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Die aktuelle Lage im Irak (5)

Vorbemerkung: Dieser Post bildet den Stand von Donnerstag, 19. Juni, 12 Uhr ab.

Schlacht um Baidschi und andere Scharmützel

Der Ort, an dem aktuell wohl die wichtigste Auseinandersetzung stattfindet, scheint die Stadt Baidschi mit der dazugehörigen Ölraffinerie zu sein. Diese Raffinerie ist zentral für den gesamten nördlichen Irak. Die Lage in Baidschi ist allerdings widersprüchlich. Sympathisanten des „Islamischen Staates in Irak und Großsyrien“ (Isis) behaupten, dass die schwarze Flagge der Dschihadisten über der Raffinerie wehe. Regierungsbeamte lassen hingegen verlauten, das Gelände sei von ihnen gesichert. Andererseits gibt es in Sozialen Netzwerken Fotos, die angeblich brennende Teile der Einrichtung zeigen – allerdings ist unklar, von wann genau diese Aufnahmen stammen. Medienberichten zufolge haben Anwohner Schusswechsel gemeldet. Nimmt man alles zusammen, kann man mit hinreichender Gewissheit sagen, dass es Gefechte um Baidschi gibt oder zumindest gestern noch gab. Darüber hinausgehende Aussagen sind schwierig.

In anderen Teilen des Irak scheint es immer wieder zu Gefechten oder Scharmützeln zwischen Regierungssoldaten auf der einen und Isis-Kämpfern auf der anderen Seite zu kommen; darunter sind viele Mittelstädte oder kleinere Orte. Für die angekündigten Großoffensiven gegen Bagdad, Nadschaf und Kerbala sehe ich derzeit keine Anzeichen.

Hingegen verdichten sich die Anzeichen, dass Isis punktuell Bündnisse mit Gruppen des irakischen Widerstandes eingegangen ist – dabei handelt es sich vor allem um sunnitisch dominierte Gruppen, die zum Teil von alten Kadern des Saddam-Regimes geführt werden, so etwa die Brigaden der 1920er-Revolution, eine Gruppe, die vor Jahren eine einigermaßen prominente Rolle im Kampf gegen die US-Besatzung spielte und von Hass auf die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad getrieben ist. Diese Bündnisse sind rein taktischer Natur, inhaltlich und ideologisch passt zu Isis keine dieser Gruppen. Aber Isis verfügt nicht über genügend Kämpfer, um die überrannten Gebiete zu sichern und gleichzeitig weiter vorzustoßen. Das dürfte der Grund für die Allianzen sein.

Aus Mossul dringen – vor allem über Twitter – Gerüchte, denen zu Folge die harsche, islamistisch geprägte „Stadtverordnung“, die Isis vergangene Woche erlassen hat, wieder aufgehoben wurde, angeblich auf Druck der nicht-dschihadistischen Bündnispartner. Das wäre interessant, weil ein echter Kompromiss von Isis, der anzeigen würde, wie angewiesen sie darauf sind, Allianzen zu bilden. Leider kann ich aber nicht bestätigen, dass die Gerüchte stimmen. Isis selbst hat sich nicht dazu geäußert. Das wiederum könnte damit zusammenhängen, dass nach wie vor etliche offizielle Isis-Twitter-Accounts suspendiert sind und kein Ersatz etabliert wurde.

Indische Geiseln bei Isis

Unterdessen hat Isis mehrere Dutzend Gastarbeiter als Geiseln genommen, darunter 40 Inder und mehrere Pakistaner. Schon letzte Woche setzte Isis etliche türkische Arbeiter fest. Bis jetzt hat sich die Gruppe noch nicht dazu geäußert, ob und in welcher Weise sie die Freilassung an Forderungen knüpfen wird.

USA weiten Luftaufklärung aus

Die USA lassen laut CNN bereits seit Tagen Aufklärungsdrohnen über den Irak fliegen, um sich ein Bild von Isis-Stellungen zu machen. Nun wird das Land auch von bemannten Aufklärungsflugzeugen überwacht. US-Präsident Obama hat sich dem Bericht zufolge noch nicht festgelegt, ob und falls ja wie sein Land im Irak militärisch eingreifen könnte. Eine Invasion steht außer Frage, aber Luftschläge, ob von Kampfjets ausgeführt oder mit Hilfe von Flugzeugträgern im Golf, sind denkbar. Die Regierung des Irak hat mittlerweile offiziell um solche Luftschläge gegen Isis gebeten.

Und sonst?

Isis in der syrischen Stadt Raqqa beschwert sich, dass die türkische Regierung ihnen angeblich das Wasser abdreht, in dem sie einen Staudamm entsprechend manipuliert habe.

In sozialen Netzwerken rufen Isis-Sympathisanten dazu auf, sich als Anhänger des Netzwerks zu outen und entsprechende Stellungnahmen über YouTube zu veröffentlichen, das Motto lautet „eine Milliarde Muslime für Isis“. Erste Videos sind schon eingegangen, von Ägyptern, Jordaniern, Indonesiern. Es ist natürlich eine klare PR-Aktion.

In ungenannten Orten in der irakischen Provinz Niniweh haben nach Isis-Angaben mehrere Pro-Isis-Demonstrationen stattgefunden. Entsprechende Bilder veröffentlichte Isis in der Nacht zum Donnerstag. Tatsächlich zeigen sie größere Mengen von Zivilisten, die Isis zu preisen scheinen. Leider gibt es keine konkreten Ortsangaben, noch lässt sich verifizieren, dass die Aufnahmen tatsächlich aktuell sind. Ich finde das interessant, denn mein Eindruck ist, dass Isis immer verschwommener wird, wenn es um Orte und Zeiten geht – offensichtlich eine Maßnahme, die sicherstellen soll, dass die Gegner nicht allzu genau wissen, wo sich die Kämpfer gerade aufhalten.

 

Die aktuelle Lage im Irak (3)

mosulparadeVorbemerkung: Dieser Post bildet den Stand von Montag, den 16. Juni, 11 Uhr ab. Von Yassin Musharbash

Hinweise auf Massenexekutionen durch Isis

Die Hinweise, dass der Islamische Staat im Irak und Großsyrien (Isis) massenhaft irakische Soldaten exekutiert hat, verdichten sich massiv. Es geht möglicherweise um bis zu 1.700 Menschen. Seit dem Wochenende werden über teils offizielle, teils sympathisierende Twitter-Accounts Bilder verbreitet, die am Boden liegende Männer zeigen, auf welche Isis-Kämpfer schießen. Es ist naheliegend, dass es sich bei den Opfern um geflüchtete Regierungssoldaten handelt. Isis-Berichten zufolge handelt es sich um schiitische Soldaten.

Die Bilder sind signiert von der „Provinz Salaheddin“ des „Islamischen Staates“. Ihre Authentizität lässt sich nicht unabhängig beweisen, ich halte sie aber für echt. Darauf deuten Stil, Aufmachung und Bildtexte sowie die Verbreitungswege hin. Außerdem die Tatsache, dass Isis-Sympathisanten sie ausnahmslos für echt zu halten scheinen. Über Zahlen kann man trotzdem keine seriöse Aussage treffen. Die Zahl 1.700 geht zurück auf Isis-nahe Tweets vom Freitag, die aber noch nicht von Bildern begleitet gewesen waren. Aus anderen Ortschaften meldet Isis, dass viele Soldaten sich entweder ergeben hätten und nun „Reue üben“, oder geflohen seien. Auch das ist wahrscheinlich, aber im Detail im Moment nicht überprüfbar.

Wie geht der Isis-Vormarsch weiter?  

Isis-nahe und offizielle Twitter-Accounts der Organisation behaupten, zuletzt die Ortschaft Tal Afar nahe Mossul eingenommen zu haben. Andere Berichte behaupten, die Dschihadisten seien in einem Ort 15 Kilometer vor Bagdad aufgetaucht. Unabhängige Bestätigungen fehlen. Ende vergangener Woche hatte der offizielle Isis-Sprecher Adnani die Kämpfer auf die Ziele Bagdad und Kerbala eingeschworen. Aber ich halte es für möglich, dass das mehr Propaganda oder Agitation als taktische Planung ist. Die Isis-Kämpfer sind, militärisch gesprochen, vermutlich bereits „überdehnt“; in Bagdad und Kerbala würden sie ohne Zweifel auf massiven Widerstand stoßen, der ihnen zahlenmäßig überlegen sein dürfte. Der Versuch, eine dieser Städte ernsthaft einzunehmen, würde die bisherigen Erfolge aufs Spiel setzen.

Andererseits gibt es glaubwürdige Berichte in der arabischen, aber auch internationalen Presse, denen zufolge sich kleinere Gruppen des irakischen Widerstands mit Isis zusammengetan haben. Darunter sollen auch ehemalige Angehörige des Baath-Regimes von Saddam Hussein sein, also nicht gerade dschihadistische Kräfte – wohl aber Kräfte, die gegen die schiitisch dominierte Regierung des Irak sind und über militärisches Know-how verfügen. Ich kann diese Berichte nicht bestätigen und auch nicht einschätzen, wie wirksam solche Allianzen wären.

Wie viel Vermögen hat Isis?  

Am gestrigen Sonntag berichtete der Guardian, dass den irakischen Sicherheitsbehörden zwei Wochen vor der Einnahme von Mossul ein wichtiger Isis-Kurier ins Netz gegangen sei. Zwei Tage vor dem Fall der Stadt sei er zum Reden gebracht worden. Daraufhin hätten die Sicherheitskräfte 160 Memorysticks in ihren Besitz bringen können, aus denen unter anderem die Namen von Isis-Kämpfern sowie die finanziellen Verhältnisse der Terrorgruppe hervorgingen. Demnach verfügte die Organisation vor der Einnahme Mossuls über 875 Millionen US-Dollar; danach seien weitere 1,5 Milliarden (sic!) US-Dollar durch Bankraube hinzugekommen.

Dieser Betrag ist atemberaubend hoch. So hoch, dass Isis damit auf Jahre hinaus nicht nur im Irak und in Syrien alles und jeden kaufen könnte, was ihre Lage stabilisiert, sondern noch genug übrig bliebe, um an jedem Ort der Welt einen spektakulären Anschlag zu planen. Ich bin aber skeptisch. Die Quellen für die Zahlen sind irakische Sicherheitsbehörden, die erstens in der Vergangenheit keine besonders vertrauenswürdigen Informanten waren und zweitens im Moment ein akutes Interesse daran haben, Isis möglichst groß und mächtig darzustellen, um internationale Unterstützung für die Bekämpfung zu organisieren. Angeblich wurden die Informationen mit den US-Geheimdiensten geteilt. Abwarten, ob aus der Richtung irgendwelche Einschätzungen kommen werden, mit denen man mehr anfangen kann.

Und sonst?  

Twitter hat übers Wochenende eine ganze Reihe offizieller Isis-Accounts suspendiert. Noch hat die Organisation keine alternativen Adressen zur Verfügung gestellt.

Die Jordan Times berichtet, am Wochenende habe Isis in Jordanien eine Filiale eröffnet. Das ist kaum zu überprüfen, aber naheliegend. Die Organisationen, aus denen Isis hervorgegangen ist, haben mehrfach in Jordanien zugeschlagen und betrachten das Regime in dem kleinen Nachbarland des Irak als feindlich.

In Spanien gab es heute Festnahmen von angeblichen Mitgliedern einer Isis-Zelle. Laut BBC handelt es sich um acht Männer, einer von ihnen angeblich ein ehemaliger Guantanamo-Insasse. Sie sollen vorgehabt haben, Rekruten für Isis zu finden. Bereits am Wochenende wurde in Deutschland ein mutmaßlicher Dschihadist aus Frankreich festgenommen, der in Syrien gewesen sein soll. Details kenne ich noch nicht, trage sie aber gegebenenfalls nach.

 

 

Wollen Sie den Lauf der Welt beeinflussen? Bewerben Sie sich hier!

Ab und zu schaue ich auf die Webseiten der einschlägigen Geheimdienste dieser Welt, um zu schauen, in welchem Bereich diese gerade neues Personal suchen; das ist mitunter ganz aufschlussreich. Der britische Mi5 etwa, ein Inlandsgeheimdienst irgendwo zwischen dem deutschen Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und dem US-Ministerium für Heimatschutz, sucht derzeit Russisch-Experten, die Telefonate abhören und Dokumente übersetzen sollen („abgefangen mit Genehmigung“, steht extra dabei). Der Job ist frisch ausgeschrieben; ziemlich naheliegend daher, dass er mit der Ukraine-Krise in Verbindung steht.

Interessant ist auch, wie enthusiastisch britische und US-amerikanische Geheimdienste ihre Jobs anpreisen – vor allem im Gegensatz zu den extrem nüchternen deutschen Diensten.

Die CIA etwa, der US-Auslandsgeheimdienst, verspricht Bewerbern für den clandestine service, also den verdeckten (Außen-) Einsatz: „This is more than just a job – it’s a way of life…“. Dem Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen auf der Spur, müsse man als Kandidat Eigenschaften mitbringen wie „physische und psychische Gesundheit, Energie, Intuition, street sense, und die Fähigkeit, mit Stress klarzukommen“. Außerdem sollte man mit „sich schnell entwickelnden, uneindeutigen und unstrukturierten Situationen“ fertig werden können.

Die US-Lauschbehörde NSA wirbt ebenfalls recht glamourös: „Fordere das Unbekannte heraus! Löse das Unmögliche! Und bei der NSA geht es auch noch darum, die Nation zu beschützen. Eine Karriere bei der NSA bietet dir die Gelegenheit, mit dem Besten zusammenzuarbeiten, den Lauf der Welt zu beeinflussen, und deine eigene Zukunft zu sichern. Ist es nicht an der Zeit, deine Intelligenz arbeiten zu lassen?“

Der britische Mi5 kleidet die Ausschreibung des Russisch-Jobs in regelrechte Spionage-Prosa: „Je tiefer Sie in eine Sprache eintauchen, desto mehr entdecken Sie. Eine Konversation beginnt mit Sport, dreht sich um die Ökonomie, landet bei der Politik. Und Sie sind nicht nur dabei, um zu übersetzen; und auch nicht, um zu interpretieren; Sie sind dabei, um eine Verständnistiefe beizusteuern, die uns in die Lage versetzt, die richtigen Entscheidungen zu treffen, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten… In dieser Rolle werden Sie gefordert werden wie in keiner anderen; sie werden nicht nur ihr Russisch verfeinern, sondern noch andere Fähigkeiten erlernen, innerhalb eines unterstützenden Umfeldes, das zugleich freundlich und locker ist.“

Der deutsche Auslandsnachrichtendienst BND sucht derweil „Freiberufliche Mitarbeiter/innen mit hervorragenden Sprachfertigkeiten für die Sprachen des Maghreb, der Levante, der Sahelzone und Somali sowie für die Sprachen und Dialekte aus dem kaukasischen Raum auf Honorarbasis.“ Die Jobbeschreibung:
Aufgabenschwerpunkte – Übersetzen und Verschriften von fremdsprachlichen Sachverhalten in die deutsche Sprache.“ Dazu noch eine Ermahnung: „Bitte behandeln Sie die Bewerbung diskret.“ Das war’s auch schon.

Das BfV sucht aktuell „IT-affine Sachbearbeiter/innen“; die Ausschreibung klingt so: „Als Sachbearbeiter/in im Bereich „Zentrale Fachunterstützung“ erbringen Sie vielfältige Dienstleistungen für alle Fachaufgaben und -bereiche. Das Aufgabenspektrum erstreckt sich auf die Bearbeitung und Auswertung gesammelter Informationen, die Dokumentation von Arbeitsergebnissen sowie die Fertigung von Stellungnahmen und Berichten. Das Arbeitsumfeld ist geprägt durch abwechslungsreiche Tätigkeiten in leistungsstarken und motivierten Teams. Ständig neue Herausforderungen werden durch eine offene Kommunikationskultur, in Eigenverantwortung und Teamarbeit bewältigt.“

Da sieht man die Resopal-Schreibtische gewissermaßen vor sich. War das jetzt gemein? Ich meine nicht. Lieber solche Nachrichtendienste als CIA und NSA. (Und noch lieber welche, die von engagierteren Parlamentariern noch besser kontrolliert werden.)

 

Berliner Ex-Rapper in Syrien leistet Terrorgruppe den Treue-Eid

Er ist nicht der erste deutsche Dschihadist, der sich in Syrien der Terrorgruppe Islamischer Staat in Irak und Großsyrien (ISIS) angeschlossen hat – aber der bekannteste, und deshalb wichtigste: Dennis Cuspert, früher einmal als Rapper Deso Dogg (ein bisschen) berühmt, seit seiner dschihadistischen Selbstfindung als Abu Talha al-Almani fungierend.

Am Freitagabend veröffentlichte er ein sechs Minuten langes Video im Internet, in dem er dem ISIS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi, einem Iraker, die Baia’a, den offiziellen Treueid schwört. „Ich gebe meine Bai’a an den Amir Al-Muminin (Anführer der Gläubigen, YM), um ein Zeichen zu setzen, dass wir auf dem geraden Weg sind. Ich denke, es ist für mich eine Bereicherung.“

Cuspert hält sich seit Monaten in Syrien auf, im vergangenen Jahr wurde er dort schwer verwundet, ist seitdem aber offenbar wieder genesen. Von Beginn an publizierte er Bilder, Statements und kurze Videos aus dem Bürgerkriegsland, die an seiner dschihadistischen Gesinnung keinen Zweifel ließen; trotzdem war lange unklar, welcher Organisation er sich angehörig fühlt. Diese Frage ist jetzt geklärt – Abu Talha hat sich, wie zu erwarten, für die denkbar brutalste Variante entschieden, für die Schächtet, Terroristen und Kriegsverbrecher des aus der Al-Kaida-Filiale im Irak hervorgegangenen ISIS.

Das ist aus mehreren Gründen relevant. Zum einen, weil ISIS ideologisch und in der Praxis die extremste Gruppe in Syrien ist. Wo sie Einfluss haben, richten ihre Kämpfer Menschen für lächerlichste Vergehen hin, hacken angeblichen Dieben die Hände ab und zwingen Frauen unter die Vollverschleierung. Auch ihre Ziele liegen weit jenseits einer besseren oder auch nur alternativen Zukunft für die Bürger Syriens. Abu Talha selbst macht das in dem Video klar, wenn er sagt, dass er und seine Genossen den Kampf „so Gott es will“ nach Al-Kuds, also nach Jerusalem tragen werden. ISIS ist internationalistisch ausgerichtet, Syrien ist für die Kämpfer nur eine Etappe.

Zugleich ist ISIS freilich aus dem Al-Kaida-Universum ausgeschert, es gab Anfang dieses Jahres ein nicht wieder zu kittendes Zerwürfnis zwischen der ISIS-Führung, die sich selbst zu Beginn noch als Teil des Al-Kaida-Netzwerks verstand, und Aiman Al-Sawahiri, dem Al-Kaida-Chef. Seitdem kracht es immer wieder zwischen ISIS-Kämpfern und Verbänden anderer islamistischer und/oder dschihadistischer Gruppen in Syrien – zum Beispiel der Dschabhat al-Nusra, einer zweiten Gruppe, die aus dem Al-Kaida-Nexus hervorging und deutlich stärker auf Syrien konzentriert ist als ISIS und (etwas) moderater auftritt.

Abu Talha behauptet derweil, für ihn sei mit dem Treue-Eid ein „Traum wahr geworden“, er werde kämpfen, bis dereinst eine Rakete oder Kugel ihn töten werde.

Es ist davon auszugehen, dass er nicht der einzige aus Deutschland eingereiste Dschihadist ist, der beim ISIS gelandet ist. Der Verfassungsschutz geht mittlerweile von über 320 Syrien-Reisenden aus Deutschland aus; wie viele von ihnen tatsächlich an Kampfhandlungen teilnehmen, ist ungewiss, aber einige dürften es schon sein. Zuletzt verdichteten sich die Hinweise, dass die Kämpfer aus Deutschland in mehreren Gruppen organisiert sind; auch Abu Talha wird also wohl kaum ganz alleine sein.

In dem Video behauptet er, er befinde sich in Raqqa, einem Ort zwischen Aleppo und Deir ez-Zor, der als ein wichtiges ISIS-Zentrum gilt. Überprüfen lässt sich das nicht ohne Weiteres – genau so wie in dem Video auch unklar bleibt, ob ein ISIS-Repräsentant den Treue-Eid offiziell akzeptiert. Normalerweise geht das entsprechende Ritual mit einer Berührung der Hände zwischen Eid-Geber und -Empfänger einher. Abu Talha legt seine Hand in die Hand eines zweiten Mannes, dieser wird aber nicht gezeigt. Authentisch ist das Video wohl trotzdem – zumindest in dem Sinne, dass es wirklich Dennis Cuspert zeigt und seine Ansichten widerspiegelt.

Ob der Treue-Eid Auswirkungen haben wird, die über die Bürgerkriegssituation in Syrien hinausweisen, wird sich zeigen; Sicherheitsbehörden sind besorgt, dass heimkehrende Kämpfer aus Deutschland hierzulande Anschläge verüben könnten. Bislang hat ISIS nicht zu Anschlägen in Europa aufgerufen. Das könnte sich natürlich ändern; und Cusperts Eid würde ihn dann zu unbedingtem Gehorsam verpflichten.

PS: Ich beschreibe hier einen Sechs-Minuten-Auszug aus einem anscheinend insgesamt längeren Video.

 

„Erscheine fett!“

Al-Kaidas Filiale auf der Arabischen Halbinsel, im Jargon der Nachrichtendienste und Terroeforscher „AQAP“ genannt, hat in der vergangenen Nacht die mittlerweile 12. Ausgabe ihres englischsprachigen Online-Magazins „Inspire“ veröffentlicht. Das sorgt immer für ein bisschen Aufregung, denn „Inspire“ wird in der internationalen Szene der Kaida-Sympathisanten aufmerksam rezepiert. In einer ganzen Reihe von Terrorverfahren in den USA, Großbritannien und auch Deutschland ist in den letzten Jahren herausgekommen, dass die jeweiligen Verdächtigen „Inspire“ gelesen hatten; in einigen Fällen wurden auch Bomben nach Rezepten aus dem Magazin hergestellt.

„Inspire“ inspiriert also tatsächlich. Das rechtfertigt einen Blick in die aktuelle Ausgabe.

Der größte Teil der 37 Seiten besteht aus dem üblichen, eher langweiligen Material: Umständliche Ideologie-Traktate von lebenden und verstorbenen Kaida-Größen; darin steht wenig, was nicht anderswo und in ähnlichen Worten schon zu lesen stand.

Eindeutig relevanter sind hingegen die hinteren Seiten. Ein Autor, der sich „AQ Chef“ nennt und schon aus früheren Ausgaben bekannt ist, erklärt ausführlich, wie man eine Autobombe herstellen kann. „Es ist absolut simpel“, schreibt er, „dieses Rezept gibt dir die Möglichkeit, eine Autobombe selbst in einem Land mit dichtmaschiger Überwachung zu machen. Der Grund dafür ist: Die primären Zutaten sind einfach zu bekommen und sind unverdächtig.“ Auf der mitgelieferten Zutatenliste stehen Dinge wie Draht, ein Barometer, Kochgas. Ich bin kein Bombenbauer und verstehe auch wenig vom Bombenbau, deshalb kann ich nicht beurteilen, wie präzise die Anleitung ist und ob dabei eine funktionsfähige Bombe herauskommt. Aber die „Inspire“-Anleitungen der Vergangenheit waren gut genug, um die Sprengsätze explodieren zu lassen.

Auf die Anleitung selbst folgen dann zwei Seiten mit Vorschlägen für deren Einsatz – „Inspire“ hat seit jeher den Ansatz, möglichst praxisbezogen zu sein, da verwundert das nicht weiter. Schon früher hat das Blatt zum Beispiel Vorschläge für gezielte Ermordungen geliefert.

Etwas absurd ist die dann folgende Liste allerdings schon. Als sinnvolles Zeil, weil man quasi automatisch wichtiges US-Personal treffen würde, werden Restaurants in Arlington und Alexandria (wo es in der näheren Umgebung Geheimdienst-Einrichtungen gibt) sowie Bars in der M Street in Washington, DC genannt. Außerdem: „Tennis-Stadien“, zum Beispiel während der US Open.

Für die USA schlägt „Inspire“ vor, Pferderennen (in Anwesenheit der Queen!) anzugreifen. Und das Savoy-Hotel „gegen zehn Uhr abends“, wenn Geschäftskeute und hochrangige Ziele sich dort versammelten: „Ein perfekter Ort für deine Autobombe“.

Auch Frankreich steht im Fokus: Der Louvre, die Urlauber in der Dordogne (Briten und Franzosen gleichzeitig!) sowie die Militärparade am 14. Juli werden genannt. Deutschland taucht nicht auf.

Wie ist das alles zu werten?

Sagen wir so: Das Benennen von Terroranschlagszielen dient natürlich zuvorderst der Verunsicherung. Al-Kaida denkt hier außerdem um die Ecke: Verunsicherung bedeutet zum Beispiel unter Umständen versträkte Schutzmaßnahmen, was wiederum Kosten verursacht, was wiederum die westlichen Volkswirtschaften in Mitleidenschaft zieht. Diese Argumentation kennen wir auch aus anderen Kaida-Anleitungen: Alles, was dem Feind Kosten verursacht, ist schon mal gut.

Andererseits weiß Al-Kaida und wissen die „Inspire“-Macher, dass Drohungen, aus denen nie etwas wird, irgendwann ihren Schrecken verlieren. Deswegen lautet ihr Kalkül, dass sich schon der eine oder andere finden wird, der etwas davon umzusetzen versucht. „Inspire“ ist in dieser Hinsicht auch sehr deutlich und ruft die Leser auf, selbst tätig zu werden, auch ohne vorher Verbindung aufzunehmen: Du musst kein Mitglied sein!

Tatsächlich hat es in den vergangenen Jahren mehrere erfolgte und versuchte Anschläge gegeben, bei denen es genau so ablief, auch wenn nicht immer klar ist, dass die Attentäter dabei „Inspire“ im Hinterkopf hatten: Zwei Männer töteten in London auf offener Straße einen britischen Soldaten. Zwei Brüder zündeten Sprengsätze beim Boston-Marathon. Vier deutsche Islamisten werden verdächtigt, Pro-NRW-Politiker getötet haben zu wollen.

Die Liste der gewünschten Ziele bedeutet also nicht, dass entsprechende Anschläge bereits in der Planung sind. AQAP lässt seine Sympathisanten lediglich wissen, welche Art von Anschlägen das Terrornetzwerk für wünschenswert erachtet – und liefert neben Motivation die technische und operative Anleitung (Verkleide dich! Erscheine fett!) gleich mit. „Terror by remote control“ nennen das einige Forscher, „Terror durch Fernsteuerung“. Wobei „Steuerung“ nicht das ganz treffende Wort ist, es geht ja eben nicht darum, eine Zelle zu steuern, sondern sie zu „inspirieren“. Der Rest ist dann ihr selbst überlassen.

Diese Vorgehensweise Al-Kaidas ist natürlich eher ein Zeichen der eigenen (operativen) Schwäche als der Stärke. Aber aus Sicht der Terroristen funktioniert das neue Rezept ganz gut. Auch die Al-Kaida-Zentrale in Pakistan hat bereits in Videos zum „individuellen Dschihad“ auf der Grundlage der Selbstrekrutierung aufgerufen.

„Inspire“ wird auch dieses Mal zahlreiche Leser finden, auch diese Ausgabe wird in Zukunft bei Terrorverdächtigen auf dem Rechner gefunden werden, das ist schon jetzt so gut wie sicher.

 

Das Wörterboarding des Innenministeriums

Dies ist eine kleine Geschichte über: eine Panne, eine ehrenwerte parlamentarische Praxis, die deutsche Sprache und Politik. Und zwar in genau dieser Reihenfolge.

Die Panne, um die es geht, ereignete sich im November 2013 auf dem Flughafen Köln/Bonn, von wo aus eine Frau in die Türkei reisen wollte, die 50 (leere) Magazine für das Sturmgewehr AK47 bei sich führte. Dieses besondere Gepäck fiel bei der Kontrolle auf. Aber die Frau wurde weder festgehalten, noch wurden die Magazine sichergestellt. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) berichtete zuerst über den Fall.

Der hätte natürlich nicht passieren dürfen, denn diese Art Gepäck fällt unter die einschlägigen Exportverbote, wenn man keine spezielle Genehmigung hat. Hinzu kam, dass die betreffende Frau die Mutter zweier polizeibekannter radikaler Islamisten ist, die sich wiederum in Syrien aufhalten. Es lag also nicht gerade fern, dass die Magazine etwas mit dem bewaffneten Kampf in Syrien zu tun haben könnten. Und wegen des Syrien-Embargos hätte die Ladung dorthin erst recht nicht geschafft werden dürfen. Trotzdem gelang es laut FAS derselben Dame, im Dezember auf demselben Wege noch einmal 187 Magazine außer Landes zu bringen.

Aber Pannen kommen vor. In diesem Fall handelte es sich dem Vernehmen nach um menschliches Versagen: eine Fehleinschätzung der Rechtslage. Mittlerweile läuft gegen die Dame ein Ermittlungsverfahren beim Generalbundesanwalt.

Dem Bundestagsabgeordneten Hans Christian Ströbele (Grüne), und jetzt kommen wir zu einer ehrenwerten parlamentarischen Praxis, ließ diese Meldung keine Ruhe. Er stellte daher eine mündliche Frage an die Bundesregierung. Er wollte wissen, wie die Bundesregierung es bewerte, dass die Dame weiterreisen durfte. Er wollte ferner wissen, ob diese „Duldung bzw. Unterstützung der Reisetätigkeit und des Waffentransports von möglichen V-Personen und deren Angehörigen“ gegen eine gemeinsame Linie aller Bundesländer verstoße, der zufolge mutmaßliche Dschihadisten auf dem Weg zu Kampfeinsätzen im Ausland eigentlich aufgehalten werden sollen.

„Von möglichen V-Personen und deren Angehörigen“: Ströbeles Frage zielte nicht nur auf eine mögliche Panne am Flughafen, vielmehr sollte sie die Bundesregierung dazu bewegen, sich darüber zu äußern, ob für „V-Personen“ von deutschen Geheimdiensten oder „deren Angehörige“ Sonderregeln gelten – ob also beispielsweise deren Ausreisen nicht unterbunden werden.

Interessante Konstruktion. Denn antwortet die Bundesregierung: „Ja, dann gelten jeweils eigene Regeln“, hätte Ströbele sie dazu gebracht, etwas offenzulegen, was sie sicher nicht offenlegen will. Und jeder würde außerdem sofort vermuten, dass die Dame und/oder ihre Söhne solche V-Personen sind.

So weit, so klar. Jetzt kommen wir zur deutschen Sprache. Beziehungsweise zur Antwort der Bundesregierung. Schön wäre es, die Bundesregierung würde sich bei der Beantwortung solcher Fragen an der gesprochenen Sprache orientieren. Tut sie aber leider nicht. Tatsächlich ist die Antwort eher ein Fall von Wörterboarding. Sie müssen jetzt stark sein.

Die Bundesregierung, hier vertreten durch den Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Günter Krings, führt in der Antwort an Ströbele zunächst aus, dass sie leider keine weiterreichenden Informationen geben könne, da „der geschilderte Vorgang“ Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens sei. In mehr Worten: „Eine Auskunft hierzu könnte weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln, weshalb aus dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit folgt, dass das betroffene Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und Strafverfolgung hier Vorrang vor dem Informationsinteresse hat.“

Die Bundesregierung sagt also erst einmal gar nichts zum von Ströbele aufgemachten V-Mann-Fass; das war freilich zu erwarten. Wenig ist heikler als das Geschäft der Dienste mit Informanten, da wird in aller Regel weder bestätigt, noch dementiert. (Ich vermute allerdings, nach einigen Telefonaten „in Sicherheitskreisen“, die ich heute geführt habe, dass in diesem Fall niemand eine V-Person war.)

Danach allerdings kommt die Regierung auf die Panne zu sprechen. Oder besser gesagt: Staatssekretär Krings versucht, eine Panne als Panne zu beschreiben, ohne das Wort Panne zu benutzen. Ich gehe das mal Satz für Satz durch – und versuche, zu übersetzen:

„Unabhängig hiervon wurde der Sachverhalt unter rechtlichen wie tatsächlichen Gesichtspunkten nachbereitet.“

Wir haben noch mal über den Fall gesprochen.

„Bei Würdigung der heute vorliegenden und zusammengeführten Erkenntnisse ist festzuhalten, dass sowohl die Sicherstellung der mitgeführten Gegenstände, als auch die Untersagung der Ausreise rechtlich möglich ist.“

Uns ist dann klar geworden, dass man in so einem Fall das dubiose Gepäck sicherstellen darf. Auch die Weiterreise darf man in so einem Fall verhindern.

„Dieses Ergebnis resultiert aus dem heutigen Erkenntnisumfang, der zum damaligen Zeitpunkt nicht vollumfänglich vorlag.“

Hinterher ist man eben immer schlauer.

„Es bleibt festzuhalten, dass die Ausfuhr entsprechender Teile ohne Genehmigung verboten ist. Was die Ausfuhr entsprechender Gegenstände nach Syrien angeht, gilt ein generelles Ausfuhrverbot. Umfang und Art der Maßnahmen richten sich nach den konkreten Gesamtumständen des Einzelfalls.“

Aber natürlich wissen wir schon, dass man so etwas nicht ohne Genehmigung ausführen darf, schon gar nicht nach Syrien, da gilt ja zusätzlich noch das Embargo. Was man dann genau unternimmt, kommt aber immer auf den Einzelfall an.

„Bei vollumfänglichem Vorliegen aller Erkenntnisse wären neben der Ausreiseverhinderung die Sicherstellung der relevanten Gegenstände sowie die Einleitung eines Strafverfahrens in Betracht zu ziehen gewesen.“

Eigentlich hätten die Kontrolleure am Flughafen das wissen müssen. Sie hätten die Magazine sicherstellen und eine Ausreiseverhinderung sowie die Einleitung eines Strafverfahrens prüfen müssen.

113 Wörter um zu sagen: Hätte nicht passieren dürfen, war eine Panne, die Kollegen am Flughafen haben die gesetzlichen Bestimmungen falsch ausgelegt. Mir wäre ein Innenministerium lieber, das Fehler, die in seinem Zuständigkeitsbereich passiert sind, in klaren Worten eingesteht.

Jetzt noch ein Wort zur Politik. Eine der Hilfskünste der Politik ist nämlich die Rhetorik. Und im Gegensatz zum BMI beherrscht Ströbele diese Kunst:

„Aus der Antwort der Bundesregierung schließe ich, dass die Bundespolizei tatsächlich Dutzende von Kalaschnikow-Magazinen von den Grenzbehörden nur fest- statt sicherstellte. Das ist weder mit der Rechtslage zu vereinbaren noch aus womöglich geheimdienstlichen Gründen zu rechtfertigen. Offenbar billigt die Bundesregierung, dass geheimdienstliche Interessen Vorrang haben vor einer Gefahrenabwehr für die öffentliche Sicherheit in Deutschland und international. Wenn die Bundesregierung beklagt, wie viel deutsche Islamisten zum Kämpfen in Kriegsgebiete ausreisen, muss sie sie aufhalten statt „gute Reise“ zu wünschen.“

Was lässt sich daraus lernen? Wer keine klaren Antworten gibt, muss damit rechnen, dass der Fragesteller das zu seinem Vorteil nutzt.

 

Und welcher Dschihad ist jetzt der richtige?

Der Bruderkrieg, der zwischen den in Syrien aktiven Dschihadisten-Gruppen tobt, verunsichert zusehends auch die aus dem Westen in das Land gereisten Kämpfer. Sollen sie sich der vom Irak aus geführten Gruppe „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ (Isis) anschließen, die mittlerweile ihre Bande zur Al-Kaida-Zentrale mehr oder weniger gekappt hat? Oder sind die Kämpfer von Dschabhat al-Nusra (JN), der „Unterstützerfront“, einer syrisch dominierten Dschihadisten-Gruppe auf der richtigen Seite?

Die Verwirrung kommt nicht zuletzt daher, dass sowohl Isis als auch JN aus dem Al-Kaida-Universum stammen – seit Monaten aber bereits vor allem gegeneinander kämpfen. Schlichtungsversuche der Al-Kaida-Zentrale verfingen nicht, Befehle von dort wurden von Isis ignoriert. Der Streit entzündete sich zunächst an der Frage, wer die wahre Al-Kaida-Vertretung in Syrien sei, später dann an ideologischen Fragen – so wirft JN dem Isis vor, keine eigentlich syrische Agenda zu haben, sondern das Land bloß als eine Art Startbahn für eine internationale Tagesordnung zu nutzen.

Für akademische Experten und Geheimdienstanalysten ist es schwer genug, da den Überblick zu behalten. Den Kämpfern vor Ort geht es teilweise aber nicht anders. Kürzlich schrieb ein wohl aus England stammender Gotteskrieger im Dienste des Isis: „JN in Rakka hat uns beschossen, JN in Badia schenkte uns ein Auto mit Maschinengewehr. Verwirrend? Aber hallo!“

„Viele Geschwister sind verunsichert“

Nun zeigt sich die Spaltung des dschihadistischen Lagers auch in Meldungen deutscher Freiwilliger in Syrien. „Viele Geschwister sind verunsichert und wissen nicht, wem sie glauben sollen, da selbst viele Gelehrte gegen Dawla (Isis, YM) reden. Ich gebe euch eine Nasiha (einen Rat, YM), die ein Schari‘ (Rechtsgelehrter, YM) von Dawla sagte als Nasiha an Brüder, die noch keine Bai’a (Treue-Eid, YM) gegeben haben und nicht wussten, mit wem sie kämpfen sollen: ‚Schaut welche Brüder von den Kuffar (Ungläubigen, YM) … am meisten bekämpft wird. Der folgt ihr.'“ Danach hätten alle dem Isis die Treue geschworen.

Interessant, diese Betonung auf die Bai’a. Aber tatsächlich gilt der Treue-Eid, einmal geleistet, in der dschihadistischen Ideologie als nahezu unlösbar; er verpflichtet außerdem zum Gehorsam. Den „Brüdern“, welche die Bai’a schon geleistet hatten, stand also keine Wahl mehr offen …

Am Donnerstag dann verbreitete eine Propaganda-Seite des Isis ein interessantes Video eines deutschen Kämpfers. Der junge Mann nennt sich Abu Mudschahid al-Muhadschir, seinen Dialekt würde ich für rheinisch gefärbt halten. Er erklärt in dem Acht-Minuten-Film, dass er ausgewandert sei, weil er fand, dass man als Muslim in Deutschland nicht leben könne – ein bekannter Topos. In Syrien habe er sich dann JN angeschlossen, weil er einen weiteren Deutschen getroffen habe, der dort Mitglied war. „Ich habe gedacht, Al-Kaida, das ist schon der richtige Manhadsch (Methodologie, YM).“

Viel „Unfug“ und „Unislamisches“

Aber nach einigen Monaten habe er gemerkt, bei JN werde „viel Unfug geredet“ und „Unislamisches“ praktiziert. Vor allem über den Isis sei viel „gelogen“ worden. Als er aufgefordert wurde, gegen Isis-Kämpfer zu kämpfen, habe er sich geweigert. Danach habe man ihn nicht mehr informiert, ihn isoliert. Er habe sich nicht mehr wohl gefühlt. Seine folgenden Recherchen über Isis hätten ihn dann dazu bewegt, dort anzuheuern. Er sei nun „ein stolzes Mitglied“ dort und habe Abu Bakr al-Baghdadi, dem Isis-Chef, seine Treue geschworen.

Insgesamt halten sich vermutlich mehr als 300 aus Deutschland stammende Islamisten in Syrien auf. Wie viele wirklich kämpfen, ist nicht bekannt, aber ihre Anzahl steigt augenscheinlich. Wer sich durch dschihadistische Internetseiten pflügt, findet auch immer mehr, die sich offen zum Isis bekennen – der denkbar brutalsten und ideologisch kompromisslosesten Gruppe im syrischen Bürgerkrieg, die nicht nur terroristische Methoden einsetzt, sondern auch Zivilisten zum Tode verurteilt, wenn sie sich vermeintlich unislamisch verhalten, Kinder eingeschlossen.

Wie stark Isis im Verhältnis zu den anderen Gruppen ist, die sich mit JN zusammengeschlossen haben, lässt sich nur schwer sagen, es ist je nach Region ganz unterschiedlich, aber ändert sich auch ständig. Wochenlang sah es danach aus, als werde der Isis an den Rand gedrängt; zuletzt schienen die Terroristen wieder etwas an Boden zu gewinnen.

Den Syrern kann es egal sein

Für Al-Kaidas Zentrale ist all das natürlich ein Debakel – erst sah es aus, als könne die Organisation aus dem syrischen Blutbad Profit ziehen, jetzt ist sie de facto gespalten. Vom Kampf gegen das syrische Regime wurde zwar immer noch viel geredet bei JN und Isis – aber ein guter Teil der Zeit und Ressourcen werden in den Bruderkampf gesteckt.

Den Syrern hilft all das aber noch viel weniger – nämlich schlicht und ergreifend gar nicht.

 

Georeferentielle Daten

In der vergangenen Woche habe ich hier über den Fall Patrick N. geschrieben – ein deutscher Islamist, der offenbar bereits im Februar 2012 durch eine US-Drohne in der pakistanischen Unruheprovinz Waziristan getötet wurde, wo er sich der „Islamischen Bewegung Usbekistans“ (IBU) angeschlossen hatte. Der grüne Bundestagsabgeordnete Hans Christian Ströbele hat nun eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage erhalten, die er am 16. Januar zu dem Tod des Offenbachers gestellt hatte. Ströbele wollte wissen, ob Patrick N. V-Mann der Sicherheitsbehörden war – ein Gedanke, auf den man kommen konnte, wenn man die „Märtyrer“-Rede der IBU über Patrick N. gehört hatte. Und er fragte, ob die Bundesregierung ausschließen könne, dass deutsche Stellen „zuvor an US-Stellen Handy-Daten bezüglich des Opfers“ übermittelt hatten. Die zweite Frage zielte darauf ab, ob deutsche Behörden möglicherweise geholfen haben, bewusst oder unbewusst, Patrick N. zu orten.

Die Antwort der Bundesregierung ist heute bei Ströbele eingegangen. Patrick N., heißt es darin, „wurde durch die Bundessicherheitsbehörden nicht als Vertrauensperson beziehungsweise V-Mann geführt“. Hier gibt es sechs Buchstaben, auf die es besonders ankommt: BUNDES-Sicherheitsbehörden. Denn so ist technisch gesehen lediglich dementiert, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz oder das Bundeskriminalamt N. als Informanten führen. Es bleiben theoretisch noch die entsprechenden Landesbehörden oder sogar eine untergeordnete Polizeibehörde übrig. Für die, das muss man hinzufügen, kann das Bundesministerium des Innern wiederum nur bedingt sprechen.

Die zweite Auskunft lautet so: „Ein Informationsaustausch mit ausländischen Dienststellen hat im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenwahrnehmung und den hierfür vorgesehenen Übermittlungsbestimmungen stattgefunden. Georeferentielle Daten wurden auch in diesem Sachverhalt nicht übermittelt.“

Ich interpretiere das so, dass die Bundesbehörden durchaus mit US-Beamten, vielleicht auch mit pakistanischen Stellen, über Patrick N. kommuniziert haben. Allerdings „im Rahmen“ der „vorgesehenen Übermittlungsbestimmungen“. Ich bin nicht ganz sicher, was das bedeuten soll, vermute jedoch, dass darunter zum Beispiel „Beipackzettel“ gehören wie jener, den der Bundesnachrichtendienst (BND) anscheinend manchmal an übermittelte Informationen anhängt – und demzufolge die Informationen nicht widerrechtlich verwendet werden dürfen. Damit versucht der BND, sicherzustellen, dass seine Informationen nicht für extralegale Tötungen oder Ähnliches genutzt werden. Unklar bleibt, was es bedeuten soll, dass „georeferentielle Daten“ nicht übermittelt wurden. Klar, Koordinaten wären gewiss „georeferentielle Daten“. Aber was ist mit Handy-Daten? Nach denen hatte Ströbele ja gefragt.

Die Sicherheitsbehörden haben früher schon einmal erklärt, dass Handydaten ihrer Ansicht nach nicht geeignet sind, jemanden ausreichend genau für eine Drohnen-Zielerfassung zu lokalisieren. Das ist für Außenstehende freilich schwer zu überprüfen, vielleicht sogar für den BND selbst. Wer weiß schon, was die NSA alles kann?

Ströbele findet die Antwort, die er heute bekam, jedenfalls unzureichend: „Es bleibt nach dieser Antwort der Verdacht, dass Bundessicherheitsbehörden auch Handy- oder andere persönliche Daten des Getöteten übermittelten, die zur Ermittlung von dessen Aufenthalt entscheidend beitragen konnten. Dadurch müssen deutsche Behörden auch eine Verantwortung für den tödlichen Drohnen-Einsatz übernehmen.“

Wenn Ströbele als Ableitung aus einem Verdacht die Übernahme von Verantwortung fordert, ist das natürlich auch Politik.

Aber geklärt ist der Fall Patrick N. noch nicht. Es bleiben offene Fragen.