getan hat.

ZEIT ONLINE: Natürlich haben auch Terrorverdächtige das Recht auf einen Anwalt. Aber können Sie uns sagen, warum Sie sich entschieden haben, Hesham Shashaa zu vertreten?

Boye: Ich glaube, er braucht eine gute Verteidigung. Und ich glaube außerdem, dass er unschuldig ist.

 

* Das Interview wurde schriftlich per E-Mail geführt. 

 


Haben Sie Hinweise oder Informationen, die für diese Recherche hilfreich sein könnten? Schreiben Sie an yassin.musharbash@zeit.de


Bisher erschienene Teile dieses Ermittlungsblogs: 

„Ein Imam unter Verdacht“

„Der Fall Peter“

„Was bedeutet: ‚um sie zu beruhigen‘?“

„Er hat hier so eine Axt“

„Ich bitte Sie, meine Worte zu veröffentlichen“

„Der Imam und das Geld“

 

Der Imam und das Geld

Seit April sitzt der Leipziger Imam Abu Adam in Spanien wegen Terrorverdachts in U-Haft. Was ist an den Vorwürfen dran? In Folge 6 unseres Ermittlungsblogs geht es um Abu Adams Finanzen. 

Von Yassin Musharbash 

 

Ist es für eine Stiftung, die international tätig ist und nach eigenen Angaben Projekte in der arabischen Welt, in Asien, in Europa, in Afrika und in Australien betreibt, nicht merkwürdig, wenn die angegebene E-Mail-Adresse nicht funktioniert und auch nach fünf Versuchen in fünf Wochen niemand ans Telefon geht?

Hesham Shashaa alias Abu Adam

Ich finde schon.

So aber verhält es sich mit der Al Maktoum Foundation mit Sitz in Dubai. Zuletzt habe ich der Stiftung am Montag meine Fragen über ein Anfrageformular zugestellt. Bis jetzt gab es auch hierauf keine Antwort.

Weiter„Der Imam und das Geld“

 

„Ich bitte Sie, meine Worte zu veröffentlichen“

Mittlerweile gibt es erste Reaktionen auf den Fall Abu Adam und wie ich mich ihm hier nähere. Auch kritische. Außerdem: Post von einem Professor. Teil 5 unseres Ermittlungsblogs.

Von Yassin Musharbash

In bisher vier Blogposts habe ich versucht, etwas mehr Licht in die Vorwürfe zu bringen, aufgrund derer der Leipziger Imam Hesham Shashaa, besser bekannt als Abu Adam, seit Ende April in Spanien in U-Haft sitzt.

Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf erste Reaktionen und weitere Medienberichterstattung einzugehen.

 

Hesham Shashaa alias Abu Adam

Ich fange an mit Sigrid Herrmann-Marschall, einer Bloggerin, die sich selbst als Sekten- und Islamismusexpertin bezeichnet und die auf jeden meiner bisher erschienen Blogs-Posts ausführlich reagiert hat.

Ihre Repliken enthalten einige Anmerkungen, die ich nachvollziehbar finde. Und sie enthalten einige Vorwürfe, auf die ich gerne kurz eingehen würde.

Frau Herrmann-Marschall findet, dass ich die Vorgeschichte von Abu Adam nicht sorgfältig genug recherchiert habe. Sie verweist zum Beispiel auf eine Zeitungsnotiz, in der Abu Adam sich einst als Journalist bezeichnet habe, nicht als Religionsgelehrten. Diese Meldung kannte ich tatsächlich nicht. Danke für den Hinweis.

Sie stört sich daran, dass ich nicht ermittelt habe, dass Abu Adam sich mit dem saudischen Prediger Abdallah al-Muslih nachweisbar getroffen habe und verlinkt entsprechendes Videomaterial. Auch hier: Danke für den Hinweis. Allerdings möchte ich eine kleine Information nachreichen. Wie in Teil 4 beschrieben, bin ich mir noch nicht abschließend sicher, dass der „Abdallah al-Muslih“, der in den spanischen Akten auftaucht, wirklich derselbe Mann ist. Es ist wahrscheinlich. Aber arabische Namen sind oft nicht ganz eindeutig. Deshalb war ich an dieser Stelle zurückhaltend.

Frau Herrmann-Marschall fragt weiter, ob Abu Adam tatsächlich politisch verfolgt worden sei, was, so verstehe ich das, eigentlich auf diese Frage hinausläuft: unter welchen Umständen hat er seine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhalten? Sie steht mit dieser Frage nicht allein, auch einige Leser haben sie gestellt. Ich habe sie bisher nicht recherchiert, weil ich finde, dass sie mit den aktuellen Terrorvorwürfen nichts zu tun hat.

Sie fragt darüber hinaus, wie genau denn die angeblichen Studien Abu Adams ausgesehen haben, beziehungsweise was für Zertifikate er besitzt. Ich habe auch das aktuell nicht nachrecherchiert. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich, als ich Abu Adam vor einigen Jahren in Spanien besuchte, einige akademische Zertifikate zu sehen bekommen. Dass Abu Adam großes Fachwissen in islamischer Theologie hat, merkt indes jeder, der sich mit ihm darüber unterhält.

Dieses Blog ist ein Experiment

Frau Herrmann-Marschall würde zudem gerne wissen, wann und wo genau Abu Adam bei Schulungen und Vorträgen, etc. aufgetreten sei. Das ist eine legitime Frage. Eine Liste habe ich leider nicht. Wenn ich die Zeit finde, werde ich das gerne als Auftrag begreifen, dem hinterherzusteigen. Aber auch hier: mit den Terrorvorwürfen gegen Abu Adam hat das wenig zu tun, deshalb ist es für mich aktuell keine Priorität.

Sie stellt außerdem die Frage, ob es sein könne, dass die Vorsitzende des Vereins „Darul Quran“, der Abu Adam als Extremismus-Experten eingestellt hat, seine Ehefrau ist. Kurze Antwort: Ja, ist sie. Ich hatte auch vor, das an der Stelle zu erwähnen, wo es meiner Meinung nach sinnvoll ist: in dem Blogpost, den ich zu Abu Adams Finanzen noch schreiben werde.

Ich bemühe mich in diesem Ermittlungsblog um größtmögliche Transparenz, und ich hoffe, es ist den Leserinnen und Lesern auch schon klargeworden, dass es sich um eine unerprobte journalistische Form handelt, in der ich hier berichte. Wenn Sie wollen: Ein Experiment. „Work in Progress“, habe ich es in Teil 1 genannt. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass ich es überhaupt nicht schlimm finde, wenn ich auf Lücken in der Recherche hingewiesen oder konstruktiv kritisiert werde.

Sigrid Herrmann-Marschall hat aber auch Kritik vorgebracht, die ich zurückweisen möchte.

„Warum ‚ermittelt‘ er nur die positiven Dinge“, fragt sie etwa. Ich finde nicht, dass ich das tue. Ich habe auch nicht das „Ziel, ein Bild zu erzeugen“, wie die Kritikerin meint. Ich beharre weiterhin darauf, dass meine Recherche ergebnisoffen ist.

Frau Herrmann-Marschall suggeriert zudem, ich verwendete nur wenig Zeit auf dieses Blog. Als ich mitteilte, dass eine Kollegin mich einen halben Tag lang mit ihren Spanischkenntnissen unterstützt habe, kommentierte sie zum Beispiel ironisch: „Doch so lange? Na, das muss ja gut werden! Man fragt sich ernsthaft, wie viel Zeit sich der Herr Musharbash für weniger komplizierte Recherchen nehmen mag.“

Tatsächlich habe ich schon jetzt etliche Arbeitstage, über Monate verteilt, in dieses Projekt investiert. Dieses Blog ist also nicht, wie die Kritikerin mutmaßt, „zwischen Tür und Angel“ entstanden oder „eilig zusammengeschustert.“

Es stimmte auch nicht, dass ich kein Interesse daran hätte, etwas zu ermitteln, was „über den potentiellen Sachstand der Behörden hinausgeht“. Erst in der letzten Folge habe ich über Kontakte Abu Adams zu zwei späteren IS-Terroristen berichtet, von denen die spanischen Ermittler bisher gar nichts wissen. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass weder der MDR noch der BR (Frau Herrmann-Marschall findet, ich ignoriere deren Berichterstattung, dabei habe ich zwei von drei Beiträgen verlinkt) im Gegensatz zu mir die spanischen Akten auch nur durchgegangen sind.

Frau Herrmann-Marschall fragt weiter, ob man nicht, „wie das üblicherweise der Fall ist im Journalismus, abwarten“ könne „bis es etwas Gehaltvolles von den Behörden gibt oder man selber Berichtenswertes gefunden hat“.

Ja, kann man. Aber dies hier ist eben etwas Neuartiges, die Erprobung einer Idee: nämlich in Form eines Blogs nachvollziehbar für die Leserinnen und Leser zu recherchieren, im Idealfall auch, um auf aktuelle Entwicklungen oder Hinweise eingehen zu können.

Das muss natürlich niemand mögen. Mir gefällt es bisher.

Zwei Dinge an Frau Herrmann-Marschalls Replik ärgern mich allerdings sehr. So behauptet sie, ich sei im Fall Peter (Sie können die Folge dazu hier nachlesen) „eine Art Gutachter“ gewesen und selber „Akteur“. Das stimmt schlicht nicht.

Desweiteren schreibt die Bloggerin: „Vieles wirkt wie frei von der Leber geschrieben, der Herr Musharbash schreibt ja auch Fiktives – da tut man sich mit Ausschmückungen leicht.“

Liebe Frau Herrmann-Marschall, seien Sie versichert: Ich verfüge über die notwendige intellektuelle Kapazität, meine berufliche Tätigkeit als Journalist von meinem Wirken als Romanautor zu unterscheiden und zu trennen.

Möglicherweise kennen Sie, liebe Leserinnen und Leser, Frau Hermann-Marschall nicht. Im Interesse der Transparenz reiche ich hier deshalb noch drei Links nach. Einer führt zu einem Interview, in dem Frau Herrmann-Marschall Auskunft über ihr Engagement gegeben hat; die anderen beiden führen zu Artikeln von Süddeutscher Zeitung bzw. Spiegel, in denen Frau Herrmann-Marschalls Tätigkeit (bzw. ihr en „Aktivismus“ – SZ) thematisiert wird.

Ein Professor meldet sich 

Eine zweite Reaktion, die ich gerne hier teilen möchte, erreichte mich per Email von Professor Mouhanad Khorchide, dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster, der dort die Professur für Islamische Religionspädagogik innehat. (Mehr über Herrn Khorchide hier und hier.)

 

„Lieber Herr Musharbash,

ich habe gerade ihre beiden Beiträge über Herrn Shashaa gelesen. Ich schreibe Ihnen, weil es mich persönlich stark irritiert, dass ausgerechnet Herr Shashaa im Zusammenhang mit Terror gebracht wird. Ich gebe zu, ich kenne ihn lediglich aus einem Podiumsgespräch in Bonn im Jahre 2014. Ich hatte nach dem Podium die Gelegenheit, mich für ca. 15 Minuten mit ihm unter vier Augen auszutauschen und zwar auf Arabisch (in palästinensischem Dialekt). Ich war erstaunt, wie stark wir uns beide über Gott und die Welt einig waren. Er beschwerte sich bei mir über Salafisten, die ihn zu einem Häretiker erklären und er dankte mir für meine Arbeit, die in seinen Augen sehr wichtig sei und den richtigen barmherzigen Islam darlegen würde. Er sagte mir, dass er sehr oft Kritik bekomme, weil er mich in Schutz nehmen würde, obwohl er mich persönlich nie kannte, aber er habe den Kritikern stets gesagt: „Habt ihr seine Bücher wirklich gelesen? Habt ihr mit ihm geredet? Wenn nein, dann lasst den Mann in Ruhe. Alles was er sagt, ist dass der Islam eine Religion der Barmherzigkeit ist“. Er sagte mir offen, dass man in Detailfragen gerne streiten kann (er sei auch mit allen Details, die ich schreibe einverstanden), aber das seien unwichtige Details.

Herr Shashaa, zu dem ich nachher aus zeitlichen Gründen leider nie wieder Kontakt aufnehmen konnte, machte auf mich den authentischen Eindruck, er sei zwar in manchen Fragen konservativ, aber für innerislamische Pluralität offen, er tritt authentisch für den Frieden und für ein konstruktives Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ein. Ich sage bewusst „authentisch“, weil er mir unter vier Augen und unter uns Palästinensern alles sagen konnte, was er wirklich denkt.

Ja, ich gebe zu, als ich auf das Podium kam, ich innerlich dachte: „Oh, nein! Jetzt muss ich mit einem Salafisten diskutieren“, denn sein Erscheinungsbild deutete auf das hin. Aber schon seine warme Begrüßung und die Art wie er mich angeschaut hat, vermittelte mir sofort etwas anderes. Während des Podiums fragte er mich zwischendurch was das eine oder andere deutsche Wort auf Arabisch heiße, weil er nicht alles verstanden hat und war sehr dankbar für meine Unterstützung. Ich kann mich nicht mehr an die Inhalte der Diskussion erinnern (sie wurde aber sicher aufgezeichnet), aber wir haben nicht gegeneinander sondern miteinander und zwar gegen die Radikalen argumentiert.

Umso mehr irritiert es mich, dass der Mann nun seit April im Untersuchungshaft sitzt. Der Mann Shashaa, den ich im April 2014 kennengelernt habe, ist definitiv kein Radikaler, im Gegenteil, er war äußerst höflich und bescheiden. Seine religiösen Ansichten entsprachen nicht im Geringsten denen von Salafisten oder Radikalen. Jemand, wie ich, der die salafistische Szene und deren Argumente sehr gut kennt, würde sofort erkennen, wer vor ihm steht.

Ich bitte Sie, diese meine Worte zu veröffentlichen und wenn möglich auch an die zuständigen Behörden weiterzugeben, denn ich habe den starken Verdacht, dass hier ein unschuldiger Mensch verdächtigt wird.“

Kurz darauf schickte Professor Khorchide noch eine Ergänzung:

„Ich habe mich nachträglich daran erinnert, dass er sich in unserem Vier-Augen-Gespräch auch darüber beschwert hat, dass viele Muslime heute den Islam als Hassansage gegen den Westen verstehen würden, was total verkehrt wäre, denn uns Muslimen würde es hier in Europa viel besser gehen als in den meisten islamischen Ländern. Ein Salafist oder Extremist würde niemals dies unter vier Augen so formulieren. Ich habe genug andere Erfahrungen gemacht. Ich war danach öfters auf seiner Facebook Seite und habe mitbekommen, wie stark er von Salafisten angefeindet und beschimpft wird, er schrieb immer wieder kurze Statements, meist auf Arabisch, in denen er extremistische Meinungen kritisiert und für den Frieden gerufen hat.“

Ein spanischer Medienbericht

Ich kenne die spanische Zeitung nicht, in der dieser Beitrag erschienen ist.

Aber der Bericht geht vor allem auf den auch von mir berichteten Umstand ein, dass der IS zur Ermordung Abu Adams aufgerufen hat, und listet ansonsten viele der Vorwürfe auf, die auch in diesem Blog schon erörtert worden sind.

An einer Stelle schreibt der Verfasser über die spanischen Ermittlungsakten, sie ließen Abu Adam als perfekten Dschihadisten erscheinen – und zugleich als das Gegenteil. Ich verstehe, dass er diesen Eindruck hat.

In der nächsten Woche wird es um Geldflüsse gehen.


Haben Sie Hinweise oder Informationen, die für diese Recherche hilfreich sein könnten? Schreiben Sie an yassin.musharbash@zeit.de

 

„Er hat hier so eine Axt!“

Wieso hatte der Leipziger Imam Abu Adam so viel Kontakt zu IS-Verdächtigen? Teil 4 unseres Ermittlungsblogs

Von Yassin Musharbash

Irgendwann im Laufe des Jahres 2015 stirbt in Syrien ein marokkanischer IS-Kämpfer namens Hadj Tabbai, möglicherweise durch eine Rakete. Er hinterlässt seine Ehefrau Habiba A. und fünf Kinder, die ihm in den Möchtegern-Staat des IS gefolgt waren. Das jüngste der Kinder ist im Herrschaftsgebiet des „Islamischen Staates“ (IS) geboren und hat darum keinerlei Papiere. Die übrigen Familienmitglieder sind Marokkaner, deren Pässe allerdings abgelaufen sind. Der älteste Sohn ist ebenfalls ein IS-Kämpfer.

Hesham Shashaa alias Abu Adam

Im Januar 2016 ruft Hesham Shashaa beim marokkanischen Konsul in der südspanischen Stadt Valencia an. Er schildert dem Konsul, dass Habiba A. mit ihren vier jüngsten Kindern aus dem IS-Gebiet und aus Syrien abhauen möchte. Der älteste Sohn wolle bleiben. Shashaa sagt weiter, er habe versprochen, zu versuchen, der Familie zu helfen. Der Anruf beim Konsul dient offenbar der Erkundigung darüber, ob die Familie mit gültigen Papieren ausgestattet werden und nach Spanien, wo sie zuvor gelebt hat, zurückgebracht werden kann. Shashaa erwähnt, dass die Familie eine spanische Aufenthaltsgenehmigung habe. „Ich brauche grünes Licht“, schließt Shashaa das Gespräch, „um die Person zu finden, die sie herausholen kann.“

Hesham Shashaa, besser bekannt als Abu Adam, ist der Mann, um den sich dieses Ermittlungsblog dreht. Seit Ende April 2017 sitzt er in Spanien in Untersuchungshaft. Er gilt als terrorverdächtig. (Einen Überblick über die Vorwürfe gegen ihn habe ich in der dritten Folge aufgeschrieben, Sie können sie hier lesen.) Der Leipziger Imam sagt von sich selbst, er sei ein Kämpfer gegen den Dschihadismus. Wenn er Kontakte im Umfeld von IS-Anhängern habe, dann diene das allein seiner Tätigkeit als Deradikalisierer.

Die spanischen Ermittler sehen das anders. Das oben zitierte Telefonat wurde abgehört, eine Teilabschrift findet sich in den Ermittlungsakten. Die Spanier sagen, das Gespräch zeige, dass Abu Adam in der Lage sei, im IS-Gebiet relevante Personen zu finden. Und es belege, dass Abu Adam die Absicht habe, „kämpfende Mitglieder des IS“ nach Spanien zu schaffen – wo es dann denkbar sei, dass diese Anschläge planen. Außerdem steht in den Akten, dass für Habiba A. ein Haftbefehl wegen Terrorverdachts besteht.  Abu Adam beteuert währenddessen in seiner Vernehmung, die Frau denke anders als ihr getöteter Mann. Sie sei also nicht auf IS-Linie.

Abu Adam sieht angeblich: Eine unschuldige Frau mit vier Kindern, der er helfen will, aus dem IS-Gebiet zu entkommen.

Die Ermittler sehen hingegen: eine terrorverdächtige Frau, der Abu Adam, an den Behörden vorbei, helfen will, aus dem IS-Gebiet nach Spanien zu gelangen.

Es ist nachvollziehbar, dass den Ermittlern Abu Adams Vorgehen nicht gefällt. Zumal es häufiger vorkommt, dass der Imam seinen Kontakten vorschlägt, doch nach Spanien zu kommen.

In dieser Folge des Ermittlungsblogs werde ich einige der Fälle durchgehen, die den spanischen Ermittlern am verdächtigsten vorkommen. Sie sind ziemlich unterschiedlich, und nicht alle sind so gut dokumentiert wie der Fall Habiba A.

Drei Fälle aus Deutschland

Habib: Abu Adam telefoniert mit einem Mann namens „Habib“ in Deutschland. Der habe seinerseits mit zwei Leuten in Kontakt gestanden, die mit nach Syrien gegangen seien, heißt es in den Akten. Daraufhin hat Habib offenbar eine Aufenthaltsbeschränkende Maßnahme auferlegt bekommen. Mehr erfährt man nicht. Ich habe versucht, Habib zu erreichen, um mehr über die Natur der Beziehung herauszufinden, aber das hat nicht geklappt.

Daniel: Abu Adam telefoniert mit einem Mann namens „Daniel“, ebenfalls in Deutschland. Daniel  sagt, er habe ein gutes Leben, eine Unterkunft, einen Gebetsteppich. Man solle nicht danach streben, den Menschen zu gefallen, sondern Gott. Mehr erfährt man nicht. Auch Daniel habe ich nicht erreichen können.

Karim: Abu Adam telefoniert mit einem Mann namens „Karim“, der ihn mit „Meister“ anspricht. Auch ihm sind offenbar Maßnahmen auferlegt worden, die seine Bewegungsfreiheit einschränken. Offenbar sprechen die beiden über die Möglichkeit einer Ehe, die man zu dem Zweck schließen könnte, dass er reisen kann. Abu Adam sagt, es wäre ihm ein Vergnügen, mit ihm zusammen nach Spanien zu reisen. Die Ermittler schreiben, die halten Karim für einen „prototypischen Schüler Abu Adams“, ein junger, muslimischer, radikaler Deutscher, der offenbar erwäge, im Ausland im Dschihad zu kämpfen. Auch Karim konnte ich nicht erreichen, um nachzufragen.

Zu allen drei Männern befragt, erklärt Abu Adam in seiner Vernehmung den Akten zufolge, er kenne sie nicht. Warum er das sagt, verstehe ich nicht. Will er sie schützen? Sich schützen? Erinnert sich nicht? Hier bleiben einstweilen Fragen offen. Der Leipziger Anwalt Abu Adams erklärte dazu, dass die Familie dabei sei, entlastendes Material aus eigenen Unterlagen zusammenzustellen, dies aber der Umstände halber schwierig sei. Sobald es zusammengestellt sei, wäre die Familie bereit, es so weit möglich mitzuteilen.

Wer ist der Scheich? 

Abou El Khouloud: Die Ermittler schreiben, die Analyse von Abu Adams Telefonaten mit Dritten habe ergeben, dass Abou El Khouloud ein radikaler Islamist sei, der entweder zum IS oder einer ähnlichen Gruppe gehöre, an logistischen Aktivitäten zugunsten seiner Gruppe im Irak teilgenommen habe und Abu Adam eng verbunden sei. In der Vernehmung sagt Abu Adam, er habe keine Ahnung, wer Abou El Khouloud sei.

Fürstenfeldbrück: Abu Adam habe in Fürstenfeldbrück in einer Moschee Kontakt zu einer Gruppe Mädchen gehabt, schreiben die Ermittler, die ihrerseits Leute kannten, welche dem IS nahestehen und zum Kämpfen nach Syrien wollten. In der Vernehmung dazu befragt, sagt Abu Adam, er habe keinen solchen Kontakt gehabt. Andererseits gibt es in den Akten eine Passage aus einem abgehörten Telefonat, in dem Abu Adam sagt, er habe sich „eingemischt“, um die Töchter einiger Personen „zu beschützen“, weil diese nach Syrien hätten reisen wollen. Ich vermute, dass es sich um denselben Vorgang handelt, da er anscheinend ebenfalls in Fürstenfeldbrück spielt.

Georgous P.: Hier geht es um einen jungen Mann, der sich offenbar von Deutschland aus zum IS aufgemacht hat. In den Akten tauchen zwei abgehörte Telefonate mit Journalisten auf, aus denen hervorgeht, dass Abu Adam den Mann gekannt hat. Mehr erfährt man nicht. In seiner Vernehmung bestätigt Abu Adam, dass er den Mann kennt und erwähnt eine „radikale persische Braut“. Abu Adams Ehefrau sagte mir, dass ihr Mann mehrere ausreisewillige Radikale der Polizei gemeldet habe, darunter Georgous P. Ein Beleg dafür werde gesucht. (Ich liefere diesen und andere Belege nach, wenn/sobald sie mich erreichen.)

Mohammed I.: In der Vernehmung fragen die Ermittler Abu Adam nach einem Marokkaner dieses Namens, der in Alicante gelebt habe (also in der Nähe der Teilzeit-Residenz von Abu Adam), und der sich dem IS angeschlossen habe. Ja, bestätigt Abu Adam, er kenne ihn, der Mann sei tot. Zuvor sei er „Schüler an der Moschee in Alicante“ und sehr radikal gewesen. Weitere Informationen gibt es nicht.

Abdallah Al-Muslih: Dieser Mann habe Verbindungen zu Terrorgruppen im Irak, schreiben die Ermittler. Dazu befragt, sagt Abu Adam in der Vernehmung, es handle sich um einen Imam, der ab und zu nach Deutschland komme. Es habe aber seit sechs Jahren keinen Kontakt zwischen ihnen gegeben. Welcher Natur der Kontakt vorher war, darüber gibt es in der Aussage keine Auskunft. Ich bin mir noch nicht abschließend sicher, ob es sich um diesen Imam handelt, aber falls ja, dann hat er offenbar in einer Fernsehshow Selbstmordattentate für unter bestimmten Ansichten als akzeptable Taktik bewertet. Anderenorts soll sich Al-Muslih gegen Terrorismus positioniert haben, das habe ich noch nicht verifizieren können.

Zwei Fälle, die gar nicht in den spanischen Akten stehen

Morgen, am Donnerstag, erscheint in der ZEIT eine Geschichte über einen deutschen Dschihadisten, der beim IS zum Folterknecht aufgestiegen ist und mutmaßlich auch für mehrere Morde verantwortlich ist. Der Mann heißt Martin Lemke, er stammt aus Sachsen-Anhalt und hat eine Zeit lang in Sachsen gewohnt.

Auch Martin Lemke hatte mit Abu Adam Kontakt. Das ist ein Ergebnis meiner eigenen Recherchen und steht nicht in den spanischen Akten.

„Hatte gerade ein sehr nettes Gespräch mit Imam Abu Adam Shashaa“, schreibt Lemke am 7.1.2013 auf seiner Facebook-Seite. Etwas über eine Woche davor hatte er noch geschrieben, dass er bereit sei, für seine Religion zu sterben. Martin Lemke ist also zu diesem Zeitpunkt schon extrem radikal, wenn auch noch nicht als IS-Anhänger oder -Mitglied in Erscheinung getreten. Das wird noch über anderthalb Jahre dauern. Erst im November 2014 reist er nach Syrien; wenige Monate davor dockt er an das Netzwerk des Hildesheimer Scheichs Abu Walaa an, der sich derzeit vor Gericht wegen IS-Mitgliedschaft verantworten muss und Lemke den Weg ins „Kalifat“ geebnet haben soll.

Nach meinen Recherchen und denen meiner Kollegen Christian Fuchs und Holger Stark suchte Lemke damals Abu Adams Rat wegen Eheproblemen. Sicher ist, dass Lemkes Ehefrau sich im Laufe des Jahres 2013 von ihm trennte, weil sie nicht akzeptierte, dass er eine Zweitfrau wollte. Es ist also durchaus möglich, dass es um Beratung in dieser Frage ging. Die Sicherheitsbehörden haben diese Information offenbar nicht, jedenfalls findet sie keine Erwähnung. Stattdessen schreiben sie, es sei nicht auszuschließen, dass – neben anderen Imamen und Predigern – auch Abu Adam einen Anteil an der ideologischen Entwicklung Lemkes habe; allerdings scheint es für diese Hypothese keine Belege zu geben.

Bereits im Oktober dieses Jahres hat mein Kollege Daniel Müller die Geschichte eines Zwillingspaares aus NRW aufgeschrieben, die sich dem IS anschlossen und als Selbstmordattentäter im Irak starben. Auch hier bin ich auf eine Verbindung zu Abu Adam gestoßen. Einer der beiden Zwillinge, Kevin, reiste von März bis April 2014 nach Kuwait. Er wolle sein Arabisch verbessern, hatte er gesagt. Auf seinem Handy fanden Ermittler später zahlreiche Bilder von Sehenswürdigkeiten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Reise etwas anderes war als ein Studientrip.

Abu Adam hat diese Reise offenbar organisiert. Das belegen SMS an Kevin, in denen Abu Adam ihn auffordert, einen gültige Passkopie zu schicken. Außerdem teilt Abu Adam mit, dass er eine WhatsApp-Gruppe namens „Gruppe A Kurs Darul Quran Kuwait“ einrichten wolle. Möglicherweise also eine Chatgruppe, in der sich die Teilnehmer des Arabischkurses austauschen können. (Darul Quran, ‚Haus des Korans‘, ist der Name des Moscheevereins, hinter dem Abu Adam steht.)

Juli 2014, drei Monate nach seiner Rückkehr, reist Kevin mit seinem Bruder zum IS. Später finden Ermittler bei einem der Gefolgsleute Abu Walaas, mit dem die Zwillinge zu tun hatten, einen handschriftlicher Zettel. Darauf folgende rätselhafte Notiz: „Alibi Studium Kuwait“. Die Ermittler vermuten, damit könnte gemeint sein, dass der Kurs eine Art Vorbereitungsphase für eine spätere Ausreise gewesen sein könnte. Belege gibt es dafür aber nicht. Auch nicht in die Verstrickung Abu Adams in diesen möglichen Plan.

Wie gesagt: Wegen der Untersuchungshaft ist es derzeit nicht möglich, Abu Adam dazu zu befragen. Sobald das möglich sein sollte, werde ich das nachholen.

Der Fall Amina 

Ich beschließe diesen Post mit einem besonders dramatischen Fall. Er dreht sich um eine junge Frau namens Amina, die psychisch labil ist und in deren Umfeld es nach meinen Informationen Ausreisen nach Syrien gegeben hat. Die spanischen Ermittler halten sie für extremistisch und glauben, dass Abu Adam auch sie nach Spanien verbringen wollte. Abu Adam macht geltend, dass er zu der Zeit, in der der Vorgang spielt, gerade dabei war, Amina zu deradikalisieren.

In den Akten wird aus Telefonaten zwischen den beiden zitiert. Sie verliere den Verstand, sagt Amina, sie plane ihren Weg zum IS. Du kannst zu mir kommen, wir finden einen Weg, sagt Abu Adam.

Im Januar 2016 eskaliert die Lage. Ein Mann, mit dem Amina sich eingelassen hat, will sie offenbar zwingen, sie zu heiraten. Er ist allem Anschein nach ein durchradikalisierter IS-Anhänger. Er schließt Amina ein. Heimlich ruft sie Abu Adam an.

Ich hatte Gelegenheit, einige gespeicherten WhatsApp-Sprachnachrichten anzuhören. Im Folgenden Auszüge:

Amina schildert, dass sie in der Wohnung festsitze. Der Mann habe „nur Dawla im Kopf“. Dawla, arabisch für „der Staat“, ist ein Begriff, der oft für den IS verwendet wird. Der Mann habe auch Abu Adam für vogelfrei erklärt, weil der gegen den IS sei.

„Du Arme“, antwortet Abu Adam, „dein Glück ist scheiße.“ Sie müsse befreit werden, fährt er fort. „Mit Polizei, mit alles. Die mit Dawla im Kopf sind beschissene Menschen, die haben keine Gefühle.“

„Der ist voll stark“, sagt Amina. „Und er hat hier so eine Axt.“

„Ich komme mit der Polizei“, sagt Abu Adam. „Dich abholen und tschüss! Ich kann nichts gegen deinen Willen machen.“

„Ich habe Angst, dass er meinen Kopf abschneidet“, sagt Amina.

„Er wird überrascht … Schreib mir das alles, Adresse, und lösche das, bevor er kommt. Und ich mache meine Arbeit!“

Amina schickt ihm noch ein Foto mit einer Fahne, die sie an der Wand entdeckt hat, und fragt, ob das die Flagge des IS sei.

Als Nächstes wendet Abu Adam sich an Claudia Dantschke von der Beratungsstelle Hayat: Es gebe ein Problem mit einem „deradikalisierten Mädchen“. Er bittet, dass Dantschke ihm die Nummer einer zuständigen Polizeidienststelle in NRW besorgt.

In den spanischen Akten dann die Fortsetzung, nämlich Abu Adams Anruf bei der Polizei: „Amina wird von ihrem Ehemann bedroht, die Leute, mit denen er zu tun hat, sind IS.“ Er kenne sich damit aus, er beschäftige sich mit Deradikalisierung und arbeite mit solchen Leuten.

Am Tag darauf schreibt Abu Adam eine Nachricht an Claudia Dantschke: Amina sei befreit. (Ob durch die Polizei oder auf welche Weise genau, das weiß ich nicht.)

Obwohl der gesamte Vorgang mehr oder weniger auch in den spanischen Akten bekundet ist, betrachten die Ermittler ihn vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass sie Amina für radikal halten, dass Abu Adam ihr Hinweise gegeben hat, wie sie vertraulich kommunizieren kann und dass er mit ihr und mit seinem deutschen Anwalt darüber spricht, ob sie nicht zum Zwecke der Deradikalisierung nach Spanien kommen könne.

Wie lautet das Fazit dieser Folge? 

1. Abu Adam hat sich in seiner Vernehmung entweder gar nicht zu den Vorhalten geäußert oder so, dass es nicht ausreichend war, jeden Verdacht auszuräumen, es könne um etwas anderes als Deradikalisierung gegangen sein.

2. Der Fall Habiba A. zeigt, dass Abu Adam eine Tendenz hat, sich zu überschätzen. Es liegt eine ziemliche Anmaßung darin, wenn man jemanden, der eine gewisse Zeit beim IS verbracht hat, einfach nach Europa zu holen versucht. (Ob das strafbar ist, ist noch mal eine andere Frage.)

3. Die Kontakte und die Umstände der Kontakte zu den späteren IS-Terroristen Lemke und Kevin sind erklärungsbedürftig. Warum organisierte Abu Adam eine Kuwait-Reise? Wer ist mitgefahren? Was ist dort geschehen? Hat das Abu-Walaa-Netzwerk die Studienreise heimlich als Test für die spätere Ausreise Kevins genutzt? Wusste Abu Adam, dass Kevin mit dem Abu-Walaa-Netzwerk in Kontakt stand?

4. Abu Adam macht geltend, dass er zwar oft mit vom IS beeinflussten Personen zu tun hatte, aber nur, um sie zu deradikalisieren. Es wäre hilfreich, wenn es mehr Belege dafür gebe, dass er, wie zum Beispiel im Fall Georgous P. behauptet, tatsächlich die Polizei eingeschaltet hat.

5. Der Fall Amina, der gut dokumentiert ist, belegt indes, dass Abu Adam mindestens einmal tatsächlich die Polizei eingeschaltet hat, und das sogar in einem Fall, in dem das vermutlich auch notwendig war. (Der Fall enthält zudem eine klare und nicht öffentlich gefallene Positionierung gegen den IS.)

6. Abu Adam scheint gerne Leute um sich zu scharen, jedenfalls fällt öfter der Vorschlag, doch auch nach Spanien zu kommen. Ich verstehe das Unbehagen der spanischen Ermittler. Ich vermute, dass ein Teil ihrer Anschuldigung, Abu Adam ziehe klandestin ein Netzwerk auf, damit zusammenhängt.

7. Zugleich habe ich in den Telefonaten, aus denen die spanischen Ermittler zitieren, keine Äußerung Abu Adams finden können, in der er den IS gutheißen würde.

Dabei will ich es für heute belassen. Ich werde aber sicher noch mal auf den einen oder anderen Fall zu sprechen kommen.

Für Freitag plane ich eine Folge, in der ich mich mit ersten Reaktionen auf dieses Blog befassen will.


Haben Sie Hinweise oder Informationen, die für diese Recherche hilfreich sein könnten? Schreiben Sie an yassin.musharbash@zeit.de


Bisher erschienene Teile dieses Ermittlungsblogs: 

„Ein Imam unter Verdacht“

„Der Fall Peter“

„Was bedeutet: ‚um sie zu beruhigen‘?“

 

Was bedeutet „um sie zu beruhigen“?

Menschenhandel, Terrorfinanzierung, Propaganda: Die Vorwürfe spanischer Ermittler gegen den Leipziger Imam Abu Adam sind heftig. Und die Recherche ist kompliziert. Folge 3 unseres Ermittlungsblogs

Von Yassin Musharbash

Hesham Shashaa alias Abu Adam

 

Nimmt nicht ab.

Nummer nicht vergeben.

Nimmt nicht ab.

Zur Zeit nicht erreichbar.

E-Mail unbeantwortet.

Nimmt nicht ab.

Nimmt nicht ab.

„No one is available to answer your call right now.“

Viele Personen, die etwas über den Fall Abu Adam wissen könnten, sind nur schwer oder gar nicht erreichbar: Etliche seiner angeblichen Spender zum Beispiel, die in verschiedenen Golfstaaten leben. Und ebenso die jungen Männer, die dem IS nahestehen sollen sollen, und deren Kennverhältnisse zu Abu Adam den spanischen Ermittlern so brisant vorkommen, dass sie den Leipziger Imam seit Ende April in Untersuchungshaft halten.

Ein Lichtblick deshalb, dass die Kollegin Lea Frehse aus dem Politik-Ressort der ZEIT sich letzte Woche einen halben Tag Zeit genommen hat, um mit mir die zentralen Passagen der spanischen Ermittlungsakten noch einmal genau durchzugehen. (Ich muss ansonsten mit Latinum, Google Translate, einem Volkshochschulsemester Spanisch und Nachfragen bei Spanisch sprechenden Bekannten zurechtkommen.)

Bis jetzt habe ich in diesem Ermittlungsblog Abu Adam vorgestellt (lesen Sie Teil 1 hier) und seine Beziehung zu dem jungen Deutschen Peter beschrieben (lesen Sie Teil 2 hier). Aber es gibt  noch viel zu tun. Ist Abu Adam ein glaubwürdiger Kämpfer gegen den Extremismus, ein im Verborgenen wirkender radikaler Aufwiegler, oder irgendetwas dazwischen?

Heute will ich einen Überblick über die Vorwürfe gegen Abu Adam geben, wie sie sich aus den Teilen der spanischen Ermittlungsakten ergeben, die ich kenne. Ob die Unterlagen vollständig und aktuell sind, weiß ich nicht. Das weiß auch der deutsche Anwalt von Abu Adam nicht, weil er mangels Zulassung in Spanien gegenüber den Behörden dort kein Recht auf Akteneinsicht geltend machen kann. In Spanien hat Abu Adam erst seit Kurzem überhaupt einen Anwalt, der sich aber noch einarbeitet.

Trotzdem ist es möglich, die wichtigsten Verdachtsmomente zusammenzufassen.

In einem Dokument des Ermittlungsgerichts listen die Ermittler unter der Rubrik „unterstellte Verbrechen“ zunächst Folgendes auf:

  • Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung IS (wörtlich: „integración en“, was man eventuell noch treffender mit „Einbindung in“ übersetzen kann)
  • Terrorverherrlichung und Indoktrination
  • Terrorfinanzierung

Dann heißt es etwas ausführlicher, es sei „als Ergebnis der bisherigen Aktionen bestätigt worden“, dass Hesham Shashaa (so Abu Adams bürgerlicher Name) eine Organisation mit Sitz in Alicante gegründet habe, die als „Zufluchtsort, Transitort oder Basis für Operationen oder logistische Versorgung“ für Rückkehrer des IS aus Syrien oder dem Irak dienen solle, welche gemäß den Richtlinien des IS das Ziel hätten, terroristische Anschläge in Spanien oder auf europäischen Boden zu verüben. Absicht dieser Organisation sei es wohl zudem, junge Muslime zu manipulieren, um sie später als Führer zu islamistische Gruppen „wie IS, Al-Kaida oder Dschabhat al-Nusra zu entsenden“.

Und weiter: Die Ermittlungen hätten ergeben, dass man Abu Adam „als eingebunden in die Struktur des IS“ betrachten könne – als ein Mitglied außerhalb der Konfliktgebiete, das in der Lage sei, muslimische Communitys in Europa zu erreichen.

Er habe zudem selbst gesagt, dass er für die Terrororganisationen „Al-Kaida, Injes und Najda arbeite“. (Ich habe keine Ahnung, wer oder was mit Najda und Injes gemeint sein könnten.) Und er soll zu Dschabhat al-Nusra gehören und die Gruppe unterstützen.

Es folgt der Vorwurf des Menschenhandels.

Außerdem verfüge Abu Adam über erhebliche finanzielle Mittel, die er einsetze, um „Bereiche des internationalen, islamistischen Terrorismus sowie diverse Ideen zu finanzieren, die die Anwendung von Gewalt rechtfertigen“.

Er habe in sozialen Medien extremistische Videos geteilt, um Terrorismus zu lehren und zu verherrlichen.

Es werden mehrere Kontakte zu mutmaßlichen IS-Mitgliedern aufgezählt.

Und schließlich habe Abu Adam sich verdächtig gemacht, weil er Habiba A. mitsamt ihrer Familie aus Rakka (damals noch Hauptstadt des IS in Syrien) nach Spanien verbracht habe.

Ich glaube, es ist am sinnvollsten, die Vorwürfe in zwei Gruppen zu teilen: solche, die offensichtlich schwerwiegend und recherchenwürdig sind; und andere, die eher Missverständnissen geschuldet sein dürften, nicht schlüssig sind oder angesichts der übrigen Verdächtigungen so wenig ins Gewicht fallen, dass es nicht lohnt, sie zeitraubend zu untersuchen.

Die folgenden Vorwürfe werde ich in kommenden Folgen einzeln durchgehen:

  • Kontakte zu mutmaßlichen IS-Mitgliedern und mutmaßliche Mitgliedschaft beim IS
  • Geldflüsse und angebliche Terrorfinanzierung
  • Terrorpropaganda und soziale Medien

Auf einige andere Vorwürfe werde ich keine eigenen Blogposts verwenden, weil  die Beweislage meiner Meinung nach dürftig ist. Diese werde ich an dieser Stelle kurz betrachten.

Da ist zum Beispiel der Vorwurf des Menschenhandels. Es geht dabei, wo weit ich sehen kann, um ein abgehörtes Telefonat aus dem Oktober 2016, in dem Abu Adam mit einem Mann namens Amar spricht und diesem empfiehlt, eine „junge, arme Frau marokkanischer Abstammung zu suchen“, sodass er der Familie lediglich 200 Euro zahlen müsse. Er selbst habe das so gehandhabt.

Abu Adams Ehefrau (die ich auf ihre Bitte hin nicht namentlich nenne) behauptet, dass es sich bei dem Gespräch um das Thema Mahr drehte, also das traditionelle Brautgeld, das bei einer islamischen Eheschließung in den Besitz der Ehefrau übergeht. Weil Frauen in Europa heutzutage oft sehr hohe Beträge verlangten, habe Abu Adam seinem Gesprächspartner vorgeschlagen, sich eine marokkanische Frau aus armer Familie zu suchen, die nicht mehr als 200 Euro verlangen würde. Solch einen Vorschlag würden die meisten Leser vermutlich nicht nachahmenswert finden (ich auch nicht); es erscheint mir aber plausibel, dass das Gespräch so gemeint war. Ob dass den  Tatbestand des Menschenhandels erfüllt (solange keine weiteren Verdachtsmomente hinzukommen), kann man anzweifeln.

Es erscheint mir auch etwas weit hergeholt, Abu Adam die Unterstützung von (beziehungsweise Mitgliedschaft bei) IS, Al-Kaida und Dschabhat al-Nusra zugleich vorzuwerfen. Die drei Terrorgruppen sind untereinander verfeindet. Zum Teil haben sie gegeneinander gekämpft oder tun das noch.

Sehen wir uns die Begründung der Ermittler an. Woher kommt der Vorwurf, Abu Adam „arbeite für Al-Kaida“? Auch er ergibt sich den Akten zufolge aus einem abgehörten Telefonat. Im Januar 2016 hat Abu Adam demnach zu einem Mann namens Saad gesagt:

„Ich habe einen Job, einen sehr sehr speziellen Job, der an vielen Orten stattfindet (…) Ich arbeite für („para“) Al-Kaida, Injes und Najda, arbeite daran („para“), sie zu beruhigen.“

Die Ermittler notieren dazu, dass sie den Begriff  „sie zu beruhigen“ (im spanischen Original „para tranquilizarlos“) folgendermaßen interpretieren: Aufgaben ausführen, die es ihnen ermöglichen, Ressourcen zu dem Zweck zu erhalten, ihre gegenwärtigen oder künftigen Aktivitäten weiterzuentwickeln (…) .“

Auch das finde ich nicht zwingend. Warum soll „beruhigen“ nicht einfach genau das bedeuten: beruhigen?

Und woher rührt der Vorwurf, Abu Adam habe eine Verbindung zu Dschabhat al-Nusra? Ausweislich der Akten gründet er auf einem Facebook-Kommentar Abu Adams aus dem Herbst 2015. Abu Adam hatte damals eine Meldung des arabischen Satellitensenders Al-Arabiya verlinkt und darüber einen Kommentar gesetzt. In der Meldung von Al-Arabiya ging es darum, dass syrische Oppositionskämpfer Waffen an die aus Al-Qaida hervorgegangene dschihadistische Gruppe Dschabhat al-Nusra abgegeben hätten.

 

Der Facebook-Kommentar, auf den sich die Ermittler stützen

 

Die spanischen Ermittler haben Abu Adams Kommentar aus dem Arabischen ins Spanische übersetzt. Die wörtliche Übersetzung aus dem Spanischen ins Deutsche lautet so:

„Nein … aussprechen und (die Welt) verändern … wir glauben … in Wahrheit verdienen wir, ‚Dschabhat al-Nusra‘, die Führer zu sein.“

Ich schrieb ja eingangs, dass ich nicht fließend Spanisch verstehe. Aber ich bin studierter Arabist. Und ich habe den Facebook-Kommentar von Abu Adam mit meinem Kollegen Mohamed Amjahid besprochen, der arabischer Muttersprachler ist. Wir finden beide, dass die Übersetzung aus dem Arabischen fehlerhaft ist. Richtig ist:

„Nein … ihr ändert eure Meinung … wir haben euch geglaubt … es stimmt, wir verdienen etwas Besseres (oder: mehr).“

Es erschließt sich zwar nicht, was Abu Adam gemeint hat, der Kommentar bleibt kryptisch. Aber das Wort Dschabhat al-Nusra taucht darin gar nicht auf. Es sind die spanischen Ermittler, die das „wir“ in dem Kommentar so interpretieren und den Namen der Gruppe ergänzt haben. Warum, das erklären sie nicht.

Ich plädiere dafür, den Verdacht, Abu Adam sei Mitglied von Al-Kaida und Dschabhat al-Nusra, einstweilen zur Seite zu legen: Die Belege der spanischen Ermittler sind mir zu dünn. (Ob Teile von Abu Adams Gedankenwelt sich mit den Ideologen solcher Gruppen überschneiden, ist eine andere Frage, auf die ich auch noch eingehen werden.)

Als nächstes werde ich mich am Mittwoch in der vierten Folge einem Verdacht zuwenden, für den es substanziellere Belege gibt: Abu Adams angebliche Kontakte zu IS-Mitgliedern.


Haben Sie Hinweise oder Informationen, die für diese Recherche hilfreich sein könnten? Schreiben Sie an yassin.musharbash@zeit.de

 

Der Fall Peter

Einst hielt der Leipziger Imam Abu Adam den jungen Deutschen Peter davon ab, in den Krieg zu ziehen. Jetzt sitzt er selbst als Terrorverdächtiger in Untersuchungshaft.  Folge 2 unseres Ermittlungsblogs.

Von Yassin Musharbash

 

Islamismus: Der Fall Peter
Hesham Shashaa alias Abu Adam

„Ich habe bemerkt, dass sie mich beobachten“, tippt der junge Mann in sein Handy. „Von allen Seiten.“

Wer sind ‚die‘? Und was heißt das: ‚von allen Seiten‘?

„Immer wieder dieselben Personen, die an meinem Haus vorbeilaufen und schauen“, antwortet der junge Mann. „Auch Polizeiautos, die regelmäßig schauend vorbeifahren, die Polizisten mustern mich aus dem Auto heraus. Und ich hatte das Gefühl, dass Leute sich an mich angekoppelt haben, und dass man über mich befragt wurde.“

Der junge Mann, mit dem ich chatte, ist Peter, Mitte Zwanzig, Deutscher. Eigentlich heißt er anders. Aber als ich vor fast drei Jahren das erste Mal mit ihm sprach und für die ZEIT eine Reportage über ihn schrieb, bat er mich, ihm einen fiktiven Namen zu geben. Auch jetzt möchte er nicht, dass sein wahrer Name genannt wird.

An die 1000 Männer und Frauen sind den vergangenen Jahren aus Deutschland ausgereist und nach Syrien oder in den Irak gezogen; viele haben sich der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) angeschlossen. Peter wäre fast einer von ihnen geworden: „Ich hatte diesen Traum, einmal sagen zu können: Ich bin seit dreißig Jahren auf dem Schlachtfeld!“, sagte er mir 2014.

Aber er setzte seinen Plan nicht um. Und der Mann, der ihn davon abhielt, das sagt Peter selber, ist der Leipziger Imam Hesham Shashaa alias Abu Adam – der Mann mithin, um den sich dieses Blog dreht (Lesen Sie Teil 1 hier). Die Geschichte von Peter galt als Beleg dafür, dass Abu Adam etwas kann, was nicht viele Menschen können: Extremisten erfolgreich deradikalisieren.

Genau das steht freilich auf einmal in Frage. Genau genommen seit dem 26. April, dem Tag, an dem Abu Adam in Spanien wegen des Verdachts verhaftet wurde, den IS in Wahrheit zu unterstützen.

In den Akten der spanischen Justiz wird nun auch Peter als „Dschihadist“ charakterisiert. Die Ermittler halten es demnach für möglich, dass Peter doch in Syrien gewesen sei, auch wenn sie dafür keine Belege aufbieten. Sie bezeichnen ihn als „investigado“, was darauf hindeutet, dass auch gegen ihn ermittelt wird. In seiner Abwesenheit, das ist ebenfalls aktenkundig, haben die Ermittler seine Wohnung durchsuchen lassen.

Es ist also nicht abwegig, wenn Peter glaubt, ausgeforscht zu werden.

In dieser Folge des Blogs wird es um Peters Fall gehen. Und um alles, was daran hängt. Denn an dem Versuch, Peter zu deradikalisieren, war nicht nur Abu Adam beteiligt. Sondern auch
Claudia Dantschke, die Leiterin der Berliner Deradikalisierungs-Initiative Hayat.(*) Sowie Solveig Prass von der Beratungsstelle zu negativen Sekten und Kulten und extremistischen Gruppen, einem Projekt der Kinderveinigung Leipzig e.V., das bei der städtischen Jugendförderung angesiedelt ist. Und indirekt spielt auch noch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eine Rolle.

Alle stehen nun in der Kritik. Hayat habe den Fall Peter „offensichtlich nicht ausreichend kontrolliert“, moniert der MDR und problematisiert die Tatsache, dass die Initiative auch Steuergelder erhält. Hayat habe Abu Adam „labile Jugendliche anvertraut und viel Geld dafür bezahlt – Steuergeld“, empört sich der Bayerische Rundfunk.

Was genau ist passiert?

Der Fall „Peter“ beginnt damit, dass seine Mutter sich 2014 an den Verfassungsschutz wendet. Sie ahnt, dass er sich radikalisiert hat. Sie sucht Hilfe. Über den Verfassungsschutz kommt der Fall zur „Beratungsstelle Radikalisierung“, die im BAMF angesiedelt ist und den Kontakt zu jenen Deradikalisierungs-Projekten koordiniert, mit denen das BAMF zusammenarbeitet. Weil Peters Mutter in Sachsen lebt, und Hayat in dem Bundesland aktiv ist, landet der Fall dort.

„Ich sehe es in ihren Augen…“

„Wir haben dann erstmal eine Fallanalyse gemacht“, sagt Claudia Dantschke, die Leiterin von Hayat. „Der junge Mann war eng in eine radikale und zugleich kleinkriminelle Szene in einer westdeutschen Großstadt eingebunden. Er orientierte sich sehr eng an dem einschlägig bekannten Imam dieser Gruppe. Wir fanden, dass er hochgradig gefährdet war.“ Schnell sei man sich einig gewesen über das erste Ziel: Peter von der Szene zu isolieren.

Allerdings sei nirgendwo jemand zu finden gewesen, der Peter hätte stabilisieren können. Aus verschiedenen Gründen seien zum Beispiel die Mutter und Geschwister nicht in Frage gekommen, sagt Dantschke. Daraufhin reifte bei Hayat der Gedanke, dass vielleicht Abu Adam geeignet wäre, an die Stelle des radikalen Imams zu treten.

Und warum ausgerechnet Abu Adam?

Claudia Dantschke kannte Abu Adam damals schon gut zwei Jahre. Sie hatte ihn kennengelernt als einen orthodoxen, konservativen, aber dezidiert nicht-radikalen Islamgelehrten. „Ich habe ihn zwei Jahre lang intensiv geprüft“, sagt sie. „Ende 2013 habe ich ihn besucht, habe alle seine Frauen und alle seine Kinder kennengelernt. Ich habe ein langes Interview mit ihm zum Thema Deradikalisierung und zu seiner Art, das anzugehen, gemacht. Wir hatten einen ähnlichen Ansatz. Dass es vor allem auf stabilisierende Beziehungen ankommt, zum Beispiel.“

Abu Adam hatte sich tatsächlich schon Jahre zuvor zum Deradikalisierer erklärt. Die Moscheegemeinde in München, die er gegründet hatte, beschäftigte ihn als Anti-Extremismus-Beauftragten, was er offiziell bis heute ist. (Der Arbeitsvertrag liegt mir vor.) Die Spuren einiger Auseinandersetzungen, die Abu Adam in jenen Jahren anzettelte, lassen sich bis heute nachzeichnen. Auf Facebook attackierte er etwa regelmäßig Al-Qaida. Er schloss nach islamischem Recht eine Ehe zwischen einem Sunniten und einer Schiitin, was ihm harsche Kritik eines radikalen Imams einbrachte.

Im Moment ist es wegen der Untersuchungshaft nicht möglich, Abu Adam zu befragen. Aber als ich ihn 2014 traf, antwortet er auf meine Frage, wie er das mit dem Deradikalisieren mache, so: „Ich sehe es in ihren Augen, wenn sie radikal werden. Vor der Moschee zum Beispiel.“ Dann verwickele er sie in Gespräche, lasse sie spüren, dass er viel mehr Wissen über ihre Religion habe als sie. Dass sie einem Irrglauben aufgesessen seien, wenn sie dächten, es käme aufs Kämpfen an. Oder dass man keinen Kontakt zu Ungläubigen haben dürfe.

Nach und nach erreichten Abu Adam vermehrt Anfragen, als Referent über die Themen Islam, Islamismus und Radikalisierung zu sprechen. Anfang Juli 2014, just zu der Zeit, als der Fall Peter an Fahrt aufnahm, saß er etwa auf einer Fachtagung der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn auf dem Podium. Teilnehmer hätten ihr gesagt, er habe eine „glänzende Figur“ gemacht, erinnert sich Dantschke.

Mit Abu Adam stand in Dantschkes Augen also auf der einen Seite jemand bereit, der theologisch versiert war, keine Berührungsängste mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft hatte, sich öffentlich für Dialog und gegen Extremisten aussprach – und, eine weitere wichtige Zutat, über spürbares Charisma verfügte. Auf der anderen Seite gab es einen Radikalisierungs-gefährdeten jungen Mann, der sich an männlichen Autoritätspersonen ausrichtete und dringend aus seinem radikalen Umfeld gelöst werden musste.

„Es lief gut“

„Ich habe also Peters Mutter mit Abu Adam zusammengebracht“, berichtet Dantschke. Drei Stunden hätten die beiden gesprochen. Dann habe die Mutter dem Plan zugestimmt, Peter mit Abu Adam bekannt zu machen. Auch diese Begegnung verlief erfolgreich: Peter war sofort von Abu Adam eingenommen; das sagt nicht nur Dantschke, das hat mir Peter 2014 selbst berichtet. Er stimmte zu, nach Leipzig zu ziehen, um in Abu Adams Nähe zu sein. Damit war das erste Problem, das Herauslösen aus seiner radikalen Umgebung, für den Moment geklärt.

Es gab jedoch weitere Schwierigkeiten, unter anderem finanzielle: Wovon sollte Peter, der Schulabbrecher, leben? Und wo?

Deshalb bezog Dantschke Solveig Prass ein, die sich ihrerseits bemühte, einen Platz in einer Jugend-WG für Peter zu finden. „Ich fand die Entscheidung, Abu Adam einzubeziehen, nachvollziehbar“, sagt Prass heute. Peter sei derart radikalisiert gewesen, dass er zum Beispiel mit ihr als Frau gar nicht reden wollte; Abu Adam habe ihm jedoch klargemacht, „er solle mit mir sprechen, auch wenn ich Christin bin, ich wolle schließlich helfen, das sei doch gut.“ Genauso sei Peter erst auf Abu Adams Drängen hin bereit gewesen, seine islamische Kleidung abzulegen und sich nach gängigeren Maßstäben anzuziehen, wenn er Termine bei Ämtern hatte.

Solveig Prass sagt, auch sie habe Abu Adam keinesfalls als Extremisten kennengelernt. Einmal habe sie mitgehört, wie er einen Anruf bekam: Ein Mann habe wissen wollen, ob es islamisch rechtens sei, wenn er Polizist würde. Ja, habe Abu Adam geantwortet – man müsse dem Land dienen, in dem man lebe. „Da kriegt man schon mit, was er für eine Einstellung hat“, sagt Solveig Prass.

Auch Solveig Prass versteht etwas von Deradikalisierung, es ist Teil ihres Jobs, neben Islamisten hat es sie auch mit Zeugen Yehovas oder Rechtsradikalen zu tun. In ihrem Büro gab es ungefähr zwölf Sitzungen mit Peter zum Zweck der Deradikalisierung. Bei bei den ersten sechs Terminen war Abu Adam dabei. „Es lief gut“, sagt sie im Rückblick.

Im Oktober 2014 allerdings erlitt Peter einen Rückfall. Abu Adam, so berichtet Claudia Dantschke, habe Peter davor bewahren können, sich wieder seiner alter Clique anzuschließen. Aber es war offen, wie es weitergehen sollte. Ein Problem ließ sich in Leizig nämlich nicht lösen: Als mehrfacher Schulabbrecher konnte Peter nicht mehr ins deutsche Schulsystem integriert werden, was ansonsten zu seiner Stabilisierung hätte beitragen können. „Der Deradikalisierungs-Prozess war damals noch extrem brüchig“, sagt Dantschke. Wegen familiärer Probleme sei Peter zudem praktisch obdachlos gewesen.

Abu Adam in Spanien. Das Bild entstand beim Besuch des Autors.

In dieser Zeit kam in Gesprächen zwischen Abu Adam, Solveig Prass und Claudia Dantschke eine neue Idee auf: Was wenn Peter in Spanien zur Schule gehen würde? Denn Abu Adam pendelte damals zwischen Leipzig und einem kleinen Ort nahe Alicante. Einige seiner Kinder besuchten dort eine englischsprachige, internationale Privatschule.

„Schwachsinn, Quatsch“

Der Plan wurde mit Peters Einverständnis umgesetzt, und Abu Adam meldete Peter an der Schule seiner Kinder an. „Die Hoffnung war, dass er dort Freunde finden würde“, sagt Dantschke. „Denn wir hatten durchaus Sorge, dass er sich zu eng an Abu Adam orientierte.“ Deshalb zog Peter in Spanien auch nicht bei Abu Adam ein, sondern eine kleine Wohnung einige Kilometer entfernt.

Kurz nach seinem Umzug nach Spanien habe ich Peter und Abu Adam dort besucht. Peter ging es gut, er war zufrieden. Er haderte allerdings damit, dass er alleine leben sollte. Er hätte gerne mehr Kontakt zu Abu Adam gehabt.

Das sagte er mir damals schon, und darüber hegt er bis heute tiefen Groll. Aus seiner Sicht hat Abu Adam ihn von dem Moment an, als er in Spanien ankam, im Stich gelassen. „Ich halte leider nicht mehr viel von ihm, nachdem er mich so hat sitzen lassen“, schrieb er mir während unseres Chats. Er sei deswegen deprimiert und frustriert gewesen und fühle sich von Abu Adam „als falsch abgestempelt“, als sei er es nicht wert, dass Abu Adam sich um ihn kümmere.

Dass Peter die Loslösung von Abu Adam so empfinden würde, war nicht vorherzusehen gewesen. Der Umzug erschien Prass und Dantschke zunächst einmal als notwendiger Schritt in die richtige Richtung: Weg von seinen alten Kreisen, hin in eine Umgebung, die ihn neuen Einflüssen aussetzte. „Das hat leider nicht so geklappt, wie wir uns das gewünscht hätten“, sagt Dantschke.

Peter behauptet heute, seine Trennung von Abu Adam habe ihn ebenso anfällig gemacht für Radikalisierung als wenn er in Deutschland geblieben wäre. Als aktive Deradikalisierung durch Abu Adam habe er die Zeit Spanien nicht erlebt. Aber er gibt zu, dass seine Verbitterung mit hineinspielt, wenn er das sagt.

Die spanischen Ermittler scheinen den Fall so zu sehen: In ihren Augen ist Peter einer von mehreren jungen Radikalen, die Abu Adam gezielt an sich gebunden habe, um dem Islamismus Vorschub zu leisten. Als Indizien für Peters Extremismus werten sie handschriftliche Dokumente, die sie bei der Durchsuchung sicherstellen. Peter hatte auf Zetteln notiert, dass er für den Fall seiner Beerdigung Abu Adam gerne dabei hätte. Sie fanden eine Liebeserklärung an seine Mutter. Und eine islamische Segensformel, die im Todesfall gesprochen wird. Die spanischen Ermittler schreiben, zusammen mit der Tatsache, dass Peter öfter seine Telefonnummer änderte, ließen die Funde die Theorie zu, dass er seine radikalen Ansichten zu verbergen versuche und ihm Akte vorschwebten, die seinen Tod nach sich ziehen könnten.

Peter sagt dazu, dass er chronisch chaotisch sei und erst seit Kurzem, dank seiner Freundin, eine feste Telefonnummer habe. Dass er immer schon viel über den Tod nachgedacht habe. Und darunter leide, dass er seine Mutter nie zufriedengestellt habe. „Ich war nie in Syrien und ich habe mich nichts und niemandem angeschlossen.“ Den Terrorverdacht gegen Abu Adam hält er für „Schwachsinn“ und „Quatsch“.

Handfestere Hinweise darauf, dass Peter ein Dschihadist ist, gibt es nicht. In den Akten nicht. Und auch sonst nirgendwo, meines Wissens auch nicht bei den deutschen Sicherheitsbehörden. Stattdessen spricht sein derzeitiger Lebenswandel (über den ich keine Details berichte, obwohl sie mir bekannt sind, weil es sich um Privatangelegenheiten handelt) dafür, dass er zwar gläubig, aber gerade nicht mehr extremistisch ist.

Auf die Beratungsstelle Hayat färben der Fall Abu Adam und der Fall Peter trotzdem ab. Aber die Kritik ist unpräzise. Der BR insinuiert, es seien Steuergelder eingesetzt worden, um mit Abu Adam einen Mann einzusetzen, der für Deradikalisierungsprojekte ungeeignet sei. Der MDR wirft Hayat darüber hinaus mangelnde Kontrolle vor.

Richtig ist, dass Dantschke Peter in Spanien nicht besucht hat. „Dafür haben wir auch gar kein Geld“, sagt Dantschke. Sie stand allerdings in stetem Austausch mit Peter und Abu Adam. Sie wusste so durchaus von Peters Schwierigkeiten; aber eben auch, dass er seinen Extremismus abgebaut hatte.

Was das Geld angeht: Abu Adam selbst hat nach übereinstimmender Auskunft von Prass und Dantschke kein Geld erhalten. „Wir haben ihm ein Honorar angeboten, aber er wollte keines“, sagt Dantschke. „Er hat keinen Cent von meinem Verein oder der Stadt Leipzig bekommen“, ergänzt Solveig Prass. „Im Gegenteil, er hat draufgezahlt, er hat nicht mal Fahrtkosten abgerechnet, selbst wenn er aus Spanien angereist ist.“

Hayat hat zwar in vier Raten insgesamt 5.780 Euro an Abu Adam überwiesen, der damit für Peter das Schulgeld in Spanien bezahlte, dieser Betrag kam allerdings nicht aus Steuergeldern, sondern aus Spendenmitteln.** Steuergeld ist also höchstens indirekt geflossen, weil Hayat insgesamt Fördermittel vom Bundesinnenministerium erhält. (Hayat betreut aktuell übrigens 405 Fälle.)

Welche Rolle spielt das BAMF?

Es gab darüber hinaus laut Dantschke keinen weiteren Fall neben Peter, in dem Hayat mit Abu Adam kooperiert hat – auch wenn der BR von „labilen Jugendlichen“  im Plural sprach, die Hayat Abu Adam anvertraut habe, und die Süddeutsche Zeitung schrieb, Hayat habe „mehrmals Jugendliche nach Spanien“ geschickt, „damit Abu Adam sie vom Weg der Gewalt abbringe“. (In der Online-Fassung korrigierte die SZ das später, machte das jedoch nirgendwo als Korrektur kenntlich.)

Aber was ist mit der eigentlichen Gretchenfrage: War Abu Adam in Wahrheit von Vornherein ungeeignet?

Tatsache ist zunächst einmal, dass Claudia Dantschke, nachdem das BAMF den Fall an Hayat abegegen hatte, monatlich an das BAMF berichtet hat. Die Behörde wusste also über die Einbindung von Abu Adam Bescheid.

Ein Sprecher bestätigte das auf meine Anfrage hin auch:

 

Grundsätzlich arbeitet die Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamts vertrauensvoll und eng mit seinen Kooperationspartnern zusammen. Gerade die Expertise und Erfahrung der Kooperationspartner sind enorm wichtig, um in jedem einzelnen Beratungsfall individuelle Maßnahmen, die einer (weiteren) Radikalisierung entgegenwirken, ergreifen zu können: Sie haben direkten Kontakt zu den Hilfesuchenden, erfahren dadurch viel über die sich radikalisierende Person und kennen Maßnahmen und Personen vor Ort mit deren Hilfe ein Umfeld zur Deradikalisierung geschaffen werden kann. Aus diesen Gründen wird die Fallbearbeitung durch die zivilgesellschaftliche Beratungsstelle jeweils eigenverantwortlich und situativ im Sinne des auf den Einzelfall ausgerichteten, individuellen Settings organisiert. Über die ergriffen Schritte unterrichten die Partner im Zuge des Fallmonitorings das Bundesamt in regelmäßigen Abständen. So wurde die Zusammenarbeit von Hayat mit Abu Adam in dem geschilderten Einzelfall im Herbst 2014 mitgeteilt.

Und der Sprecher ergänzt:

Die Tatsache, dass Abu Adam dem salafistischen Spektrum zuzuordnen ist, wurde dem Bundesamt zum Jahreswechsel 2014/2015 bekannt. Unmittelbar danach hat das Bundesamt im Januar 2015 gegenüber Hayat deutlich gemacht, dass es Abu Adam für einen nicht geeigneten Kooperationspartner in der Beratung islamistisch radikalisierter Personen hält. Eine Einbeziehung des Imams Abu Adam in weitere Beratungskonstellationen durch HAYAT ist nach Kenntnis des Bundesamts danach nicht erfolgt.

Das BAMF hat Abu Adam also nachträglich für ungeeignet erklärt. Was war der Grund dafür? Nach meinen Recherchen hat das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz seine Erkenntnisse aus der Zeit vor 2012, als Abu Adam in München lebte, Anfang 2015 mit dem Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen geteilt. Die Sachsen wiederum setzten das BAMF in Kenntnis.

Wenn das stimmt, dürfte es sich im Wesentlichen um jene Erkenntnisse handeln, die ich in meinem Artikel über Abu Adam und Peter im Februar 2015 (inklusive Abu Adams Erwiderung) wiedergegeben habe:

Eine Verfassungsschutzbehörde ordnete ihn 2012 als Salafisten ein. Er lehne die pluralistische Gesellschaft ab, habe wiederholt geäußert, dass eine Frau nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes aus dem Haus gehen dürfe und habe sich während des Gazakriegs 2009 in einer Predigt abschätzig über Juden geäußert. Er wolle einen Gottesstaat, der mit Gewaltenteilung, Rechtsstaat und Parlamentarismus nicht vereinbar wäre. Er habe drei Videos mit extremistischen Inhalten gepostet. Seine Distanzierung vom Extremismus, so hieß es mit Blick auf die bis 2012 gewonnenen Erkenntnisse, sei ‚zu hinterfragen‘.

‚Lügen‘, sagt Abu Adam, ‚bestenfalls Missverständnisse.‘ (…) Frauen dürften das Haus nur mit Einverständnis des Ehemanns verlassen? ‚Das gilt für beide Ehepartner! Sie sollen sich absprechen, wenn einer irgendwohin geht.‘ Die Juden? ‚Ich habe über israelische Soldaten gesprochen, die Kinder ermorden – das ja. Aber ich rede nie schlecht über Christen oder Juden, nie!‘ Und der Gottesstaat? Abu Adam lacht auf. ‚Ich war auf Konferenzen in Ministerien, mit Polizisten, mit Politikern, um gegen Extremismus zu kämpfen! Die SPD lädt mich ein – ich komme. Würde ich das tun, wenn ich diesen Staat hasse?‘ Die Videos schließlich habe er als Provokation gepostet, ‚um die Extremisten aus ihren Löchern zu locken, sie zu stellen‘.

Diese Erkenntnisse aber waren kein Geheimnis, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Abu Adam schon lange umstritten ist. Im öffentlich einsehbaren bayerischen Verfassungsschutzbericht taucht Abu Adams Münchner Moschee zum Beispiel schon 2012 als eine „Plattform“ salafistischer Bestrebungen auf. Bereits 2010 berichtete der Spiegel, Abu Adams Aussicht auf Einbürgerung sei gleich null, weil es „Sicherheitsbedenken“ gäbe.  In demselben Artikel erwähnte der Spiegel allerdings auch schon Abu Adams Arbeit gegen Extremismus und Gewalt – ebenso wie im selben Jahr die New York Times. 

Zeit für ein Zwischenfazit: Was haben wir bis hierhin gelernt, was in Erfahrung gebracht?

  1. Der Verdacht der spanischen Ermittler, Peter sei Teil eines von Abu Adam orchestrierten Extremisten-Rings, lässt sich nicht erhärten
  2. Die Deradikalisierung Peters unter Einbeziehung von Hayat, der Kindervereinigung Leipzig e.V., dem BAMF und Abu Adam ist weder ein strahlender Erfolg, noch ein Desaster
  3. Zwischen den Bedenken, welche die Sicherheitsbehörden gegenüber Abu Adam hegen, und der positiven Wirkung, die Dantschke, Prass und andere ihm zuschreiben, bleibt ein Spannungsverhältnis bestehen.

Der Ausgangspunkt dieses Blogs ist freilich, dass Abu Adam von der spanischen Justiz der Terror-Unterstützung verdächtigt wird. In der nächsten Folge, die am Montag erscheint, wird es deshalb genau darum gehen: Wie lauten die Vorwürfe eigentlich im Detail?

* Im Interesse der Transparenz weise ich darauf hin, dass ich Claudia Dantschke seit 15 Jahren aus meiner journalistischen Arbeit kenne. Als ich im September 2017 mein neues Buch vorgestellt habe, saß Claudia Dantschke auf dem Podium, um dort mit mir über das Thema Dschihadismus zu diskutieren. Im Nachwort meines Buches danke ich Claudia Dantschke außerdem für fachliche Hinweise. 

** Eine Passage aus meinem Text von 2015 muss ich deshalb hier nachträglich korrigieren. Dort stand, Hayat unterstütze Abu Adam mit Honoraren. 


Haben Sie Hinweise oder verfügen Sie über Informationen, die für diese Recherche hilfreich sein könnten? Schreiben Sie an yassin.musharbash@zeit.de

 

Warum Analyse gegen Angst helfen kann

Im Angesicht der Anschläge und Gewalttaten der vergangenen Tage verspüren viele Menschen in Deutschland ein neues Gefühl von Unsicherheit. Das ist nachvollziehbar. Genauso nachvollziehbar ist, dass dieses Empfinden diffus ist: Die Nachrichten überschlagen sich, was zunächst wie ein Terroranschlag erschien, stellt sich plötzlich als Amoklauf dar und andersherum – wieso soll ich da das eine vom anderen überhaupt noch krampfhaft unterscheiden, für mich, als potenzielles Opfer, ändert das doch nichts?!

Mir hilft es trotzdem, wenigstens etwas Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Deshalb die unten stehende Übersicht (Stand Montagnachmittag). Sie beantwortet keine Fragen, aus ihr kann man keine Politik ableiten, und auch nicht, ob man morgen auf das Dorffest, Musikfestival oder Sportevent gehen soll oder besser nicht. Aber sie zeigt, wie unterschiedlich die Gewaltakte dieser fürchterlichen vergangenen Tage waren. Und dass es zum Beispiel zwischen dem Amoklauf von München und dem Axtangriff von Würzburg erhebliche Unterschiede gibt: Im ersten Fall war der Täter psychisch instabil, er war hier geboren, es gibt keinerlei Hinweis auf irgendeine Beeinflussung durch den „Islamischen Staat“ (IS). Ganz anderes Würzburg: Der Täter war ein jugendlicher Flüchtling aus Afghanistan, er bekannte sich zum IS und der IS sich zu ihm, Hinweise auf eine psychische Erkrankung gibt es hingegen nicht.

Es ergibt sich daraus, dass zur Prävention weiterer solcher Taten unterschiedliche Konzepte, unterschiedliche Politiken erforderlich sind. So lässt sich ein wenig Handlungsfähigkeit zurückgewinnen: Denn wir können mehr tun, je genauer wir wissen, womit wir es zu tun haben. Weiter„Warum Analyse gegen Angst helfen kann“